Eine neue Ära kapitalistischer Barbarei und der Kampf für Sozialismus

Perspektiven der Sol für Deutschland

Wir veröffentlichen hier die bei der Bundeskonferenz der Sol am 9. Dezember einstimmig beschlossene Resolution zur Lage in Deutschland. Diese wurde für die Veröffentlichung redaktionell bearbeitet.

Welt & Europa

  1. Was das CWI zu Beginn des Jahres formulierte, behält nach wenigen Monaten seine volle Gültigkeit: „Das kapitalistische Gleichgewicht ist in all seinen Aspekten zerbrochen: wirtschaftlich, geopolitisch, sozial und in den Klassenbeziehungen. Erschütterungen und Unruhen sind die Folge davon und spiegeln sich in einer starken Polarisierung auf allen Kontinenten wider. In einigen Ländern kommt es zu einem Aufschwung des Klassenkampfes, aber auch zu nationalen und ethnischen Konflikten, Kriegen (sowohl militärischer Form als auch als Handelskriege). In einigen Ländern kommt es zu starken sozialen Zerfallserscheinungen oder gar zum Zusammenbruch der Gesellschaft. Das ist das Zeitalter, in dem wir jetzt leben.“
  2. Wir leben in einer mit keiner anderen vergleichbaren Epoche des Kapitalismus. Was wir seit geraumer Zeit als multiple Systemkrise beschreiben, hat gravierende Folgen auf die Welt und den Klassenkampf. 2019 begann sich in der Weltwirtschaft eine neue Krise zu entwickeln. Frühere Krisen hatten strukturelle Probleme nicht gelöst, sondern aufgehäuft. Durch die Corona-Pandemie wurde sie massiv befeuert. Seitdem ist die Welt in einem Dauerkrisenzustand. Verschiedene Krisenherde überlagern sich, lösen sich gegenseitig ab, nur um zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu explodieren. Das hat massive Auswirkungen auf das Bewusstsein aller sozialen Klassen. Uns muss bewusst sein, dass das nur die ersten Kapitel einer neuen Ära des langwierigen Todeskampfes des Kapitalismus sind. Das CWI hat wie keine andere politische Kraft, das Ausmaß dieser Entwicklungen frühzeitig festgestellt und erkannt, dass es kein Weg zurück zur vergangenen Periode gibt.
  3. Die aktuelle Periode ist immer noch einerseits geprägt von dieser tiefen Krise und wachsender Instabilität und Polarisierung, andererseits von der Krise der Linken und Arbeiter*innenbewegung, ihrer Führung, des Bewusstseins – sprich des subjektiven Faktors. Das bietet enorme Herausforderungen, aber auch Chancen eine revolutionäre Kraft zum Sturz dieses Systems aufzubauen.
  4. Eine marxistische Kraft, welche die Unterstützung der Massen gewinnt, wird nicht vom Himmel fallen, noch wird sie ohne harte Arbeit und persönliche Opferbereitschaft geschaffen werden. Zu viele revolutionäre Anläufe der Arbeiter*innenklasse sind in der Vergangenheit gescheitert, weil es keine solche Organisation mit einer weitsichtigen revolutionären Führung gab.
  5. Die Weltwirtschaft hat sich weiter abgekühlt. Die Steigerung der Leitzinsen durch die Zentralbanken, welche die Inflation dämpfen soll, verstärkt die rezessiven Tendenzen. Der Internationale Währungsfonds rechnet mit einem Wachstum von 3 Prozent in den Jahren 2023 und 2024. Das liegt deutlich unter dem Durchschnitt von 3,8 Prozent der ersten zwei Jahrzehnte der 2000er.
  6. Die IWF-Vorsitzende sprach zuletzt von wachsenden Möglichkeiten einer „weichen Landung“ der Weltwirtschaft – also einer Eintrübung der Konjunktur, ohne viele Länder in eine tiefe Rezession zu stürzen und gleichzeitig die Inflation herunterzubringen. Aber weder wird der Kapitalismus aufgrund seiner inneren Widersprüche Rezessionen entgehen können, noch wird er (wie wir an anderer Stelle1 erklärt haben) die Inflationsgefahr dadurch einfach loswerden – vor allem nicht in den meisten Ländern der neokolonialen Welt. Der vorsichtige Optimismus von Teilen der Herrschenden kann sich schnell verflüchtigen. Ökonomische Schocks sind jederzeit möglich, wie die Bankenkrise zu Beginn des Jahres gezeigt hat – ebenso politische und geopolitische Schocks, die auf die Weltwirtschaft zurückwirken können. Diese könnten die Lage in kurzer Zeit dramatisch verschärfen. Die Weltwirtschaft sitzt – vor allem durch den hohen Verschuldungsgrad – auf tickenden Zeitbomben.
  7. Die Spannungen zwischen den kapitalistischen Nationen (aber auch innerhalb vieler) haben sich weiter verstärkt. Auch wenn die gegenseitigen Abhängigkeiten den Konflikten auch Grenzen setzen, wird sich diese Zunahme fortsetzen. Die Hauptkonfliktlinie verläuft zwischen den USA und China – darüber hinaus gibt es Neu- und Umgruppierungen verschiedener, dennoch instabiler Blöcke. Der deutsche Imperialismus, welcher zwar weiter in den westlichen Block eingebettet ist, findet sich zum Teil zwischen den Stühlen wieder. Die wachsenden Spannungen sorgen vom chinesischen Markt abhängige Teile des Kapitals. Aber auch mit den USA können sich Spannungen immer wieder vergrößern, insbesondere bei einer nochmaligen Trump-Präsidentschaft. Seit Beginn des Ukraine-Krieges ist die Weltordnung noch instabiler und multipolarer geworden. Das hat zusammen mit den ökonomischen Aussichten auch große Auswirkungen auf die Lage und Perspektiven des deutschen Kapitalismus und des Klassenkampfes in Deutschland.
  8. Krisenpotenziale bestehen weiter in der Europäischen Union – auch wenn die Probleme zuletzt weniger prominent diskutiert wurden. Die EU ist ein Klub kapitalistischer Staaten: Wo deren Interessen auseinandergehen, entwickeln sich Spannungen. Diese können das Projekt in seiner jetzigen Form in Frage stellen, wenn es zu weiteren Erschütterungen kommt. Die Debatte um die Reform der EU-Schuldenregeln (und in dem Zusammenhang die Konflikte zwischen u.a. Italien, Frankreich und Deutschland) ist ein Ausdruck der zentrifugalen Kräfte innerhalb der EU. Die Parlamentswahlen im nächsten Jahr können zu einer weiteren Stärkung rechtspopulistischer Kräfte führen.
  9. Der Weltkapitalismus sitzt auf unzähligen ökonomischen, politischen und sozialen Pulverfässern. Die massive Eskalation des nationalen Konflikts im Nahen Osten hat gezeigt, wie schnell solche Entwicklungen nicht nur die betroffene Region sondern die ganze Welt verändern und auch welches potenzielle Ausmaß sie annehmen können. Der bisher größte und tödlichste Angriff der Hamas mit über eintausend toten israelischen Zivilist*innen, der selbstverständlich im Kontext jahrzehntelanger Unterdrückung, Vertreibung, Besatzung und Belagerung der Palästinenser*innen gesehen werden muss, hat die israelische Regierung zu einem massiven militärischen Gegenschlag veranlasst. Über 18.000 Palästinenser*innen (Stand 12. Dezember) sind durch das Militär Israels getötet worden, über eine Million Menschen sind in den Süden Gazas geflohen.
  10. Der Krieg bedeutet nicht nur unvorstellbares Leid, sondern heizt auch die Instabilität in der Region und innerhalb von Israel an. Die Lage ist kritisch und verschiedene Faktoren wirken auf die Entwicklungen, sodass eine genaue Vorhersage nicht möglich ist. Im Rahmen des Möglichen ist es, dass sich die gesamte Region zu einem Flächenbrand entwickeln könnte, sollten andere Staaten in den Krieg verwickelt werden. In jedem Fall wird das kein kurzer Krieg und werden uns die Entwicklungen bis hin zu ihren Auswirkungen in Deutschland länger begleiten. Die Bilder aus Gaza haben uns nicht das letzte Mal in diesem Jahrhundert vor Augen geführt, dass die grundlegende Weggabelung für die Menschheit tatsächlich mit „Sozialismus oder Barbarei“ überschrieben ist.
  11. Die Eskalation im Nahen Osten ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe sondern auch eine große politische Herausforderung für alle politischen Formationen, insbesondere angesichts der massiven Propagandakampagne der deutschen Bourgeoisie. Es war und ist nötig, gegen den Strom zu schwimmen und die Diffamierung zurückzuweisen, dass jegliche Palästina-Solidarität antisemitisch wäre. Gleichzeitig hat der Konflikt auch die völlig falsche und schädliche Herangehensweise vieler sich zur revolutionären Linken zählender Organisationen verdeutlicht, welche den Terror der Hamas verteidigt bzw. nicht deutlich kritisiert haben und keine strategische Klarheit besitzen, wie der legitime Kampf der Palästinenser*innen zum Erfolg geführt werden kann. Dazu ist eine internationalistische und sozialistische Klassenposition nötig, welche nicht nur das Recht auf Widerstand und Selbstbestimmung der Palästinenser*innen, sondern auch die Sicherheitsbedürfnisse und Klasseninteressen der israelisch-jüdischen Arbeiter*innenklasse verteidigt und die israelische Gesellschaft entlang der Klassenlinien spaltet. Wir haben als CWI und Sol eine auf der revolutionären Linken einzigartige, marxistische Position und Haltung entwickelt, die den großen Herausforderungen der nationalen Frage gerecht wird, am Bewusstsein verschiedener Teile der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten ansetzt und aufzeigt, dass ein Leben in Selbstbestimmung, Frieden und Sicherheit nur durch die Einheit der Arbeiter*innen und eine sozialistische Veränderung möglich ist.
  12. In West- und Zentralafrika nehmen Spannungen zu, ringen imperialistische Staaten (darunter Deutschland) um Einfluss und fanden auch in diesem Kontext eine Reihe Militärputsche statt (seit 2020 in Gabon, Niger, Burkina Faso, Guinea, Mali, im Tschad und im Sudan). Ein weiteres Pulverfass sind die seit Jahrzehnten schwelenden Spannungen im Pazifikraum, vor allem zwischen China und dem sich im Niedergang befindlichen US-Imperialismus. Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping strebt eine Wiedervereinigung Taiwans mit China an. Militär- und Geheimdienstvertreter der USA äußerten, dass China sich auf eine militärische Konfrontation vorbereite – während die USA selbst ein Netz von Militärbasen im Pazifik aufgebaut haben. Der Taiwan-Konflikt kann innerhalb der nächsten Jahre eskalieren und selbst eine direkte militärische Auseinandersetzung zwischen China und den USA oder westlichen Mächten ist nicht ausgeschlossen. Verschiedene Szenarien sind denkbar, darunter auch eine Blockade der Insel mit gravierenden Folgen für die internationalen Beziehungen. Käme es zum Krieg, würde dieser hohe Opfer in der Arbeiter*innenklasse der betroffenen Länder fordern und käme einem schweren Erdbeben für die politische und ökonomische Weltlage gleich – welches aber auch eine weltweite Antikriegsstimmung und -proteste auslösen würde.
  13. Ein Dauerbegleiter der multiplen Krise ist die Klimakrise. In diesem Jahr gab es erneut einen globalen Temperaturrekord. Neben den steigenden CO2-Emissionen sorgt zusätzlich das Phänomen El Niño für Temperaturanstiege. Extremwetterereignisse werden in den nächsten Jahren zunehmen und die Klimakrise wird größere Auswirkungen auf politische und ökonomische Entwicklungen haben. Eine Zunahme kriegerischer Auseinandersetzungen um den Zugang zu schwindenden Ressourcen und massenhafte Abwanderungen aus Gegenden, wo menschliches Leben nicht mehr möglich sein wird, sind zu erwarten. Die Klimakrise zusammen mit anderen Formen der Umweltzerstörung (wie atomare Strahlung, diverse Gifte, Flächenversiegelungen, Artensterben …), die ihre Ursachen in der kapitalistischen Produktionsweise haben, haben das Potenzial, die Lebensbedingungen für große Teile der Arbeiter*innenklasse und Armen weltweit nachhaltig und qualitativ zu verschlechtern. In manchen Gegenden der Welt wird aufgrund von Überflutungen und Temperatursteigerungen menschliches Leben wahrscheinlich nicht mehr möglich sein. Die gravierenden Folgen der Umweltzerstörung können unter kapitalistischen Bedingungen für große Teile der Weltbevölkerung ein menschenwürdiges Leben unmöglich machen. Tatsächlich ist es nur unter sozialistischen Bedingungen denkbar, dass sich die wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten in einem Maße weiter entwickeln, dass die Umweltzerstörung und die Klimakrise umgekehrt werden bzw. die Auswirkungen für die Menschheit verkraftbar gestaltet werden können. Ökologische Fragen erweisen sich dabei immer wieder als Klassenfragen. Die ärmeren Teile der Weltbevölkerung, die am wenigsten zur Klimakrise beigetragen haben, leiden am stärksten und werden vor noch größere Probleme gestellt werden.
  14. Eine Lösung dieser Probleme, solange der Kampf um die maximalen Profite über allem steht, ein „grüner Kapitalismus“ also, ist eine Illusion. Denn bürgerliche Politiker*innen können nur in den engen Grenzen agieren, die ihnen das wirtschaftliche Korsett des Kapitalismus bietet – nötige Maßnahmen zum Klimaschutz müssten sich aber mit den Superreichen, Banken und Konzernen und vor allem der kapitalistischen Produktionsweise an sich anlegen. Folgerichtig wird Klimapolitik entweder mit angezogener Handbremse auf dem Rücken der Arbeiter*innen und Armen gemacht oder die ergriffenen Maßnahmen haben sogar eine gegenteilige, klimaschädliche Wirkung (u.a. Umstieg auf E-Mobilität). Schon jetzt leiden Millionen unter „grüner Klimapolitik“. Wo solche Maßnahmen als vermeintlich alternativlose „Klimapolitik“ dargestellt werden, steigt die Wut darüber, teilweise kippt sie in allgemeinen Widerspruch gegen Klimaschutz-Maßnahmen generell. Geboren im Wunsch, diesen vermeintlichen Sachzwängen etwas entgegenzustellen, nehmen selbst Verschwörungserzählungen zu, nach denen die Klimakatastrophe eine Lüge sei. Mit Trump, Bolsonaro und Milei haben es solche Positionen bis auf die Präsidentenebene geschafft – mit fatalen Folgen, ökologisch wie sozial. Wir haben in den vergangenen Jahren oft vor dem Fehler gewarnt, Klimaschutz und soziale Sicherheit gegeneinander auszuspielen. Bis heute werden von zentralen Akteuren der Klima-Bewegung unsoziale Maßnahmen wie die CO2-Steuer verteidigt oder sogar Verschärfungen gefordert. Manche Gruppen, wie die Letzte Generation, stellen sich mit vielen ihrer Aktionen gegen die Masse der Bevölkerung. Angesichts der stockenden Klima-Politik und der zunehmenden Repression sind da weitere Radikalisierungen zu erwarten. Der Schritt hunderter Aktivist*innen, in die Partei DIE LINKE einzutreten, ist prinzipiell begrüßenswert, weil es eine politische Partei braucht, welche den Klimakampf mit allen Kämpfen der Arbeiter*innenklasse und Unterdrückten verbindet. Allerdings ist unklar, inwieweit solch eine Erkenntnis diesen Schritt bei den Aktivist*innen veranlasste und dürften finanzielle Motive ebenfalls dabei eine Rolle spielen, angesichts der gefährdeten Unterstützung durch Linksfraktion und Rosa-Luxemburg-Stiftung nun um die Rettung der Partei zu kämpfen. Die Klima-Bewegung hat in den letzten zwei Jahren an Mobilisierungsstärke verloren. Das kann sich wieder ändern, aber in der Bewegung gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen, welche politischen und organisatorischen Lehren daraus zu ziehen sind. Solange Banken und Konzerne nicht in den Mittelpunkt ihres Protest gerückt werden und große Teile durch falsche politische Forderungen oder Aktionsformen zur Spaltung der Arbeiter*innenklasse beitragen, bleibt sie ein zahnloser Tiger.

Deutsche Wirtschaft

  1. Der deutsche Kapitalismus ist mit seiner exportorientierten Industrie besonders von den Entwicklungen auf der Weltebene betroffen. Deutschland wird 2023 als einzige führende Industrienation eine Rezession aufweisen – Wachstumsprognosen mussten in den letzten Monaten immer weiter nach unten korrigiert werden. Das Horrorszenario eines drastischen Einbruchs, wie es aufgrund der unsicheren Energieversorgung nach Ausbruch des Ukraine-Krieges diskutiert wurde, ist zwar ausgeblieben. Trotzdem sieht sich der deutsche Kapitalismus mit wachsenden wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert, die bereits vor der Pandemie und dem Ausbruch des Ukraine-Krieg in ihm angelegt waren.
  2. Dazu gehören heute eine Abschwächung des Welthandels und der Konjunktur bei wichtigen Handelspartnern wie China; zunehmende Konkurrenz in bestimmten Teilen des Weltmarktes wie der Automobilindustrie und bei neuen Technologien; hohe Energiepreise und eine weiterhin hohe allgemeine Inflation, welche den privaten Konsum drückt; selbstverschuldeter, wachsender Mangel an Arbeitskräften; kaputt gesparte Infrastruktur. Es wird diskutiert, ob Deutschland vor einer neuen Phase der Deindustrialisierung steht.
  3. Die allgemeine Preissteigerung ist rückläufig, wenn man sie mit den Vorjahresmonaten vergleicht, weil sie dann an den drastisch gestiegenen Preisen des letzten Jahres gemessen wird. Wenn man den Verbraucherpreisindex mit den in den amtlichen Statistiken verwendeten Basisjahr 2020 vergleicht, betrug er im September und Oktober 117,8 – was einer Steigerung von 17,8 Prozent seit Ende 2019 entspricht und ein neuer Preishöchststand ist. 2021 gab es bei den tariflich Beschäftigten Reallohnverluste von 1,4 Prozent, 2022 von 4,7 Prozent. Die Arbeiter*innenklasse – und besonders die ärmeren Teile der Klasse – spüren überdurchschnittlich starke gestiegene Lebensmittelpreise überproportional mehr. Zwar gab es größere Nominallohnsteigerungen, aber diese gleichen die Kaufkraftverluste (auch der letzten Jahre) nicht aus. Der Kapitalismus lässt die breite Masse weiter durch sinkende Realeinkommen bezahlen. Die Profitanteile vieler Konzernen an den Preissteigerungen sind hingegen weiter sehr hoch. Gleichzeitig wurde durch staatliche Einmalzahlungen und gewisse Erhöhungen der Sozialhilfe sowie das 49-Euro-Ticket die Wirkung der Inflation abgefedert. Das lindert nicht die Sorgen vor der Zukunft, aber hatte einen großen Anteil am bisherigen Ausbleiben von größeren Sozialprotesten.
  4. Wie wir an anderer Stelle2 ausgeführt haben, ist der Kapitalismus in eine neue Ära eingetreten und spricht daher vieles gegen die von Wirtschaftsinstituten prognostizierte Rückkehr der Inflationsraten in den nächsten Jahren auf das Zielniveau der Zentralbanken. Die Arbeiter*innenklasse kann sich darauf erst recht nicht verlassen. Rezessionen, wie wir sie aktuell erleben, können eine dämpfende Wirkung auf die Inflation haben. Aber es spricht auch einiges dafür, das neue geopolitische und ökonomische Schocks die Inflation wieder anheizen können, zum Beispiel durch Unterbrechung von Lieferketten oder steigende Öl- und andere Rohstoffpreise.. Sollte sich die Weltwirtschaft drastisch eintrüben, kann zudem eine Zick-Zack-Politik der Zentralbanken, welche ihren verschärften geldpolitischen Kurs stoppen könnte, ebenfalls neue Preissteigerungen befeuern – insbesondere durch ihren Einfluss auf Angebot und Nachfrage.
  5. Der deutsche Kapitalismus steht vor besonderen ökonomischen Herausforderungen – angesichts einer multipolaren Weltordnung und zunehmendem Protektionismus, verschärftem Wettbewerb um internationale Absatzmärkte und struktureller Problemen zuhause. (Geo-)Politische Entwicklungen können diese Herausforderungen sehr schnell verschärfen, wie wir in den letzten Jahren gesehen haben. Das wirft früher oder später die Notwendigkeit größerer Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse auch hierzulande auf. Das kann sich auf verschiedenen Ebenen vollziehen: Betriebsschließungen bis hin zu Massenentlassungen sind insbesondere bei einem drastischen Wirtschaftseinbruch zu erwarten. Kapitalverbände, wie der Bund der deutschen Industrie, fordern seit Jahren nicht nur Steuersenkungen für Unternehmen und einen „schlankeren Staat“, sondern auch eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit, eine Verschiebung des Renteneintrittsalters oder Angriffe auf das Streikrecht. Auf der politischen Ebene, in den Haushalten von Bund, Ländern und Kommunen zeichnen sich in den nächsten Jahren größere Kürzungen ab – zum Teil werden sie schon umgesetzt. Deutschland stellt trotzdem weiter die stärkste Wirtschaft Europas dar. Das gibt den Herrschenden auch noch einen größeren Spielraum, was zum Beispiel staatliche Antworten auf Krisensituationen angeht.

Politik

  1. Diese Probleme des deutschen Kapitalismus sind die materielle Grundlage für die großen Veränderungen in der politischen Landschaft, die sich in den letzten Jahren bereits entwickelt haben. 57 Prozent gaben im September an, dass sie keiner Partei zutrauen, mit den Problemen in Deutschland fertig zu werden. Die Ampel-Regierung ist in einer enormen Krise. Ob Heizungsgesetz, Kindergrundsicherung, Haushalt: Die selbsternannte „Fortschrittskoalition“ hat vor allem in einem fort gestritten. 79 Prozent waren im September unzufrieden, die Regierungsparteien kamen zusammen in aktuellen Umfragen nur noch auf 37 Prozent. Im November sprachen sich nur noch ein Drittel für den Fortbestand der Regierung aus.
  2. Die tiefere Ursache dafür ist, dass auch diese Regierung eine pro-kapitalistische ist und für die multiple Krise unserer Zeit keine Lösungen findet. Einerseits spiegeln sich in ihr die Konflikte unter den Herrschenden und fällt es ihr in vielen Fragen schwer eine einheitliche Politik zu formulieren. Andererseits sind die realen Vorhaben letztlich nicht im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung, der Arbeiter*innenklasse und Mittelschichten, und führen zu Widerspruch.
  3. Alle Ampel-Parteien leiden darunter. In der FDP, die um einen Wiedereinzug in den Bundestag bangen muss, werden Stimmen nach einem Koalitionsende laut. Die SPD nähert sich historischen Tiefstwerten. Die Krise trift aber auch die Grünen, die zwar in den Umfragen nicht weit unter ihrem Wahlergebnis liegen, aber gegen die sich immer mehr Wut und Hass entwickelt. Auch wenn dieser zum Teil durch rechte und rechtspopulistische Kampagnen aufgestachelt wird, ist das auch eine logische Reaktion von Teilen der Klasse und Mittelschichten auf die Kombination ihrer moralischen Überheblichkeit und der gegen die Masse gerichteten Politik.
  4. Während das Wachstumschancengesetz Milliarden für die Kapitalist*innenklasse bedeutete und nicht zuletzt die finanzielle Lage der Kommunen verschlechtern wird, hatte die Ampel-Koalition schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgericht den ersten Kürzungshaushalt seit Jahren vorgelegt. Das markierte bereits eine Trendwende, auch wenn das noch kein Generalangriff auf die Arbeiter*innenklasse war. Diese ohnehin vorgesehenen Kürzungen im Bundeshaushalt bei Projekten der Jugendsozialarbeit, Unterstützung von Langzeitarbeitslosen usw. werden aber einige der abgehängtesten Teile der Klasse hart treffen.
  5. Das Urteil des Bundesverfassungsgericht zum sogenannten „Klima und Transformations-Fonds“ (KTF) hat die Ampel-Regierung in die schwerste Krise seit ihrem Bestehen gestürzt und ihre Finanzplanung zunichte gemacht. Doch die Dimension des Urteils geht über eine Vertiefung der Krise der Regierung hinaus. Es ist ein Katalysator für politische Instabilität, Kürzungen auf allen Ebenen des Staates in der nächsten Zeit und auch die ohnehin vorhandenen rezessiven Tendenzen in der deutschen Wirtschaft.
  6. Das Urteil betrifft die bisherige Haushaltspolitik der Bundesregierung, aber auch einiger Landesregierungen – da es über die durch das Urteil unmittelbar gelöschten 60 Milliarden Euro-Kreditermächtigungen im KTF hinausgeht. Es hat eine neue Debatte um die 2009 in die Verfassung aufgenommene Schuldenbremse ausgelöst, welche die Kreditaufnahme des Staates stark begrenzt und seitdem ein Instrument für Sozialkürzungen bzw. niedrige Staatsausgaben war. Der Umgehungspraxis der Regierenden über verschiedene schuldenfinanzierte Sondertöpfe wurde ein Riegel vorgeschoben. Einige dieser Töpfe wurden in den letzten Jahren aufgesetzt und zum Kitt des Ampel-Bündnis, welches die politischen Differenzen zwischen den Parteien überbrücken sollte: Die FDP konnte sich mit der Einhaltung der Schuldenbremse brüsten, während Grüne und SPD Investitionen und Subventionen für Unternehmen, teils fragwürdigen Klimaschutz und ein paar soziale Abfederungen verkaufen konnten. Der Großteil dieser staatlichen Ausgaben dienten der Absicherung privater Profite des Kapitals durch Schulden – sie waren kein wirklich soziales Investitionsprogramm im Interesse der Arbeiter*innenklasse, welches zum Beispiel die vielen Notstände in der öffentlichen Daseinsvorsorge, bei der Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum usw. behoben hätte.
  7. Schon vor dem Gerichtsurteil hatten Ampel-Vertreter mit dem aktuellen Haushalt die Rückkehr zur „haushaltspolitischen Normalität“ angekündigt und in diesem harte Kürzungen, u.a. für soziale Projekte, verankert. Das Karlsruher Urteil kann aber zum Ausgangspunkt eines Generalangriffs auf den Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse und soziale Errungenschaften werden, selbst wenn dieser nicht unmittelbar durch diese schwache Regierung eintritt. Es wird möglicherweise auch auf Landes- und kommunaler Ebene folgen haben. Kürzungen wurden bereits vorher geplant und führten zu Protesten, wie zuletzt in Berlin-Neukölln und Wiesbaden. Das kann sich in den nächsten Monaten zuspitzen.
  8. Für 2023 hat die Bundesregierung eine neue „Notlage“ beschlossen, welche die Schuldenbremse zum vierten Mal in Folge aussetzen soll, um die durch das Urteil in diesem Jahr notwendig gewordene, höhere Neuverschuldung möglich zu machen. Ob dieser Schritt rechtlich zulässig ist, ist umstritten – demzufolge kann auch das durch Karlsruhe gekippt werden.
  9. Die Verhandlungen über den Haushalt 2024 werden zur Zerreißprobe für die Ampel. Die FDP verweigert sich bisher einer Reform der Schuldenbremse, für die ohnehin eine 2/3-Mehrheit im Parlament mit der Union nötig wäre, und einer Erklärung einer Notlage für 2024. Damit wären laut Finanzminister Lindner 17 Milliarden Euro Kürzungen nötig – der Bundesrechnungshof geht von 48,5 Milliarden Euro aus, weil er den Wirtschaftsplan eines anderen Sondertopfes hineinrechnet. SPD und Grüne wollen auf die Milliarden-Subventionen und Investitionen für das Kapital nicht verzichten und fürchten auch, dass allzu harte Sozialkürzungen Wähler*innenstimmen kosten werden.
  10. Es ist offen, ob und wie dieser Konflikt gelöst werden wird. Eine nochmalige Notlage in 2024 ist eine Möglichkeit, kann aber in der FDP zur Revolte führen, wo bereits eine Mitgliederbefragung zum Verbleib in der Ampel ansteht. Eine Notlage stände nicht in Widerspruch zu gleichzeitig heftigen Sozialkürzungen, wie sie schon jetzt beim Bürgergeld oder Kindergrundsicherung von FDP und Union gefordert werden.
  11. Das Bundeswehr-Sondervermögen wird davon nicht betroffen sein. Mit der „Zeitenwende“ trieb die Ampel die Militarisierung und Aufrüstung massiv voran. Doch das 100-Milliarden-Sondervermögen, welches schon voll verplant ist, wird nicht der letzte Schritt auf diesem Weg gewesen sein. Immer wieder gibt es Stimmen, die nach einer Aufstockung des Sondervermögens und weiterer Aufrüstung rufen. Der sogenannte Verteidigungsminister Pistorius (SPD) treibt das u.a. durch seine Forderung, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden, massiv voran. Das Zwei-Prozent-Ziel der NATO will die Bundesregierung laut Berichten für das nächste Jahr erreichen. Die Wünsche des deutschen Imperialismus nach von den USA unabhängigeren und größeren militärischen Kapazitäten werden mehr solcher öffentlichen Offensiven und weitere Milliarden notwendig machen.
  12. Die Auseinandersetzungen um den Haushalt zeigen auch die Zerrissenheit der Regierungsparteien, die die Spannungen und Differenzen in der herrschenden Klasse im Umgang mit der Krise ausdrücken. Die einen wollen auf Pump investieren und subventionieren (ohne die Reichen ernsthaft zur Kasse zu bitten und damit das Finanzierungsproblem in die Zukunft zu verschieben), die anderen wollen die Staatsausgaben nach den großen Rettungspaketen drosseln. Deshalb gibt es ein Infragestellung der aktuellen Form der Schuldenbremse bei Teilen der SPD und Grünen bis hin zu CDU-Ministerpräsidenten, die mehr Spielraum verlangen. AfD, FDP und die CDU-Führung um Merz lehnen das strikt ab und haben dabei auch die Auswirkungen auf EU-Ebene im Blick, wo der deutsche Kapitalismus vehement für eine Begrenzung der Verschuldung anderer Staaten und Austeritätspolitik eintritt. Mittelfristig ist eine Reform der Schuldenbremse, die dem deutschen Kapitalismus mehr Flexibilität gibt, aber wahrscheinlich. Beide Lager sind sich einig, früher oder später die Arbeiter*innenklasse zur Kasse zu bitten. Finanzminister Lindner betonte in seiner Bundestagsrede bereits vor dem Karlsruher Urteil: “Hinter der Horizontlinie, für uns noch nicht sichtbar, da kommt ein Eisberg, um nicht zu sagen: ein Eisbergfeld”. Das war eine kaum versteckte Kampfansage für noch deutlich umfangreichere Kürzungen in den nächsten Jahren und mit dem Urteil aus Karlsruhe macht die Bundesregierung einen sehr großen Schritt in Richtung dieses Eisbergfelds.
  13. Das kann auch neue Debatten um die Schuldenbremse hervorrufen – ebenso wie die prekäre Lage vieler Kommunen, deren Finanzierungsdefizit im ersten Halbjahr stark zugenommen hat.
  14. Verschlechterungen werden zum Teil als Verbesserung ausgegeben. Die von Karl Lauterbach angestoßene „Krankenhaus-Reform“ erhält entgegen anderslautender Beteuerungen zum Beispiel das Fallpauschalensystem. Ein Viertel aller Krankenhäuser könnte bis 2030 laut Deutscher Krankenhausgesellschaft insolvent gehen. Nicht nur die Versorgungssicherheit würde dadurch weiter gefährdet. Es drohen so weitere Privatisierungen von Filetstücken bzw. Sozialisierung von Verlusten durch Kommunen (mit Auswirkungen auf deren Haushalte) und weitere Verschlechterungen bei den Arbeitsbedingungen mit Auswirkungen auf die Personalnot.
  15. Die Krise der Ampel gibt Raum für jene, die in der Opposition sind. Aufgrund des desaströsen Zustands der LINKEN profitieren aber die Parteien, die im Bundestag auf der rechten Seite sitzen. Stärkste Partei laut Umfragen ist die Union, die unter Friedrich Merz immer weiter nach rechts ausschlägt. Gleichzeitig sind die Umfragewerte der Union nicht viel höher als ihr Ergebnis bei der Bundestagswahl.
  16. Doch Merz ist in seiner eigenen Partei keineswegs unumstritten. Seine wiederkehrenden populistischen Aussagen sorgen für Unbehagen bei jenem Flügel der Union, der in der Merkel-Ära das Sagen hatte. Die Union ist gespalten: Merz steht für den hardcore-neoliberalen und mehr und mehr populistischen Flügel, der durch Anleihen bei der Rhetorik der AfD politische Unterstützung erreichen will. Andere, wie die Ministerpräsidenten Wüst oder Günter stehen für die Fortsetzung des Merkel-Kurses, der neoliberale Politik mit Einbindung der Gewerkschaftsspitzen kombiniert und in gesellschaftspolitischen Fragen liberal auftritt. Die Debatte zur Schuldenbremse hat diese Trennlinen ebenfalls zu Tage treten lassen. Zudem gibt es die CSU und Markus Söder, der ebenfalls populistisch auftritt und Ambitionen auf die Kanzlerkandidatur haben dürfte.
  17. Die aktuelle „Stärke“ der Union in den Umfragen ist also sehr relativ und sie wird die Partei nicht vor den Auseinandersetzungen um ihren inhaltlichen Kurs bewahren, die spätestens mit der Debatte um die nächste Kanzlerkandidatur wieder ausbrechen können. Das Verhältnis von Teilen der Ost-CDU zur AfD, wo die Offenheit für eine Zusammenarbeit mindestens auf kommunaler Ebene steigt, aber auch zum Umgang mit einer neuen Wagenknecht-Partei bietet Sprengstoff für die Partei.
  18. Die AfD hat zum ersten Mal in ihrer Geschichte nicht nur bundesweit die 20-Prozent-Marke geknackt, sondern stellt auch den ersten Landrat und den ersten Bürgermeister und ist in ostdeutschen Bundesländern auf gutem Wege stärkste Partei bei den Landtagswahlen im nächsten Jahr zu werden. Gerade in Ostdeutschland, aber auch im Westen wie zuletzt in Bayern und Hessen, kann sie sich seit Jahren die weit verbreitete Unzufriedenheit und das Misstrauen gegenüber den etablierten Parteien und staatlichen Institutionen zu Nutze machen und sich als Alternative zum Establishment darstellen. In den letzten Monaten profitierte sie vor allem von den Sorgen vor dem Heizungsgesetz. Und sie war oft die einzig wahrnehmbare Opposition zum Regierungskurs in Sachen Ukraine-Krieg.
  19. Die Landtagswahlen in Hessen und Bayern waren ein mittelschweres Erdbeben für die Ampel-Koalition. Die Schockwellen der Eskalation im Nahen Osten haben diese zwar schnell wieder in den Hintergrund gerückt und die Ampel-Parteien haben sie bewusst für den Versuch genutzt, von ihrer eigenen Krise abzulenken. Dennoch haben sie zum ersten Mal ernsthaft die Frage nach dem Fortbestand der Koalition bis zum Ende der Legislatur aufgeworfen und haben massive Folgen. Sie haben die massive Unzufriedenheit mit der Ampel und die weitverbreiteten Sorgen in der Bevölkerung erneut zum Vorschein gebracht. Die Gewinne von CDU/CSU, AfD und Freien Wählern rufen nachvollziehbarerweise Ängste vor einer weiteren Rechtsverschiebung auf der politisch-parlamentarischen Ebene und in der öffentlichen Debatte hervor.
  20. Die nächsten regulären Bundestagswahlen sind für 2025 geplant. Es war angesichts der grassierenden Unzufriedenheit vor dem Karlsruher Urteil bereits sehr gut möglich, dass die Ampel-Koalition vorher auseinanderbricht. Das ist jetzt wahrscheinlicher geworden. Es ist möglich, dass die Koalition schon über den Haushalt 2024 auseinanderfällt. Markus Söder hat Neuwahlen parallel zu den EU-Wahlen in die Diskussion gebracht, was nicht ausgeschlossen ist. Weitere Anlässe könnten der Ausgang der EU-Wahlen im Sommer bzw. der ostdeutschen Landtagswahlen im September sein. Entscheidende Faktoren dafür könnten sein, dass die FDP in einem Bruch mit der Ampel ihre Haut retten will, dass die Bourgeoisie eine andere Regierungskoalition durchsetzen will oder auch, dass durch Neuwahlen der Aufstieg einer Wagenknecht-Partei begrenzt werden soll. Angriffe der rechten Opposition haben zudem schon dazu beigetragen, die Ampel zu schwächen.
  21. Die Frage ist aber auch: Was könnte danach kommen? Das Karlsruher Urteil hat für jede neue pro-kapitalistische Regierungskonstellation ein wichtiges Instrument zur Verschiebung härterer Angriffe genommen bzw. eingeschränkt. Schon die letzten Wahlen haben gezeigt, wie instabil die Lage ist und wie schnell sich Umfragen und Koalitionskonstellationen ändern können. Die aktuellen Umfragen sprechen für eine CDU-geführte Regierung, welche je nach Wahlausgang zwei weitere Parteien für eine Koalition brauchen könnte. Das hängt auch davon ab, wie viele Parteien es in den Bundestag schaffen. Die nächste Regierungsbildung dürfte kompliziert werden. Eine vom Kapital favorisierte CDU-geführte Regierung hätte durch das Karlsruher Urteil Rückenwind für deutlich härtere Sozialkürzungen und Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse, womöglich einen Generalangriff auf Rente, Arbeitszeit oder ähnliches. Für eine Einbeziehung der SPD in eine Große Koalition spricht deren Möglichkeit, die große Mehrheit der Gewerkschaftsbürokratie darin einzubinden, um den zu erwartenden Aufruhr der organisierten Arbeiter*innenklasse zu dämpfen. Die FDP könnte als Hilfskraft fungieren. Das allein könnte aber schon je nach Wahlausgang eine größere Herausforderung werden. Das hat viel mit der relativen Stärke der AfD zu tun, deren Einbindung in eine Bundesregierung aber nicht den Interessen der Kapitalmehrheit entspricht und zu diesem Zeitpunkt sehr unwahrscheinlich ist. Eine Wagenknecht-Partei könnte die Frage von Regierungsmehrheiten und -optionen weiter verkomplizieren. Durch die populistische Rhetorik des CDU-Chefs und potenziellen Kanzlerkandidaten Friedrich Merz ist eine schwarz-grüne Zusammenarbeit im Bund deutlich schwieriger und unwahrscheinlich geworden – allerdings kann man auch diese, ggf. unter Einbeziehung der FDP, nicht ausschließen.
  22. Die Stärkung rechter und rechtspopulistischer Kräfte auf der parlamentarischen Ebene heißt noch nicht, dass es auch in der Arbeiter*innenklasse eine breite Zunahme der Unterstützung für rechte und rassistische Ideen gibt. Umfragen sprechen dafür, dass die AfD bisher ihr Wähler*innenpotenzial nicht deutlich ausbauen konnte, obwohl sie in Meinungsumfragen zugelegt hat. Es gibt zum anderen Hinweise, dass die Sorgen in der Bevölkerung vor den Auswirkungen der Zunahme von Migration (noch) nicht in dem selben Maße wie 2016 oder in den 1990er Jahren zu einer breiten Zunahme aggressiv-rassistischer Stimmungen, Brandanschlägen usw. führen. Das kann sich jedoch in Zukunft ändern.
  23. Dennoch gibt es die Gefahr einer Zunahme von Rassismus und Spaltung. Die seit einigen Monaten geführte Migrationsdebatte, in der sich alle Parteien außer der LINKEN faktisch für eine weitere Beschneidung der Rechte von Geflüchteten einsetzen, verzahnt sich mit der Debatte um den Nahost-Konflikt und der massiven Propaganda-Kampagne der Herrschenden, welche jede Form von Palästina-Solidarität als Antisemitismus diskreditiert und demokratische Rechte massiv einschränkt. DIE LINKE distanziert sich öffentlich von den Asylrechtseinschränkungen, trägt sie aber zum Beispiel in der Thüringer Landesregierung mit. Die öffentliche Debatte und die Politik der etablierten Parteien verschiebt sich weiter nach rechts und die Rhetorik gegen Geflüchtete verschärft sich im Windschatten.
  24. Die Herrschenden haben nach dem Hamas-Angriff gezielt versucht, eine Atmosphäre der Verunsicherung und Einschüchterung zu schaffen, durch die kritische Positionen zur israelischen Kriegsführung unterdrückt werden sollten. Die Gewerkschaftsführungen haben sich darin weitgehend einbeziehen lassen und die einseitige Positionierung pro Israel unterstützt, ohne eine größere Diskussion in der Mitgliedschaft dazu zu organisieren.
  25. Die Ziele der Herrschenden bestehen darin, demokratische Rechte einzuschränken, mit Generalverdacht und Hetze gegen Palästinenser*innen, Araber*innen und Muslime und Muslimas die Asylrechtseinschränkungen voranzutreiben und von ihrer eigenen Regierungskrise abzulenken. Die pauschalen Unterstellungen von Antisemitismus gegenüber Demonstrierenden und Migrant*innen bedeuten – zusammen mit der zum Teil entmenschlichenden Berichterstattung über die Leidenden in Gaza – eine massive Demütigung arabischer und muslimischer Menschen. Das kann weitere Proteste befeuern, aber auch Wutausbrüche provozieren und eine ethnische Polarisierung und Spaltung in Deutschland verschärfen – wovon auch Kräfte des rechten politischen Islams profitieren könnten.
  26. Das kann die politische Lage in den nächsten Monaten insgesamt verkomplizieren. Das Bewusstsein zum Krieg im Nahen Osten ist im Fluss. Mittlerweile ist der Anteil derjenigen, die kritisch auf die israelische Kriegsführung blicken, gewachsen – wenngleich die Ansichten immer noch polarisiert ausfallen. Laut ARD-Deutschlandtrend von Anfang November, hielten sich Befürworter*innen und Kritiker*innen der israelischen Kriegspolitik mit 43 und 41 Prozent die Waage. Würden in solchen Umfragen auch Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft befragt,sähe das Ergebnis sicher anders aus. Viele Menschen haben vor allem Sorge um eine Ausweitung des Konflikts. Das Bewusstsein wird sich demzufolge abhängig von den Entwicklungen weiter verändern. Sozialist*innen sollten sich auf alles gefasst machen – zum Beispiel auch auf die Möglichkeit von größeren Gewalttaten und Terroranschlägen in westlichen Ländern. In diesen Debatten ist es Aufgabe von Sozialist*innen einen Klassenstandpunkt zu formulieren. Das gilt in der Debatte um die Geschehnisse in Israel und Palästina, als auch in der Migrationsdebatte, um die real existierenden Sorgen vor sozialen Problemen durch Zuwanderung zu beantworten. Antirassismus, Bekämpfung von Fluchtursachen, Verteidigung der Rechte von Geflüchteten und des Asylrechts sowie eines Bleiberechts für Alle sind für uns unumstößlich – aber sie müssen mit Forderungen nach massiven Investitionen in Wohnraum, Bildung, usw. finanziert durch die Vermögen der Super-Reichen einhergehen.
  27. Die Sol spricht, anders als andere Linke es tun, nicht einfach von einem „Rechtsruck“ in der Gesellschaft. Während Rechtsverschiebungen auf der Ebene der Regierungspolitik, der Wahl- und Umfrageergebnisse und hinsichtlich zunehmender Repression des Staates stattfinden, sieht das im Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse und der Jugend anders aus. Sorgen vor und Ablehnung von mehr Zuwanderung können sich mehr gegen die Regierung als gegen die Migrant*innen selbst richten und können einher gehen mit Unterstützung für linke Forderungen in vielen anderen Fragen. Unsere Analyse einer fortschreitenden gesellschaftlichen Polarisierung bleibt korrekt. Der rechte Teil dieser Polarisierung findet aktuell einen politischen Ausdruck und kann weiter zunehmen, deshalb sollte man aber nicht impressionistisch werden und das linke Potenzial übersehen. Das zeigt unter anderem die große Welle von Warnstreiks und die Zahl der Neueintritte in Gewerkschaften. Es gibt bisher auch keine Anzeichen, dass die Stärkung von CDU und AfD in Umfragen auch auf einer wachsenden Unterstützung für Angriffe auf soziale Sicherungssysteme, Rente oder ähnlichem bauen. Die Umfragen, die eine Mehrheit in der Bevölkerung pro Schuldenbremse und pro Ausgabenkürzungen im Allgemeinen bescheinigen, müssen mit Vorsicht genossen werden, wenn es um ihre Aussagekraft geht, da sie allgemein gehalten sind. Angriffe und Kürzungen, die die Masse in größerem Umfang treffen, gab es in den letzten Jahren nicht, aber sie können schnell zu großem Unmut führen. Dasselbe gilt für Angriffe auf Teile der Ärmsten bzw. Entrechtetsten, wobei ein Teil der Arbeiter*innenklasse womöglich auf die Propaganda gegen Sozialhilfeempfänger*innen hereinfällt. Gleichzeitig spricht viel dafür, dass es in der Bevölkerung große Sympathien für linke Forderungen in Richtung höherer Löhne, massiver staatlicher Investitionen in Krankenhäuser, Kitas und Co, Reichtumsumverteilung bis hin zu Re-Verstaatlichungen gibt – welches aber keinen linken politischen Ausdruck findet.
  28. Soziale Bewegungen in Deutschland befinden sich in unterschiedlicher Verfassung, aber von einem Aufschwung kann bisher keine Rede sein. Die FFF-Demonstrationen werden kleiner und im Durchschnitt älter. Die Aktionen der Letzten Generation, welche nicht nur politisch extrem begrenzt waren sondern auch den Widerspruch zur Masse der Bevölkerung gesucht haben, haben der Klimabewegung im Ansehen stark geschadet. Ein Teil, u.a. von FFF, zieht aber aus den ausbleibenden Erfolgen der letzten Jahre die positive Schlussfolgerung auf die Arbeiter*innenklasse und Gewerkschaften zu orientieren, zum Beispiel im Rahmen der anstehenden Tarifrunde im Nahverkehr. Bisher ist das jedoch begrenzt auf die ÖPNV-Beschäftigten, deren Bereich für den Kampf gegen den Klimakatastrophe zentral ist, sowie in München bei Bosch oder GKN in Zwickau. Eine allgemeine Orientierung auf die Arbeiter*innenklasse, Gewerkschaften oder ihre Kämpfe gibt es bisher aber nicht.
  29. Die Mieter*innenbewegung ist in vielen Städten geschwächt. Der Enteignungs-Volksentscheid in Berlin wurde wie erwartet verschleppt und droht durch den schwarz-roten Senat durch ein Pseudo-Rahmengesetz begraben zu werden. Die Initiative selbst ist – nicht zuletzt durch den von der Interventionistischen Linken durchgesetzten identitätspolitischen Kurs – geschwächt. Dass der neue Gesetzesvolksentscheid erfolgreich sein wird, ist mehr als fraglich. Die sich entwickelnde Krise im Bau- und Immobiliensektor sowie die Erhöhung der Energiepreise werden das Wohnungsproblem, insbesondere in Ballungsräumen, aber weiter verschärfen und Mietpreise anheizen. Früher oder später wird es keine Wahl für Mieter*innen geben, als sich erneut in größerem Maßstab zu organisieren und zur Wehr zu setzen.

LINKE, Wagenknecht und Arbeiter*innenpartei

  1. Eine sozialistische Arbeiter*innenpartei ist dringender nötig denn je angesichts der multiplen Dauerkrise des Kapitalismus. Wäre DIE LINKE in den letzten Jahren den Ansprüchen einer solchen Partei gerecht geworden, würde sie jetzt nicht vor der drohenden Bedeutungslosigkeit stehen, sondern sie könnte im Gegenteil von der Krise der Ampel-Regierung profitieren.
  2. Die Ursachen der Parteikrise lassen sich nicht auf die Auseinandersetzungen zwischen Parteiführung und Sahra Wagenknecht reduzieren, welche durch ihren Parteiaustritt im Oktober und die Gründung des Vereins „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) nun den organisatorischen Bruch vollzogen hat. Auch davor hat DIE LINKE und keine ihrer Hauptbestandteile sozialistische Politik betrieben. Die Wahrnehmung der LINKEN in der Bevölkerung als Teil des politischen Establishments, vor allem in Ostdeutschland, hat in den letzten Jahren ebenso zugenommen, wie das Vertrauen in sie abgenommen hat, dass die Partei einen grundsätzlichen Unterschied macht. Das Bündnis der Bewegungslinken mit einem großen Teil der Parteirechten im Parteivorstand steht für ein „Weiter So“ dieser Entwicklung.
  3. Die Spaltung von Sarah Wagenknecht und weiteren neun Abgeordneten der Bundestagsfraktion war von uns schon seit mindestens zwei Jahren erwartet worden. Seitdem haben sie und ihre Mitstreiter*innen erneut bestätigt, dass sie einen bewussten Schritt weg von sozialistischer Politik und Klassenkampf machen. Die Gründungs-Pressekonferenz enthielt keinen Aufruf zu Gegenwehr, Selbstorganisation oder Streiksolidarität – dafür Bekenntnisse zu „mehr Wettbewerb“ und „Leistungsgesellschaft“. Seitdem ist Wagenknecht wieder mit migrationsfeindlichen und spalterischen Aussagen aufgetreten. Sie spricht sich nicht nur für weitere Einschränkungen von Geflüchtetenrechten und eine Senkung von Migrant*innenanteilen in bestimmten Stadtteilen aus, sondern moniert zu hohe Ausgaben für Asylbewerber*innen, von denen „eine Rentnerin nur träumen könnte“.
  4. Wir haben das Programm des neuen Projekts an anderer Stelle genauer analysiert. Darin kombiniert BSW pro-marktwirtschaftliche, sozialpolitische, populistische Positionen mit Appellen für Frieden und Diplomatie und mehr „Souveränität“ von den USA. Der Verein wird völlig undemokratisch von oben geführt und wird nicht für neue Mitglieder geöffnet. Allein durch den Namen wird deutlich, dass die Ausrichtung vom BSW in der Öffentlichkeit vor allem von Wagenknecht geprägt werden wird. Das ist auch der Versuch, zu verhindern, dass unzuverlässige, rechtslastige Kräfte in der Partei zu viel Einfluss bekommen werden. Doch in einer Partei wird das schwerer zu kontrollieren sein, als in einem Verein.
  5. Ihre letzten Aussagen deuten daraufhin, dass sie die aktuellen Migrationsdebatten vorantreiben und nutzen will, um mit migrations- und migrant*innenfeindlichen Positionen Unterstützung aufzubauen. Damit ist sie ein zusätzlicher verkomplizierender Faktor in der öffentlichen Debatte, aber auch für die Entwicklung des Bewusstseins. Wenn sie diesen Kurs fortsetzt werden sich linke Unterstützer*innen fragen, ob sie solch ein Projekt mittragen können.
  6. Aber es gibt ein politisches Vakuum, welches eine Wagenknecht-Partei ein ganzes Stück weit füllen könnte. Sie macht sich die verbreitete Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien zu Nutze und könnte unter Teilen der Arbeiter*innenklasse und Mittelschichten Hoffnungen auf einen Politikwechsel wecken. Vielen ist sie als „Stimme der Vernunft“ in Bezug auf den Ukraine-Krieg aufgefallen, wo sie als eine von wenigen deutliche Opposition gegen die Regierungspolitik geäußert hat. Verschiedene Meinungsumfragen haben auf ein großes Wähler*innenpotenzial für eine von Sahra Wagenknecht geführte Partei hingewiesen, so zum Beispiel von 14 Prozent bundesweit und elf Prozent im Falle einer Landtagswahl in Brandenburg.
  7. Hohe Umfragewerte sind jedoch keine Garantie für hohe Wahlergebnisse. Es ist aber damit zu rechnen, dass eine Wagenknecht-Partei bei den Europawahlen im Juni ein gutes Ergebnis erreichen wird, insbesondere wenn Wagenknecht selbst Spitzenkandidatin sein sollte. Bei den im Herbst anstehenden Landtagswahlen spielt der organisatorische Unterbau und fähiges und vermittelbares Personal schon eine größere Rolle, welches bisher nicht präsentiert werden konnte. Trotzdem ist unter den gegebenen Bedingungen davon auszugehen, dass eine Wagenknecht-Partei hier auch aus dem Stand in alle Landtage wird einziehen können. Sollte es im kommenden Jahr zu vorgezogenen Neuwahlen kommen, ist die organisatorische Herausforderung eine deutlich größere, weil eine flächendeckende Kandidatur Landesverbände in allen Bundesländern und Stadtstaaten und entsprechende Landeslisten zur Voraussetzung hat. Es ist aber davon auszugehen, dass eine von Wagenknecht geführte Partei im nächsten Jahr einen parlamentarischen Durchbruch schaffen wird. Ob darauf ein stabiler Parteiaufbau folgen wird, ist jedoch eine andere Frage.
  8. Klar ist allerdings, dass das relative Hürden sind und die BSW-Gründung das Potenzial beinhaltet, die Parteienlandschaft in Deutschland weiter grundlegend zu verändern. Alle Parteien können Parlamentssitze verlieren, wenn sie Wähler*innen an eine Wagenknecht-Partei verlieren und diese ehemalige Nicht-Wähler*innen mobilisiert. Koalitionsbildungen könnten sowohl schwieriger werden, als auch neue Optionen bekommen.
  9. Es gibt unterschiedliche Studien, die das Wähler*innenpotenzial einer Wagenknecht-Partei als größer, aber auch als niedriger als das der Partei Die Linke sehen. Hier fällt aber vor allem auch auf, dass das Potenzial der Linkspartei deutlich niedriger ist, als noch vor einigen Jahren. Dass Die Linke weniger als andere Parteien durch einen Antritt einer Wagenknecht-Partei verlieren würde, wie es mehrere Umfragen bescheinigen, ist vor allem ein Hinweis darauf, wie viel Unterstützung die Partei schon verloren hat. Trotzdem könnte die Gründung einer Wagenknecht-Partei DIE LINKE parlamentarisch auf Bundesebene, in Westdeutschland, aber auch in einigen der ostdeutschen Ländern zerstören. Die Auflösung der Bundestagsfraktion wird für die Herrschenden ein Anlass sein, Vertreter*innen der LINKEN noch weniger in der öffentlichen Debatte zu Wort kommen zu lassen. Zudem ist die parlamentarische Teilhabe eingeschränkt, z.B. bei der Mitarbeit in Ausschüssen und in der Finanzierung. Der Kampf ums Überleben dürfte dazu führen, dass die dominante Position der Parteirechten in Fraktionen von der kommunalen bis zur Bundesebene weiter gestärkt wird und viele (mitunter vermeintliche) Parteilinke noch mehr den inhaltlichen Konflikten aus dem Weg gehen werden.
  10. Es ist unwahrscheinlich, dass die über 2000 Eintritte seit der Abspaltung des Wagenknecht-Lagers daran etwas ändern werden. Aber kurzfristig kann es in einigen Ortsverbänden zu einer gewissen Dynamik und besseren Stimmung kommen. Welche Wirkung die 2000 Neumitglieder aus linksradikalen Gruppen und sozialen Bewegungen haben werden, bleibt abzuwarten. Auch wenn diese einige gute Positionen in ihrer Eintrittserklärung vertreten (Opposition gegen Regierungskoalitionen mit SPD und Grünen u.a.), ist zu befürchten, dass durch sie auch identitätspolitische Positionen in der Partei gestärkt werden und nicht die Orientierung auf die Arbeiter*innenklasse insgesamt gestärkt wird. Eine bisher nicht auszuschließende Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin im Frühjahr kann die Krise der Partei massiv vergrößern. Je nach Umfang könnte zum Beispiel ein Berliner Direktmandat gefährdet werden, welches den Einzug der allermeisten LINKE-Abgeordneten (auch der Wagenknecht-Anhänger*innen) erst möglich machte. Alle Abgeordneten bis auf einen oder zwei könnten ihr Mandat verlieren.
  11. Die AKL bleibt die Strömung in der LINKEN, die zu wichtigen politischen Fragen grundsätzlich bessere Positionen vertritt. Das gilt vor allem für die Ablehnung von Regierungsbeteiligungen mit prokapitalistischen Parteien und auch für eine grundlegend bessere Haltung zum Ukraine-Krieg. Gleichzeitig hatte die AKL eine unkritische Position zur Bewegungslinken, die so weit ging, dass führende AKL-Mitglieder der Bewegungslinken beigetreten waren. Das war ein Grund, weshalb die AKL kaum von den Debatten und Polarisierungen in der Partei profitieren konnte. In ihrem mitgliederstärksten Landesverband in NRW hat die AKL sich außerdem stark in eine ökosozialistische Richtung entwickelt. Führende Mitglieder haben außerdem an der einseitigen Kampagne gegen Sahra Wagenknecht teilgenommen und dabei teilweise die Abgrenzung zur Parteirechten verwischt. Organisatorisch ist die AKL über die letzten Jahre geschwächt und wenig mobilisierungsfähig. Das drückt sich auch darin aus, dass kein*e AKL-Vertreter*in mehr im Parteivorstand ist oder über ein Bundestagsmandat verfügt. Es ist nicht zu erwarten, dass die AKL sich im Niedergangsprozess der LINKEN stärken und zu einem Anziehungspol für kritische Parteimitglieder wird.
  12. Charakter, Zusammensetzung, Programm und die Wirkung in die Klasse einer zukünftigen Wagenknecht-Partei stehen noch nicht fest. Vom heutigen Standpunkt wäre es aber nötig, die Einheitsfrontmethode gegenüber ihr bzw. den „linken“ Teilen der Partei anzuwenden. Angesichts der großen Unzufriedenheit mit der Ampel-Regierung und des bestehenden politischen Vakuums sollte nicht unterschätzt werden, dass viele Arbeiter*innen sie wegen ihrer Anti-Establishment-Haltung zumindest auf der Wahlebene unterstützen könnten. Daran anzusetzen, gleichzeitig die Unzulänglichkeit und Gefahren von Wagenknechts Politik zu erklären und eine sozialistische Alternative aufzeigen, wird eine Aufgaben von Marxist*innen sein.
  13. Es wird größerer Bewegungen und Klassenkämpfe bedürfen, um die Grundlagen für einen neuen Anlauf zu einer sozialistischen Massenpartei zu legen. Die „doppelte Aufgabe“ (neben und mit dem Aufbau der revolutionären Organisation, einen Beitrag zum Wiederaufbau einer sozialistischen Arbeiter*innenbewegung und politischen Vertretung der Klasse zu leisten) bleibt ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Dafür und an der Entwicklung dieser Kämpfe werden wir an unterschiedlichsten Stellen wirken. Erfolg und Misserfolg zukünftiger breiter linker Parteiprojekte und Anläufe für eine Arbeiter*innenpartei werden nicht zuletzt davon abhängen, wie stark marxistische Kräfte diese beeinflussen können.

Betriebe und Gewerkschaften

  1. 2023 sah einen Aufschwung gewerkschaftlicher Kämpfe in den Tarifrunden u.a. im Öffentlichen Dienst, bei der Post, der Bahn, im Handel, Flughäfen usw. Diese markierten eine wichtige Reaktion dieser Teilen der Arbeiter*innenklasse auf die Inflation. Von großer Bedeutung waren die hohen Forderungen in diesen Auseinandersetzungen, die weit über die Forderungen der IG Metall und IG BCE im letzten Jahr hinausgingen und den Aufschwung im Selbstbewusstsein und die gestiegene Kampfbereitschaft spiegelten.
  2. Die Gewerkschaftsführungen, vor allem von ver.di, schlug verbal vor und in den Warnstreiks kämpferische Töne an. Ver.di-Vertreter*innen deuteten nicht nur die Möglichkeit eines Erzwingungsstreiks in einem Bereich, sondern die Koordination von Streiks verschiedener Tarifrunden an. Es gab den „Mega-Streik“-Tag von ver.di und EVG. Es gab den gemeinsamen Streiktag von ver.di und Fridays For Future, der damit auch eine explizit politische Dimension bekam. Es gab insbesondere im Öffentlichen Dienst (ver.di) und bei der Bahn (EVG) mehr Einbeziehung von Kolleg*innen. In einigen Bezirken, wie in Berlin, gab es ein lokales, betriebsübergreifendes Streikdelegiertensystem im öffentlichen Dienst.
  3. Das hatte positive Wirkungen nicht nur auf die Gewerkschaften und Aktivist*innen, sondern auch auf ihr Bild in der Gesellschaft und die öffentliche Debatte. 140.000 Mitglieder hat allein ver.di in diesem Jahr gewonnen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten könnte der Abwärtstrend bei den Mitgliederzahlen einiger Gewerkschaften gestoppt werden. Das bestätigt zweierlei: Erstens, dass Gewerkschaften trotz ihrer oft bürokratischen Strukturen ein zentrales Mittel des Widerstands der Arbeiter*innenklasse bleiben. Zweitens, dass die Anziehungskraft umso größer ist, je mehr die Gewerkschaft und ihre Führung die Bereitschaft vermittelt, wirklich für die Interessen der Beschäftigten zu kämpfen und ihren Gebrauchswert unter Beweis stellt.
  4. Die Gewerkschaftsführungen waren jedoch letztendlich nicht bereit, den kämpferischen Worten Taten und Erzwingungsstreiks folgen zu lassen. Die Ergebnisse liefen dann für die meisten Beschäftigten auf Reallohnverluste hinaus. Das bestätigt unsere letzte die Einschätzung, dass es in Ermangelung einer organisierten Opposition bzw. linken Führung in den Gewerkschaften bei den diesjährigen Tarifrunden unwahrscheinlich ist, dass der Druck von unten allein für Erzwingungsstreiks ausreicht. Die Mehrheiten in den Bundestarifkommissionen und Führungen von ver.di, EVG oder IG Metall und IG BCE stehen für einen sozialpartnerschaftlichen Kurs, der letztlich auf Verzicht der Mobilisierung der Kampfkraft der Beschäftigten hinausläuft.
  5. Doch der Ausgang der Tarifrunden rief auch Ablehnung in Teilen der Mitgliedschaft hervor und zeigte sich in polarisierten Ergebnissen in der Urabstimmung bei der Deutschen Post und in der Mitgliederbefragung im Öffentlichen Dienst über die Annahme der Verhandlungsergebnisse und in Austritten. Es gibt eine kleine und noch kaum vernetzte bzw. organisierte, aber wachsende Schicht kämpferischer und der Führung kritisch gegenüberstehender Aktivist*innen in manchen Gewerkschaften. Das gilt vor allem für ver.di, aber auch die EVG. Die Tarifrunden in diesem Jahr waren auch Ausdruck dieser Entwicklungen.
  6. Diese Entwicklung ist nicht ohne Widersprüche. Auf dem ver.di-Bundeskongress sahen wir einerseits den Erfolg der Führung jahrzehntelange, friedenspolitische Positionen zu verwässern. Das ist Teil des Versuchs der Herrschenden, die Gewerkschaften in „die Zeitenwende“ und einen zukünftig offensiver auftretenden deutschen Imperialismus einzubinden. Gleichzeitig war das der polarisierteste ver.di-Bundeskongress seit vielen Jahren und machte eine bedeutende Minderheit der Delegierten ihren Unmut zum Beispiel über die Nähe zur Regierung oder tarifpolitische Fragen deutlich.
  7. Auch in der IG Metall, bei der erst wieder im Oktober 2024 eine neue Tarifrunde der größten Branche Metall und Elektro ansteht, regt sich die Basis. Die Forderung nach einer Absenkung der Arbeitszeit auf 32 Stunden bzw. 4 Tage pro Woche bei vollem Lohnausgleich verstetigt sich. Ohne Massendruck von unten wird die sozialpartnerschaftlich ausgerichtete Führung aber nicht gewillt sein, diese mit Erzwingungsstreiks durchzusetzen. Angesichts der anhaltenden Inflation darf Arbeitszeitverkürzung in einer ohnehin kriselnden Branche nicht durch Reallohnverluste erkauft werden. Auch in der IG Metall gab es Auseinandersetzungen um das Aufweichen des friedenspolitischen Programms, die mit Kompromissformulierungen endete, welche Interpretationsspielraum lassen (Waffenexporte seien zum Beispiel „restriktiv und transparent zu handhaben“) Die Aktienrente, das sogenannte Sozialpartnermodell, für das sich die Führung mit den Arbeitgebern stark gemacht und mit diesen ausgearbeitet hatte zur Aufnahme in Tarifverträgen, wurde mit Zweidrittelmehrheit deutlich abgelehnt.
  8. Das Karlsruher Urteil, die drohenden Kürzungen und die Debatte über die Schuldenbremse machen eine Antwort der Gewerkschaften nötig. Gewerkschaften, Die Linke, Sozialverbände und andere soziale Bewegungen dürfen aber nicht darauf warten, bis die Regierenden die Axt schwingen, sondern müssen sofort in Aktion treten und den Herrschenden ein klares Signal senden: gegen jeden Versuch bei sozialen und Arbeiter*innenrechten zu kürzen, wird es massiven Widerstand von Millionen geben!
  9. Die Auseinandersetzungen um Großstadtzulagen und Altersteilzeit z.B. in NRW und Stuttgart zeigen, dass es trotz des restriktiven Streikrechts Möglichkeiten für Gewerkschaften gibt, Forderungen aufzustellen, zu denen es zur Zeit keine tarifvertragliche Regelung und daher keine Friedenspflicht gibt und zu ihnen Arbeitskampfmaßnahmen einzuleiten. Bei zunehmendem innergewerkschaftlichem Druck angesichts sinkender Reallöhne kann das wachsende Bedeutung erlangen.
  10. Die verschiedenen Konflikte, die sich innerhalb der Gewerkschaften an tarifpolitischen aber auch politischen Fragen entwickelt haben, sind eine wichtige, wenn auch noch nicht so weit fortgeschrittene Entwicklung. Sie sind aber auch Ausdruck des Potenzials, dass sich aus den Gewerkschaften Ansätze für eine neue politische Kraft der arbeitenden Klasse entwickeln können. Mit dem Niedergang der LINKEN und der schwindenden Wahlunterstützung der SPD wird sich die Frage einer politischen Alternative für Arbeiter*innen früher oder später konkret stellen.

1TU Senan: „Was ist die Ursache von Inflation?“ – https://solidaritaet.info/2023/09/was-ist-die-ursache-von-inflation/

2Hannah Sell: „Das Ende des Goldenen Zeitalters“ https://solidaritaet.info/2023/09/das-ende-des-goldenen-zeitalters/

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