Europa – Kriege, Klimawandel, ökonomische Krise und Klassenpolarisierung

Resolution des Internationalen Vorstands des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) vom Januar 2024

1. Europa und innerhalb Europas die Europäische Union werden von Ereignissen und Entwicklungen erschüttert, die in einem direkten Zusammenhang zu den globalen Entwicklungen stehen, die in der Resolution zur Weltlage ausgeführt werden: Krisenentwicklungen der Weltwirtschaft, die Kriege in der Ukraine, dem Nahen Osten und anderswo, eine massive Verschiebung der globalen Kräfteverhältnisse, Klimawandel, wachsende soziale und Klassenpolarisierung, Zunahme von Aufrüstung, Militarismus und Repression, Krise der bürgerlichen politischen Institutionen, Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte und ideologische und organisatorische Krise der meisten Kräfte der „neuen“ Linken bei gleichzeitiger deutlicher Zunahme von Klassenkämpfen und einer gewissen Wiederbelebung in Teilen der Gewerkschaften.

2. All diese Prozesse finden jedoch auf einem Kontinent statt, der ökonomisch und geopolitisch mehr und mehr zwischen den beiden wichtigsten Weltmächten USA und China zerrieben wird. Vor fünfzehn Jahren waren die Volkswirtschaften der EU und der USA ähnlich groß, heute ist die US-Volkswirtschaft um ein Drittel größer – und das hängt nicht nur mit dem Brexit zusammen. Die Kapitalistenklassen in Europa geraten ins Hintertreffen: alle sieben führenden Tech-Unternehmen kommen aus den USA, der Anteil der EU am Halbleitermarkt ist im letzten Vierteljahrhundert von 25 Prozent auf acht Prozent gefallen, die Autobauer stehen unter dem Druck der chinesischen Konkurrenz etc.

Inflation, Stagnation, Rezession

3. Insgesamt ist Europa von schwachem Wachstum, anhaltend hoher Inflation, niedriger Produktivitätssteigerung und niedrigen Investitionen geprägt. Natürlich sind hier nationale Unterschiede nicht unbedeutend. Aber es sind gerade die starken Ökonomien – Deutschland und Frankreich – die niedrige Wachstumsraten verzeichnen bzw. im Fall von Deutschland mit Stagnation und Rezession zu kämpfen haben. Es gibt auch wachsende Sorgen über die Schwäche der Banken in Europa, die zu Bankenkrisen und -zusammenbrüchen führen kann wie wir es 2023 in der Schweiz gesehen haben. Inflationsraten variieren zwischen acht Prozent in Ungarn und unter zwei Prozent in Belgien, Finland, Italien, Lettland und den Niederlanden. Insgesamt scheint die Inflation für den Moment ihren Höhepunkt überschritten zu haben (auch wenn sie in manchen Ländern wieder gestiegen ist), ist aber in den meisten Ländern weit von den zwei Prozent entfernt, die die Europäische Zentralbank als Zielmarke gesetzt hat. Über die letzten Jahre sind die Preise zum Beispiel in Deutschland um zwanzig Prozent gestiegen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass neue externe Schocks – wie die Einschränkung der Handelsroute über das Rote Meer durch die Angriffe der so genannten Huthi-Rebellen auf westliche Handelsschiffe – wieder zu einem Anstieg der Preise führen können.

4. Außerdem laufen in einigen Ländern nun Unterstützungsmaßnahmen, wie in Deutschland die Absenkung der Mehrwertsteuer auf bestimmte Produkte und Dienstleistungen oder die Subvention von Energiepreisen, aus und werden keine weiteren Einmalzahlungen an die ärmsten Teile der Arbeiter*innenklasse mehr ausgezahlt werden. Die „cost of living crisis“ bleibt damit ein zentrales Problem für die Arbeiter*innenklasse – 2022 sind die Reallöhne in der EU um vier Prozent gesunken – und damit auch für den Kapitalismus in Europa. Die unterschiedliche Höhe der Inflationsraten ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, wozu die Unterschiede in der Energieversorgung, aber auch unterschiedliche politische Entscheidungen der Regierungen gehören. Die Tatsache, dass mit Belgien ein Land, in dem es eine – wenn auch nicht ausreichende – gleitende Lohnskala gibt, eine besonders niedrige Preissteigerungsrate vorzuweisen hat, straft die Propaganda der Lohn-Preis-Spirale Lügen.

  1. Die Inflation hat in vielen europäischen Ländern in den letzten zwei, drei Jahren den Klassenkampf angetrieben und zu einer Zunahme von Streiks – in einigen Ländern zu regelrechten Streikwellen – geführt. Das ist für uns als Marxist*innen die wichtigste Entwicklung, auch wenn diese Streiks bisher kaum einen Ausdruck auf der politischen Ebene gefunden haben und stattdessen in vielen Ländern rechtspopulistische Kräfte ihre Unterstützung in Umfragen und bei Wahlen ausbauen konnten.
  2. Trotzdem hat die Streikbeteiligung hunderttausender Arbeiter*innen und deren oftmals erstmalige Organisierung oder Aktivierung in einer Gewerkschaft das Bewusstsein von Teilen der Klasse mit geprägt und wird eine nachhaltige Wirkung haben.
  3. In der nächsten Phase wird es verstärkt zu Kürzungen und Angriffen auf die Rechte der Arbeiter*innenklasse kommen, wie wir es im letzten Jahr schon mit den Anti-Streik-Gesetzen im Vereinigten Königreich und der Rentenreform in Frankreich gesehen haben. Hinzu kommt der zunehmende Abbau demokratischer Rechte, Ausweitung staatlicher Befugnisse und Zunahme von staatlicher Repression. All das wird zusätzlich zum Kampf um Löhne und Arbeitszeiten den Klassenkampf voran treiben können.

Instabilität

8. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten finden ihre Entsprechung in einer unvergleichlichen politischen Instabilität, die alle Länder des Kontinents erfasst. Britain, Scotland, Germany, France, Spain, Austria, the Netherlands, Poland, Serbia – die Liste der Staaten, in denen es Regierungskrisen, Neuwahlen oder sogar Regierungswechsel gegeben hat, ist lang und ließe sich noch erweitern. Stabilität ist zu einem Fremdwort in Europa geworden.

9. Dabei vollziehen sich Entwicklungen oftmals in einem atemberaubenden Tempo und gibt es plötzliche und scharfe Wendungen. In einer solch instabilen und durch die multiple Systemkrise geprägten Situation ist es unmöglich genaue Vorhersagen für Ereignisse zu treffen. Unsere Aufgabe ist es, die wichtigsten Trends und Entwicklungsrichtungen zu analysieren, die wahrscheinlichsten, ggf. aber auch unterschiedliche Entwicklungsoptionen herauszuarbeiten und uns auf diese vorzubereiten.

10. Der Krieg Israels gegen Gaza hat auch in Europa zu Debatten, Polarisierung und Protesten geführt und die Lage weiter destabilisiert. In einigen Ländern, wie Deutschland, Österreich, Frankreich und anderen haben sich die Regierungen nicht nur auf die Seite des Staates Israel gestellt, sondern auch jede Kritik an der israelischen Regierung und Kriegspolitik mit dem Label „antisemitisch“ versehen und den so genannten „Meinungskorridor“ in der öffentlichen Debatte deutlich eingeschränkt. Davon sind nicht zuletzt israel-kritische Juden betroffen, vor allem aber natürlich palästinensische, arabische und muslimische Teile der Bevölkerung. Es ist davon auszugehen, dass dies das Bewusstsein von diesen Schichten, vor allem der jungen Generation, nachhaltig verändert. Das bietet einerseits sozialistischen Kräften die Chance unter diesen Teilen der Arbeiter*innenklasse und der Jugend eine Basis aufzubauen, gleichzeitig aber auch die Gefahr, dass Kräfte des rechten politischen Islam wachsen werden und es in Zukunft wieder vermehrt zu Terroranschlägen in Europa kommen wird.

11. In mehr und mehr Ländern hat sich die Parteienlandschaft nachhaltig und qualitativ verändert, sind traditionelle Parteien der Sozialdemokratie und der Kapitalisten in Krisen geraten oder teilweise sogar (fast) von der Bildfläche verschwunden. Die französische Sozialistische Partei und die griechische PASOK gehören ebenso dazu, wie die italienischen Christdemokraten oder die französischen Republikaner. Die deutsche Sozialdemokratie ist in den letzten 25 Jahren von über vierzig Prozent auf unter zwanzig Prozent abgefallen. Länder, die in der Vergangenheit von wenigen Parteien dominiert waren, haben heute oftmals fünf, sechs oder mehr Parteien in den Parlamenten vertreten. In Deutschland fielen noch 1998 75 Prozent Prozent der Stimmen auf CDU/CSU und SPD und selbst 1998 noch über 81 Prozent, heute sind dies in den jüngsten Umfragen nur noch sechzig Prozent.

12. Nach dem Scheitern der Regierung Rutte in den Niederlanden im Juli 2023 gab es im Vorfeld der Neuwahlen im Dezember eine regelrechte Achterbahnfahrt in den Meinungsumfragen. Sowohl die erst vor kurzer Zeit gegründete Bauernpartei BBB als auch die neue konservativ-soziale Partei „Neuer Gesellschaftsvertrag“ von Peter Omtzigt waren geradezu kometenartig aufgestiegen und mussten dann bei den Wahlen wieder Federn lassen, während Geert Wilders Partei der Freiheit für viele überraschend als stärkste Kraft aus den Wahlen hervor ging.

13. In verschiedenen Ländern gestalten sich Regierungsbildungen schwierig und müssen Mehrparteien-Koalitionen oder Minderheitsregierungen gebildet werden, die allein aufgrund der unterschiedlichen Ausrichtungen der verschiedenen Parteien und deren unmittelbarer parteipolitischer Interessen instabil sind, was durch die allgemeine ökonomische und gesellschaftliche Instabilität verstärkt wird. Das gilt unter anderem für die Regierungen in Schweden, Spanien und auch für die so genannte Ampel-Koalition in Deutschland.

14. Deutschland ist wieder der „kranke Mann Europas“. Ökonomisch schwankt das Land zwischen Stagnation und Rezession. Eine Studie des Handelsblatt Research Institutes kam im September zu dem Schluss, dass „Nullwachstum die neue Normalität“ sein wird. Entsprechend ist die Bundesregierung unter dem sozialdemokratischen Kanzler Olaf Scholz in einem Zustand der Dauerkrise. Ihre Umfragewerte befinden sich auf einem historischen Tiefstand.

15. Hier schlagen auch die Differenzen innerhalb des Bürgertums über den besten Umgang mit der Krise durch – und das nicht nur innerhalb der Regierungskoalition. Es wird seit Monaten ein offener Konflikt über die Frage der Schuldenbremse ausgetragen, der durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November verschärft wurde, welches es verbietet, das die Regierung Schulden, die im Rahmen einer verfassungsmäßig ausgerufenen Notlage für bestimmte Projekte aufgenommen wurden, in andere Bereiche verschiebt. Das hat zu einer tiefen Haushaltskrise geführt und die Debatte über das Für und Wider der Schuldenbremse verschärft. Diese Debatte verläuft jedoch nicht nur zwischen den verschiedenen Parteien, sondern auch innerhalb von Parteien, einschließlich der regierenden SPD. Auch in der oppositionellen CDU gibt es dazu Meinungsverschiedenheiten, wie es dort ohnehin einen Flügelkampf zwischen denjenigen Kräften gibt, die den eher auf sozialen Ausgleich bemühten Kurs Angela Merkels fortsetzen wollen und den Kräften um den neuen Parteivorsitzenden Friedrich Merz, die für schärfere Kürzungen und Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse und eine gewisse rechtspopulistische Ausrichtung stehen.

  1. Aktuell ist in Meinungsumfragen die rechtspopulistische Alternative für Deutschland die Gewinnerin dieser Krisen und Instabilität. Sie ist in Umfragen zur zweitstärksten Kraft bundesweit und in den meisten ostdeutschen Bundesländern zur stärksten Kraft geworden und konnte erste Bürgermeisterposten in Ostdeutschland gewinnen.
  2. Doch im Januar gründet die ehemalige Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag, Sahra Wagenknecht, ihre neue „links-konservative“ Partei, die in einigen Meinungsumfragen auf Anhieb bis zu zwölf Prozent erreicht und über ein großes Wählerpotenzial verfügt. Diese Wagenknecht-Partei wird die Parteienlandschaft weiter durcheinander wirbeln. Hinzu kommt die Möglichkeit, dass sich die gemäßigter rechtspopulistischen Freien Wähler in mehreren Bundesländern etablieren können (bisher sind sie nur in Bayern Teil des Landesparlaments und der Landesregierung). Regierungsbildungen werden vor diesem Hintergrund immer schwieriger. Vor allem ist es möglich, dass in den drei ostdeutschen Bundesländern, wo es 2024 eine Landtagswahl geben wird, Regierungsbildungen ohne AfD einerseits oder Die Linke bzw. eine Wagenknecht-Partei andererseits unmöglich sein werden. Die Lage ist jedenfalls so krisenhaft und instabil, dass vorgezogene Neuwahlen auf Bundesebene im kommenden Jahr eine immer größere Möglichkeit werden, auch wenn sich Vertreter von Kapitalistenverbänden kürzlich dagegen ausgesprochen haben, weil sie eine noch größere Destabilisierung fürchten.

18. Das gilt auch für Österreich, wo die konservativ-grüne Regierung schwankt und vorgezogene Neuwahlen im Raum stehen. Hier drückt sich die Polarisierung deutlicher auch auf der parteipolitischen Ebene aus. Einerseits ist die rechtspopulistische FPÖ stärkste Kraft in Umfragen, andererseits hat die Kommunistische Partei (KPÖ) wichtige Erfolge in zwei Bundesländern erzielen können, wo sie mittlerweile in den Landesparlamenten vertreten ist, und hat erstmals seit Jahrzehnten die Chance ins nationale Parlament einzuziehen, während in der sozialdemokratischen SPÖ eine Linksverschiebung unter dem neuen Vorsitzenden Andreas Babler stattgefunden hat, der über zehntausend Neueintritte (bzw. in vielen Fällen Wieder-Eintritte) in die Partei mobilisieren konnte und der versucht, der Partei ein klassisch sozialdemokratisches Profil als Arbeitervertretung zu geben, die für eine deutliche Umverteilung von oben nach unten und Unterstützung von Streiks steht. Manche vergleichen das mit dem Corbyn-Phänomen in der britischen Labour-Partei, doch weder konnte Babler eine vergleichbare Wirkung in der Jugend und Teilen der Arbeiter*innenklasse entfalten wie Corbyn noch gehen seine programmatischen Vorschläge so weit wie die Corbyns gingen (die selbst ja im Rahmen eines begrenzten Reformismus stecken blieben).

19. In Spanien konnte sich die Regierung aus PSOE und dem neuen Links-Bündnis Sumar bei den vorgezogenen Neuwahlen behaupten, war aber auf die Unterstützung katalanischer Unabhängigkeitsparteien angewiesen. Das wiederum führte zu einer heftigen Gegenreaktion der rechten Opposition aus PP und Vox, die Massenmobilisierungen gegen die Amnestie für katalanische Unabhängigkeitsaktivisten und -politiker durchführten. Auch das ist Ausdruck der gesellschaftlichen Polarisierung in dieser Frage, wobei Teile derjenigen, die gegen die katalanische Unabhängigkeit mobilisiert werden, dies nicht aus spanischem Nationalismus, sondern auch aus Sorge vor den wirtschaftlichen und sozialen Folgen einer Abspaltung der verhältnismäßig entwickelteren und reicheren Region tun. Dass der von vielen erwartete Durchmarsch von PP und Vox bei den Parlamentswahlen nicht gelang war Folge einer Gegenreaktion gerade von Frauen und Jugendlichen gegen die reaktionäre Agenda von Vox, was die Wahlbeteiligung in die Höhe trieb. Das sollte nicht mit aktiver Unterstützung oder gar Begeisterung für die Sánchez-Diaz-Regierung verwechselt werden. Aber die Tatsache, dass diese Regierung einige etwas weitergehende Sozialmaßnahmen im Kampf gegen Inflation und Krise ergriffen hatte, kann eine Rolle dabei gespielt haben, dass ihre Unterstützung nicht noch weiter abgesunken ist.

20. Im Vereinigten Königreich sehen wir eine besondere Krise des britischen Kapitalismus und der Tories. Hier ist die Frage nicht, ob die Tory-Regierung abgewählt wird, sondern wann. 2023 konnte Sunak zwar – anders als seine Vorgänger Johnson und Tuss 2022 – im Amt bleiben, das ändert aber nichts daran, wie verhasst die Tory-Regierung in der Arbeiter*innenklasse und Teilen der Mittelschichten ist. Alle Versuche dem durch eine rechtspopulistische Propaganda und vor allem Anti-Migrations-Politik zu begegnen, sind gescheitert. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts ist es hier schwerer für kleinere Parteien überhaupt Fuß zu fassen und eine parlamentarische Vertretung zu finden. Aufgrund des Brexit können 2024 die Europawahlen dazu auch nicht mehr genutzt werden (wie es beim letzten Mal für UKIP eine Möglichkeit war). So ist ein Labour-Wahlsieg, möglicherweise mit einer absoluten Mehrheit der Sitze im Parlament, mehr als wahrscheinlich. Aber auch hier wird das nicht mit einer Begeisterung für Keir Starmes New Labour Mark II einher gehen, im Gegenteil wird ein großer Teil der Arbeiter*innenklasse und Jugend Labour mit der Faust in der Tasche wählen. Es ist auch möglich, dass unter einer Starmer-Regierung sich eine rechtspopulistische oder rechtsextreme Partei im Vereinigten Königreich entwickeln kann, möglicherweise aber nicht zwangsläufig aus den Tories heraus.

  1. In Frankreich müssen Macron und die Regierung immer häufiger zu bonapartistischen Maßnahmen greifen und das Parlament aushebeln, um Gesetze, wie die Rentenreform, überhaupt verabschieden zu können. Das Desaster bei der kürzlichen Auseinandersetzung um ein neues Migrationsgesetz ist Ausdruck der Zerrissenheit innerhalb des Bürgertums und der Tatsache, wie Rechtspopulisten daraus profitieren können. Nachdem es mit den Stimmen von Marine Le Pens Rassemblement National (RN) zuerst eine Mehrheit gegen den ursprünglichen Gesetzesentwurf Macrons gab und dann ein verschärftes Gesetz ebenfalls mit den Stimmen des RN angenommen wurde, hat das zum Rücktritt des Gesundheitsministers Aurélien Rousseau aus der Regierung geführt.
  2. Schon die niederländische Regierung Rutte war an einem Konflikt über ein verschärftes Einwanderungsgesetz zerbrochen. In Italien kann die rechte Meloni-Regierung ihr migrationsfeindliches Programm nicht vollständig umsetzen und musste einer Erhöhung der Zuzugsquote für Arbeitsmigranten zustimmen. Das ist Ausdruck davon, dass erstens ein Teil des Bürgertums sich der Gefahren bewusst ist, die ein Nachgeben gegenüber dem Rechtspopulismus für die Vergrößerung gesellschaftlicher Instabilität bedeutet und dass zweitens für viele westliche Länder aufgrund der demographischen Entwicklung und der Missstände im Ausbildungsbereich eine höhere Arbeitsmigration notwendig ist.

Aufstieg des Rechtspopulismus

  1. Die, vor allem auf der Wahlebene stattfindende, Stärkung rechtspopulistischer und zum Teil rechtsextremer Kräfte ist ein für die meisten europäischen Länder in der einen oder anderen Form bestehendes Phänomen. Dass dies kein geradliniger Prozess ist, konnten wir im letzten Jahr an der Wahlniederlage von PiS und Konfederacja in Polen und der Schwächung von Vox im spanischen Staat sehen. Insgesamt müssen wir aber feststellen, dass die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung sich auf der politischen Ebene zur Zeit stärker auf der rechten Seite ausdrückt, was auch bedeutet, dass Rückschläge für Kräfte wie PiS oder Vox vorübergehend sein können und diese wieder zurückkommen können.
  2. Das dürfen wir jedoch nicht mit einem gesellschaftlichen Rechtsruck bezogen auf das Bewusstsein in der Arbeiter*innenklasse und dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verwechseln. Diese sind sehr viel komplexer. In gewisser Hinsicht finden wir diese Polarisierung auch in den Köpfen von einzelnen Arbeiter*innen*innen und Jugendlichen, wenn diese einerseits in bestimmten gesellschaftlichen Fragen wie Migration oder Klimaschutz und kulturellen Fragen den Rechtspopulisten auf den Leim gehen bzw. rückschrittliche Vorurteile und Ansichten vertreten und gleichzeitig linke sozial- und wirtschaftspolitische Forderungen unterstützen und ein, oftmals rudimentäres, Klassenbewusstsein entwickeln. Dieser Umstand macht es so entscheidend, dass sozialistische Kräfte diese Schichten der Arbeiter*innenklasse nicht als Rassisten abschreiben und nicht in die Falle der Identitätspolitik tappen, sondern sie mit einem sozialistischen Übergangsprogramm und einer internationalistischen Klassenpolitik zu erreichen versuchen. Dass das möglich ist, zeigte sich darin, dass ein Teil der Trump-Wähler*innen Bernie Sanders gewählt hätte, wenn dieser unabhängig kandidiert hätte und dass Labour unter Corbyn einen Teil der UKIP-Wähler gewinnen konnte.

25. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es neben der Stärkung der Rechtspopulisten auch einen weiteren tendenziell Anstieg der Zahl an Nichtwählern gibt. Diese Nichtwähler sahen und sehen offenbar weder in den so genannten etablierten bürgerlichen Parteien noch in den linken Parteien eine Vertretung ihrer Interessen – nehmen aber auch das Angebot von ganz Rechts nicht wahr. Studien haben in der Vergangenheit gezeigt, dass sich unter Nichtwählern überproportional viele Menschen als links verstehen. Diese zu erreichen, müsste eine vordergründige Aufgabe für eine linke Partei sein.

26. Es gibt nicht nur den Trend der Stärkung von Rechtspopulisten bei Wahlen und in Meinungsumfragen, sondern auch eine zunehmende Einbeziehung dieser Kräfte in Regierungen auf unterschiedlicher Ebene. Die so genannte Brandmauer traditionell-bürgerlicher Parteien in Richtung der Rechtspopulisten bröckelt mehr und mehr bzw. ist in einigen Ländern schon eingerissen. Gleichzeitig übernehmen manche bürgerliche, aber auch sozialdemokratische Parteien und Politiker Versatzstücke rechtspopulistischer Rhetorik und Politik in der Hoffnung den weiteren Aufstieg der rechten Kräfte so zu stoppen.

27. In Ungarn und Italien stellen rechtspopulistische Parteien die Regierungen. In der Slowakei gewann der Rechtspopulist Figo kürzlich die Parlamentswahlen. In anderen Ländern sind sie an Regierungen direkt oder indirekt beteiligt: in Schweden, der Schweiz und Finnland auf nationaler Ebene, in Österreich und Spanien auf regionaler Ebene. In Frankreich droht bei den nächsten Präsidentschaftswahlen ein Sieg Marine Le Pens, in Österreich ist die FPÖ mit Abstand stärkste Kraft in Meinungsumfragen und es droht erstmals eine FPÖ-ÖVP-Koalition mit „freiheitlicher“ Kanzlerschaft, in Ostdeutschland ist die AfD stärkste Kraft und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie in einigen Bundesländern nur durch (Fast-)Allparteienkoalitionen von den Regierungsbänken fern gehalten werden kann. Ähnliches gilt für Belgien, wo der Vlaams Belang, der ja nur den flämischen Teil der Bevölkerung zu vertreten vorgibt, auf landesweiter Ebene mit 22 Prozent stärkte Kraft in Umfragen ist.

28. Teile des Bürgertums sehen keine Alternative dazu, rechtspopulistische Parteien in Regierungskoalitionen aufzunehmen und hoffen auch, diese dadurch zu bändigen. Es ist richtig, dass diese Parteien an der Regierung nicht einfach ihre Programmatik umsetzen können. Gleichzeitig verwandelt eine Regierungsbeteiligung sie aber nicht in „normale“ bürgerliche Parteien, sondern sie bleiben auch aus Sicht der Kapitalist*innen eine Quelle der Instabilität und Unberechenbarkeit. Die österreichische FPÖ ist dafür das beste Beispiel. Aber trotzdem zeigt sich auch bei rechtspopulistischen Regierungsbeteiligungen, dass an der Regierung zu sein nicht bedeutet auch an der Macht zu sein. Die italienische Regierungschefin und Post-Faschistin Meloni musste kürzlich nicht nur höhere Einwanderungszahlen akzeptieren, weil dies aus Sicht der italienischen Kapitalist*innen für den Arbeitsmarkt notwendig war, sondern sie musste auch ihre Haltung zur EU an die Haltung der dominierenden Teile des italienischen Bürgertums anpassen und ihre traditionell pro-russischen Koalitionspartner konnten eine Fortsetzung der Unterstützung der Ukraine durch Italien nicht verhindern. Gleichzeitig hat die Meloni-Regierung aber massive Angriffe gegen Geflüchtete und LGBTQ+Rechte zu verantworten.

29. Der Aufstieg rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien hatte nach 1989-91 drei wesentliche Grundlagen: die wirtschaftlichen und sozialen Krisen (also die Nichteinhaltung der kapitalistischen Versprechen von „blühenden Landschaften“ und dem „Ende der Geschichte“) und die damit einhergehende wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung, den staatlichen Rassismus und den Rechtsruck bzw. die Untätigkeit in der Führung der organisierten Arbeiterbewegung und Linken.

30. In den letzten Jahren konnten die Rechtsparteien jedoch auch weitere politische Faktoren und Themen ausnutzen. Entscheidend bleibt die Enttäuschung und Verbitterung mit den etablierten Parteien. Oftmals ist die wesentliche Motivation für eine Stimmabgabe an Rechtspopulisten, den Etablierten eins auszuwischen. Das geht einher mit sozialen Versprechungen, die manche der rechtspopulistischen Parteien machen. Das war ein Geheimnis des Erfolgs der PiS in Polen und viele, vor allem junge, Wähler von Geert Wilders in den Niederlanden gaben als Grund für ihre Stimmabgabe sozial- und wohnungspolitische Positionen der Partei der Freiheit an.

31. Auch die Frage der Migration hat in den letzten Monaten wieder eine zentralere Bedeutung erlangt und wird weiterhin eine entscheidende Rolle für politische Entwicklungen spielen angesichts der Tatsache, dass Kriege, Armut, Naturkatastrophen fortgesetzt Millionen dazu zwingen werden, ihre Heimat auf der Suche nach einer besseren Zukunft zu verlassen. Vor allem angesichts der katastrophalen infrastrukturellen Lage löst ein Anstieg der Einwanderungszahlen bei vielen soziale Ängste aus in Bezug auf die Versorgung mit Wohnraum, der Situation im Bildungs- und Gesundheitswesen, Kinderbetreuung etc.

32, Ein neuer Faktor ist die Auseinandersetzung um Klimaschutzmaßnahmen. Der Übergang zu einem „grünen Kapitalismus“ soll, geht es nach den Regierenden, von der Masse der abhängig Beschäftigten bezahlt werden. Debatten, wie die um das so genannte Heizungsgesetz in Deutschland haben in großen Teilen der Arbeiter*innenklasse und der Mittelschichten eine tiefe Verunsicherung ausgelöst. Bei einem Teil von diesen können Rechtspopulisten mit ihrer Leugnung bzw. dem Herunterspielen der Gefahren des Klimawandels deshalb ein offenes Ohr finden.

33. Auch der Ukraine-Krieg ist in manchen Ländern ein Faktor mit dem die Rechtspopulisten punkten können. Das wachsende Unbehagen mit der endlosen militärischen Unterstützung für die Selenskyj-Regierung bietet den Rechtspopulisten in manchen Ländern die Chance, sich als Antikriegskraft zu präsentieren und dem Slogan „Das ist nicht unser Krieg“ einen nationalistischen Inhalt zu geben.

34. Außerdem setzten rechtspopulistische Kräfte verstärkt auf antifeministische und Anti-LGBTQ+-Propaganda und befeuern einen Kulturkrieg und können dabei ein Gefühl in Teilen der ärmsten Schichten der Arbeiter*innenklasse ausnutzen, dass liberale und linksliberale Kräfte sich mehr um zum Beispiel politisch korrekte Sprache kümmern als um ihre drängenden Nöte.

35. All diese Themen können von den Rechten genutzt werden, weil die Linke und die Arbeiterbewegung keine starke, überzeugende und einheitliche Klassenposition zu diesen Fragen formuliert und es nicht gelingt, die gemeinsamen Interessen von Lohnabhängigen unabhängig von Nationalität, religiöser Zugehörigkeit, Geschlecht, sexueller Orientierung etc. zu formulieren und dafür zu mobilisieren. Identitätspolitische Positionen in Teilen der Linken verstärken dabei die Wahrnehmung, dass das Trennende und nicht das Gemeinsame in den Mittelpunkt gerückt wird.

EU in der Krise

  1. Die EU ist ein Bündnis kapitalistischer Staaten zur Durchsetzung ihrer ökonomischen Interessen innerhalb der globalen Blockkonkurrenz. Wie wir immer erklärt haben, gibt es widerstreitende Dynamiken innerhalb der EU – solche die in Richtung Integration wirken und solche, die die nationalen Interessenkonflikte zwischen den EU-Mitgliedstaaten verstärken. Wie wir ebenfalls immer erklärt haben, ist die Entwicklung der EU hin zu einem einheitlichen europäischen Staat ausgeschlossen, weil der Kapitalismus nicht in der Lage ist, den Nationalstaat zu überwinden. Gleichwohl ist die europäische Integration zeitweilig weiter gegangen, als wir es erwartet hatten. Die Euro-Krise nach der großen Rezession von 2008/09, der Brexit und die Covid-Pandemie haben die divergierenden Tendenzen innerhalb der EU gezeigt.
  2. Die schwache ökonomische Lage der EU und ihrer Mitgliedstaaten, die hohe Staatsverschuldung einiger Mitgliedstaaten (vor allem Italien) könnten im Falle zukünftiger Krisen zu einer neuen Euro-Krise führen und den Fortbestand des Euro oder auch der EU in der jetzigen Form in Frage stellen. Das gilt auch wenn bzw. vielleicht auch gerade weil der Krieg um die Ukraine den Druck zur Zusammenarbeit auf die EU-Staaten verstärkt hat und die EU zur Zeit vordergründig stabiler und gestärkter wirkt, auch weil in Meinungsumfragen die Ablehnung der EU in vielen Ländern zurück gegangen ist. Das hat auch etwas mit der Wahrnehmung des Brexit zu tun, der die Unterstützung für einen Austritt von Nationalstaaten aus der EU erst einmal hat zurück gehen lassen, was übrigens auch die Haltung und Propaganda der meisten rechtspopulistischen Parteien betrifft, die ihre Anti-EU-Haltung weniger deutlich artikulieren oder sogar programmatische Anpassungen vorgenommen haben. Das kann sich in Zukunft jedoch ändern, nicht zuletzt wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass es dem Vereinigten Königreich trotz Brexit ökonomisch nicht qualitativ schlechter geht als zum Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. Vor allem wird sie sich wahrscheinlich ändern, wenn sich die Krise des Kapitalismus auf dem Kontinent vertieft, was zu Versuchen der Kapitalist*innenenklassen der dominanten EU-Mächte führt, die Arbeiter*innenklasse der schwächeren Nationen für die Krise zahlen zu lassen, verbunden mit einer Propaganda, die die schwächeren Nationen für das Leiden der Arbeiter*innenklasse in den dominanten Ländern verantwortlich macht. Dies könnte rechtspopulistische Regierungen wie in Italien, Ungarn oder jetzt der Slowakei dazu bringen, zu einer eher EU-feindlichen Politik zurückzukehren.

38. Es hat eine Veränderung der EU-Politik gegeben, die verstärkt durch geopolitische Interessen dominiert wird, was sich in der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau ausdrückt, die auf dem EU-Gipfel im Dezember 2023 beschlossen wurden, aber auch in der Vergabe des EU-Kandidatenstatus an Albanien, Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina Ende 2022. Hierbei geht es darum, einerseits hinsichtlich der Ukraine das Gesicht zu wahren und ein Kippen der Stimmung in der Ukraine selbst zu verhindern und hinsichtlich der Westbalkanstaaten eine engere Anbindung zu erreichen, um dem wachsenden Einfluss Russlands und vor allem Chinas in der Region etwas entgegenzusetzen.

39. Deutschland und Frankreich nutzen die Erweiterungsdebatte auch, um Reformen innerhalb der EU durchzusetzen, vor allem um zu einer Politik der Mehrheitsentscheidungen zu kommen und das Einstimmigkeitsprinzip abzuschaffen – dieses wurde im Falle der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine schon nur dadurch erreicht, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán den Raum während der entscheidenden Abstimmung für eine „Kaffeepause“ verließ. Die Auszahlung weiterer fünfzig Milliarden Hilfszahlungen an die Ukraine verhinderte er jedoch. Trotz der derzeitigen “Einigkeit” der meisten EU-Staaten gibt es Spannungen zwischen ihnen, nicht nur in unmittelbaren, sondern auch in längerfristigen Fragen. Seit dem Brexit gibt es eine Neugewichtung der Machtverhältnisse innerhalb der EU. Deutschland drängt auf eine noch dominantere Position, auch in militärischer Hinsicht. Dies kann zu einer Gegenreaktion Frankreichs oder anderer imperialistischer Staaten führen und könnte zu neuen Bündnissen zwischen anderen europäischen Staaten führen und sie sogar dazu bringen, die Zusammenarbeit und Bündnisse mit China und Russland zu suchen.

40. Eine tatsächliche Erweiterung der EU um die Ukraine, Moldau oder die Westbalkanstaaten ist aber für die absehbare Zeit sehr unwahrscheinlich. Insbesondere ein Beitritt der Ukraine würde die EU weitgehend verändern und die finanziellen Belastungen für die anderen Mitgliedstaaten enorm erhöhen. Das Institut der Deutschen Wirtschaft hat die Kosten einer Mitgliedschaft der Ukraine für den Zeitraum von 2021 bis 2027 auf 130 bis 190 Milliarden Euro beziffert, was eine Mehrbelastung von 15 Prozent für die EU ausmachen würde. Die Ukraine würde über circa ein Viertel des Farmlandes in der EU ausmachen (41 Millionen Hektar von 198 Millionen Hektar) und dementsprechend würden sich die Agrarsubventionen für andere Mitgliedstaaten verringern, sollten die Gesamtsubventionen nicht massiv erhöht werden, was Deutschland und Frankreich sicher verhindern würden. Die Staaten des westlichen Balkans werden wahrscheinlich auch deshalb nicht Mitglied der EU werden, weil sie sich in eine Richtung größerer Instabilität entwickeln und die nationalen Spannungen in Bosnien-Herzegowina und Kosova zunehmen.

41. Statt mit einer Aufnahme der Ukraine in die EU ist mit einer Zunahme der Spannungen innerhalb der EU in der Frage der konkreten Unterstützung der Ukraine zu rechnen. Schon jetzt sprechen sich Viktor Orbán und der slowakische Ministerpräsident Figo gegen eine Fortsetzung der finanziellen Unterstützung für die Ukraine aus. Sollte Geert Wilders in den Niederlanden eine Regierung bilden, käme der drittgrößte Nettozahler der EU wahrscheinlich dazu.

42, Als Sozialist*innen sind wir Gegner der kapitalistischen EU und sprechen uns gegen den Beitritt weiterer Staaten aus. Dies vor allem aus dem Blickwinkel der Arbeiter*innenklasse der betreffenden Länder, die durch einen EU-Beitritt nichts zu gewinnen haben und weil wir eine Stärkung dieses imperialistischen Blocks nicht unterstützen können. Bezüglich der Frage einer Aufnahme der Ukraine kommt hinzu, dass eine EU-Mitgliedschaft zu einer Unterstützungsverpflichtung im Kriegsfall führen würde, die laut EU-Vertrag „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ beinhalten soll, was auch eine militärische Unterstützung nicht ausschließen würde.

43. Da die Versprechen der EU nicht gehalten werden, wird dies früher oder später in den betreffenden Ländern, die auf eine Mitgliedschaft warten, zu Gegenreaktionen führen und eine Hinwendung in Richtung Russland und China in Teilen der Bevölkerung, aber auch der herrschenden Klassen auslösen (wie wir es in Zentral- und Westafrika beobachten können), aber angesichts von fortgesetzten Wirtschaftskrisen auch nationale Spannungen, zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien oder zwischen den Minderheiten in der Ukraine und der Zentralregierung verschärfen.

Aufschwung der Klassenkämpfe

44. Das letzte Jahr sah in vielen europäischen Ländern einen deutlichen Aufschwung von Klassenkämpfen, vor allem in Form von Streiks um Lohnerhöhungen. Dieser wurde angeheizt durch die hohen Preissteigerungen, die Arbeiter*innen dazu gezwungen haben, für die Verteidigung ihrer Reallöhne zu kämpfen. Dies wurde aber begünstigt durch die Erfahrungen, die Teile der Klasse in der Pandemie gemacht haben, als deutlich wurde, dass sie die Gesellschaft zusammen halten und „systemrelevant“ sind. Das hat einerseits das Selbstbewusstsein gesteigert und gleichzeitig Enttäuschung und Empörung ausgelöst, als dem Beifall und den anerkennenden Worten von Politikern und Regierungen nichts gefolgt ist. Die Reallohnverluste, die es in vielen Ländern und für viele Beschäftigtengruppen in den Jahren zuvor schon gegeben hatte, bedeuteten auch, dass der Spielraum und die Bereitschaft zum Verzicht gering war und ist, während die in vielen Ländern relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen ebenfalls ein Faktor sind, der das Selbstbewusstsein von Beschäftigten stärkt.

45. In der Regel kam es zu Streiks in offiziellen Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern bzw. öffentlichen Arbeitgebern. Inoffizielle Streiks, wilde Streiks von unten, Streiks gegen Betriebsschließungen und politische Streiks im Sinne von Kämpfen gegen Regierungsmaßnahmen waren die Ausnahme. Generalstreiks gab es nur in Norwegen und einen von den italienischen Basisgewerkschaften ausgerufenen Ausstand im Herbst 2023, sowie den „feministischen Generalstreik“ im Baskenland, der eine große Unterstützung auch unter männlichen Arbeiter*innen*innen fand, weil die Forderungen nach Verbesserung der Situation in der Care-Arbeit nachvollziehbar im Interesse der gesamten Arbeiter*innenklasse waren. Trotzdem markieren die letzten zwei Jahre in Europa einen Wendepunkt für den Klassenkampf. Das gilt vor allem für das Vereinigte Königreich, aber auch für Deutschland.

46. Im Vereinigten Königreich hat die Zahl der Streiks und der an Streiks beteiligten Arbeiter*innen den höchsten Stand seit 34 Jahren erreicht. Eine neue Generation von Arbeiter*innen*innen ist erstmals in Aktion getreten oder hat sich in der Gewerkschaft organisiert. Eine bedeutende Zahl hat auch begonnen, in gewerkschaftlichen Strukturen aktiv zu werden, wobei sich noch zeigen muss, ob bzw. für wie viele dies von Dauer sein wird. Gleichzeitig zeigt sich im Verlauf der Streiks die Unerfahrenheit und der Verlust von Kampftraditionen. Auch wenn die Arbeitskämpfe oftmals über einen langen Zeitraum anhielten, waren es in der Regel keine unbefristeten Streiks, sondern auf einen oder wenige Tage, zum Teil wiederkehrend, begrenzte Streiks, die mehr den Charakter von Proteststreiks als von Durchsetzungsstreiks hatten. Auch Streikposten haben heute in der Regel nicht mehr den Charakter, Kollegen vom Streik zu überzeugen oder Streikbrecher am Betreten des Arbeitsplatzes zu hindern, sondern sind eher Protestdemonstrationen und wurden in einen Arbeitskämpfen nicht einmal in allen Betrieben organisiert. Doch die verlorenen Traditionen werden in den Kämpfen der Zukunft zurück erobert werden, nicht zuletzt, wenn Streikende verstärkt mit Repression konfrontiert werden, wie das im letzten Jahr schon bei Royal Mail der Fall war, wo 400 Gewerkschaftsvertreter diszipliniert wurden (wobei 93 Prozent der Entlassenen wieder eingestellt wurden). Auch der Kampf gegen Anti-Streik-Gesetzte, wie sie im Vereinigten Königreich durchgesetzt wurden und in anderen Ländern diskutiert werden, kann einen radikalisierenden und politisierenden Effekt haben und Kämpfe verallgemeinern.

47. In Frankreich war die Streikbewegung gegen Macrons Rentenreform größer als vorhergegangene Streikbewegungen, aber gleichzeitig politisch und hinsichtlich der Selbstorganisation auf einem schwächeren Niveau. Die Gewerkschaftsführung zeigte sich unfähig, die Bewegung auszuweiten und Forderungen aufzuwerfen, die über die Frage des Renteneintrittsalters hätten hinausgehen müssen, um breitere Schichten der Arbeiter*innenklasse zu mobilisieren. Das führte dazu, dass die Bewegung auslief und Macron seine Rentengesetzgebung durchsetzen konnte. Das war zweifellos eine Niederlage, jedoch in den Augen der Arbeiter*innenklasse keine „krachende Niederlage“, die einen nachhaltigen demoralisierenden Effekt hätte. In Frankreich finden weiterhin Streiks auf betrieblicher Ebene, wie in anderen Ländern auch, statt, die jedoch vereinzelt und isoliert voneinander sind.

48. Die Frage der Koordinierung von Kämpfen spielt eine zentrale Rolle und war einer unserer wichtigsten Vorschläge für die Streikbewegungen. Das kann unterschiedliche konkrete Formen annehmen. Der Vorschlag nach einem eintägigen Generalstreik liegt in Streikbewegungen, wie der britischen, in der Luft, kann von uns aber nicht leichtfertig aufgeworfen werden. Er muss mit dem Rhythmus der Kämpfe und dem Bewusstsein der Klasse korrespondieren. In Britannien haben unsere Genoss*innen die Forderung zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgeworfen, aber auch wieder fallen lassen, als sich die Bedingungen wieder geändert haben. In Deutschland, wo die Streiks im letzten Jahr wichtige Bereiche des öffentlichen Dienstes erfassten, wäre die Forderung nach einem die Beschäftigten der Privatindustrie einbeziehenden eintägigen Generalstreik fehl am Platze gewesen, auch weil der institutionalisierte Rahmen der Tarifverhandlungen nicht gesprengt werden konnte. Hier haben wir die Frage von Koordination der zeitgleich laufenden Tarifbewegungen, gemeinsame Streiktage und -demonstrationen aufgeworfen. Signifikanterweise kam es erstmals zu einem, „Megastreik“ genannten, gemeinsamen Streiktag der Beschäftigten der Deutschen Bahn und des öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen und zu einem gemeinsamen Streik- und Aktionstag von Fridays For Future und den Nahverkehrsbeschäftigten des öffentlichen Dienstes.

49. Gesetzliche Rahmenbedingungen, Traditionen, Struktur der Gewerkschaften und deren Führung – all das sind Faktoren, die in den unterschiedlichen Ländern unterschiedlich sind. In Britannien sind die gesetzlichen Hürden, um überhaupt in den Streik treten zu können höher. In Deutschland haben sich die Gewerkschaften in ihren Satzungen teils selbst gewisse Hürden gegeben, die von der Gewerkschaftsbürokratie zum Abbremsen von Kämpfen genutzt werden können, wie die Notwendigkeit einer Zustimmung von 75 Prozent in Urabstimmungen zu unbefristeten Streiks (während so genannte Warnstreiks hier ohne Abstimmung von der Gewerkschaft ausgerufenen werden können).

50. Führung macht einen entscheidenden Unterschied. Da wo linkere Teile der Bürokratie eine Gewerkschaft führen, wie bei der britischen UNITE hat das – trotz ihrer Beschränkungen – Auswirkungen auf die Kämpfe, die geführt werden und oftmals bedeutet das, dass überhaupt gekämpft wird, weil die Führung ihre Aufgabe nicht vor allem in der Verhinderung eines Kampfes sieht. Das gilt aber weiterhin für die meisten Gewerkschaftsführungen international: sie sind unterm Strich Agenten der Bourgeoisie in den Reihen der Arbeiterbewegung und nutzen ihre Position, um Kämpfe zu verhindern oder frühzeitig zu beenden. In Deutschland war die Gewerkschaftsführung eine „Konzertierte Aktion“ mit Regierung und Arbeitgebern eingegangen, um Maßnahmen gegen Inflation und Krise sozialpartnerschaftlich auszuverhandeln. Die DGB-Vorsitzende Fahimi kritisierte die Regierung sogar dafür, dass sie Unternehmen, die Dividenden ausschütteten keine Subventionen zahlen will und sprach davon, dass dies „keine Zeiten für Kapitalismus-Kritik“ seien und die IG Metall organisierte eine Demonstration von 10.000 Mitgliedern für einen staatlich subventionierten Industriestrompreis. Gleichzeitig hat die Bürokratie eine Doppelfunktion: sowohl den kapitalistischen Staat und die kapitalistischen Verhältnisse verteidigen, als auch in deren Rahmen die ökonomischen Interessen der Lohnabhängigen zur Geltung zu bringen. Deshalb muss die Gewerkschaftsbürokratie dem Druck beider Hauptklassen nachgeben und kann und wird immer wieder durch ihre Mitgliedschaft – die gleichzeitig die Basis ihrer sozialen Stellung und Privilegien ist – zu Kämpfen gezwungen.

51. Verallgemeinert kann man sagen, dass es im letzten Jahr einen Aufschwung von Kämpfen und eine Wiederbelebung von Gewerkschaften gegeben hat, die Bürokratie aber nicht von der Basis gezwungen wurde, die Kontrolle aus der Hand zu geben. Hinsichtlich der erzielten Ergebnisse bedeutet das, dass die von den Führungen ausgehandelten Kompromisse in der Regel – mit einigen Ausnahmen im Fall der Royal College of Nurses (RCN) und anderen im Vereinigten Königreich – auf mehrheitliche Zustimmung unter den Beschäftigten gestoßen sind (da wo sie überhaupt abgestimmt wurden). Allerdings gab es unter den Beschäftigten bei der Post, der Deutschen Bahn und des öffentlichen Dienstes in Deutschland großen Unmut mit den Tarifergebnissen und verhältnismäßig viele Gegenstimmen von bis zuüber 40 Prozent, die die Unzufriedenheit der Basis zum Ausdruck brachten.

  1. Durch unsere Initiativen während der Streiks und gegen die Annahme der schlechten Kompromisse und durch das sehr erfolgreiche Eingreifen von zwei Sol-Mitgliedern beim Bundeskongress der Gewerkschaft ver.di, konnten wir die Zusammenarbeit mit einer größeren Schicht von kritischen Aktivisten beginnen und diese in dem von uns vor Jahren gegründeten Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di zusammenführen. In Britannien und Nordirland spielen CWI-Genoss*innen eine wichtige Rolle in einer Reihe von Gewerkschaften. Wir konnten im letzten Jahr einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass es in NIPSA zu einer neuen linken Vorstandsmehrheit gekommen ist und unsere Genossin Marion Lloyd hat nur sehr knapp die Wahl zur Generalsekretärin der PCS verloren.
  2. Der Aufbau von innergewerkschaftlichen Oppositionsgruppen ist entscheidender Bestandteil unserer Gewerkschaftspolitik, auch wenn wir das aufgrund unserer gegenwärtigen Größe und der oftmals sehr bürokratischen Strukturen noch nicht überall umsetzen können. Wir müssen aber auch darauf vorbereitet sein, dass Arbeiter*innen neue Organisationsformen entwickeln, wie Aktionskomitees oder räteähnliche Strukturen oder kleinen, manchmal anarchistischen oder linkstradikalen Gewerkschaftsorganisationen beitreten bzw. versuchen berufsständische Organisationen in ihrem Kampfinteresse instandzusetzen. Wir sehen solche Entwicklungen beispielsweise in Spanien wo es unter Arbeiter*innen viel Hass auf die traditionellen Gewerkscgaften UGT und CC.OO gibt. Das hat dazu geführt, dass eine Schicht von vor allem migrantischen Arbeiter*innen sich den kleinen anarchistischen Gewerkschaften zugewendet hat. Auch wenn die Eintritte in die Gewerkschaften zunehmen und ihr Ansehen sich insgesamt verbessert, wird die Loyalität zu ihnen in manchen Ländern nicht mehr notwendigerweise so ausgeprägt sein, wie dies in früheren Zeiten der Arbeiter*innenbewegung der Fall war. Das bedeutet, dass es nach Eintrittswellen auch zu Austrittswellen kommen kann oder dass Arbeiter*innen anderen Gewerkschaften beitraten, wenn die Arbeiter*innen ihre Interessen nicht vertreten sehen.

54. Dabei ist unsere Aufgabe, den Verteilungskampf auf die Spitze zu treiben, gegen die falsche Bescheidenheit der Gewerkschaftsführungen zu argumentieren, dies mit der Notwendigkeit des Kampfes gegen das kapitalistische System zu verbinden und erfolgversprechende Kampfstrategien vorzuschlagen. Für letztere ist die breite, demokratische Einbeziehung der Mitglieder von entscheidender Bedeutung. Deshalb sind Forderungen nach demokratischen Wahlen zu Streikleitungen, Streikdelegiertenkonferenzen etc. von großer Bedeutung. Diesbezüglich hat es zumindest in den deutschen Gewerkschaften wichtige Debatten und in einzelnen Bereichen auch Veränderungen in die richtige Richtung gegeben – zum Teil basierend auf den Organizing-Konzepten von Jane McAlevey, die wir jedoch kritisch betrachten müssen. Aber wir müssen konstruktiv mit unseren eigenen Vorschlägen an solchen Prozessen teilnehmen und nicht mahnend mit den vermeintlich richtigen Vorschlägen am Rande stehen.

55. Es ist außerdem unsere Aufgabe die Gewerkschaften zu politisieren. Die Kriege in der Ukraine und gegen Gaza haben auch in vielen Gewerkschaften zu Debatten geführt. In einigen wenigen Ländern, wie Italien und Belgien, haben sich Arbeiter*innen geweigert, Waffen in die Kriegsregionen zu verladen. Die rechten Gewerkschaftsführungen haben sich an die Rockzipfel ihrer Regierungen gehängt und die jeweilige Politik zur Unterstützung des Selenskji-Regimes und des israelischen Staates unterstützt. Dies blieb jedoch in vielen Fällen nicht ohne Widerspruch. Beim ver.di-Bundeskongress in Deutschland konnte, auch unter Beteiligung unserer Genoss*innen, die Führung herausgefordert werden, als sie die friedenspolitischen Grundsätze der Gewerkschaft geschliffen hat und mehr Opposition als erwartet mobilisiert werden – was einen Mehrheitsbeschluss im Sinne der Führung jedoch nicht verhindern konnte. Beim Kongress der IG Metall in Deutschland wurden die pro-imperialistische Positionierung, die die Führung vorgeschlagen hatte, zumindest durch die Delegierten abgeschwächt. Fragen von Krieg und Frieden, staatlicher Repression und in Zukunft Austeritätspolitik und verallgemeinerte Angriffe auf den Lebensstandard und die Rechte der Arbeiter*innenklasse werden die Kämpfe von der rein tarifvertraglichen Ebene wieder mehr zu allgemeinen Verteilungskämpfen und auch politischen Fragen verschieben.

Neue Arbeiter*innenpartei, doppelte Aufgabe und Krise der Linken

56. Die multiple Krise des Kapitalismus schreit nach sozialistischer Veränderung und nach dem Aufbau einer sozialistischen Alternative in Form von sozialistischen Arbeiter*innenparteien. Ein Hauptwiderspruch unserer Zeit ist dieses objektive Bedürfnis nach Arbeiter*innenparteien und die Tatsache, dass solche nicht nur in den meisten Ländern nicht existieren, sondern diejenigen linken Parteien, die einen Ansatz für die Entwicklung von Arbeiter*innenparteien hätten darstellen können, den Ansprüchen bei weitem nicht gerecht werden und politisch und ideologisch in den letzten Jahren in die Krise geraten sind.

57. Das bedeutet, dass der Prozess des Wiederaufbaus der Arbeiter*innenbewegung und des Aufbaus von politischen Interessenvertretungen der Arbeiter*innenklasse mit Massenbasis sich weiter verzögert, auch wenn die Entwicklung in unterschiedlichen Ländern sich unterschiedlich vollzieht.

58. In Europa führte die Große Rezession von 2008/09 und die darauffolgende Euro-Krise zu Klassenkämpfen und Massenbewegungen, die in verschiedenen Ländern neue, und in manchen Fällen ältere, linke Parteien aufstiegen ließ. Diese haben in der Regel versagt, sich angepasst oder die Arbeiter*innenklasse direkt verraten. Das ist ein entscheidender Grund dafür, dass zur Zeit vor allem die Rechtspopulisten von Krisen und Instabilität profitieren können.

59. Die offensichtlichsten Fälle dieses Versagens sind Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien. Syrizas Verrat hat nicht nur den Weg frei gemacht für die derzeitige Regierung der konservativen Nea Democratia, sondern die griechische Linke weit zurück geworfen. Die Partei ist nach der Wahlniederlage bei den Parlamentswahlen 2023 weiter in die Krise geraten. Nach der Wahl des Investmentbankers Kasseriakis zum Parteivorsitzenden haben sich elf Parlamentsabgeordnete von der Partei getrennt und werden möglicherweise eine neue Linkspartei bilden. Ob diese jedoch das Potenzial für eine neue Arbeiter*innenpartei wird ausschöpfen können ist angesichts der politischen Bilanz dieser Syriza-Abgeordneten fraglich. In Meinungsumfragen profitiert die KKE von dieser Situation, deren Parteivorsitzender im Sommer sogar der zweitbeliebteste Politiker war. Die KKE ist zwar einerseits von ausgeprägtem Sektierertum geprägt, andererseits verfügt sie über eine signifikante Verankerung in Teilen der organisierten Arbeiter*innenklasse und hat sie sich nicht zuletzt in der Frage des Ukraine-Kriegs zu einer grundsätzlich internationalistischen Position hin entwickelt, nicht zuletzt zur Frage des Ukraine-Kriegs, wo sie nicht die pro-russische Position von vielen der alten Kommunistischen Parteien angenommen hat.

60. Im spanischen Staat hat Podemos durch seine Regierungsbeteiligung in der Koalition mit der PSOE viele Hoffnungen enttäuscht und trägt damit eine große Verantwortung für den Aufstieg von Vox. Entsprechend hat Podemos nicht nur Wähler, sondern auch einen Teil der aktiven Mitgliederbasis verloren. Auf der spanischen Linken hat sich nun unter der Führung der KP-Vorsitzenden Yolanda Díaz, die als Arbeitsministerin eine gewisse Prominenz erreichen konnte, das neue Bündnis Sumar gebildet, das im Vergleich zum Unidad Podemos-Bündnis einen Schritt nach rechts markiert und sich eher als zivilgesellschaftliche Bürgerbewegung darstellt. Ähnlich wie in Griechenland ist der Prozess zur Bildung einer neuen Massenpartei der Arbeiter*innenklasse durch die prokapitalistische Regierungspolitik von Unidad Podemos zurück geworfen worden und wird es wahrscheinlich einer Welle neuer verallgemeinerter Klassenkämpfe bedürfen, bis ein neuer Anlauf genommen werden kann.

61. In Deutschland hat sich die Partei Die Linke gespalten. Auch hier stellt die Abspaltung um die frühere Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht eine Rechtsabspaltung dar, die sich vom Sozialismus gänzlich verabschiedet, offensiv für eine ordoliberal organisierte Marktwirtschaft eintritt und wirtschafts- und migrationspolitisch nationalistische und migrationsfeindliche Töne anschlägt. Gleichzeitig wirkt Wagenknecht wie eine radikale Kritikerin der Regierung, die sich mehr vom Establishment abgrenzt als eine Linkspartei, die in verschiedenen Landesregierungen sitzt und dort keinen spürbaren Unterschied macht. Große Teile der Parteilinken haben in den letzten Jahren einen prinzipienlosen Block mit Teilen der Parteirechten gebildet und sich der Politik der Regierungsbeteiligung in prokapitalistischen Koalitonen mit SPD und Grünen angepasst. Gleichzeitig hat die Linkspartei in den zentralen gesellschaftspolitischen Fragen der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie, des Ukraine-Kriegs und des Kriegs gegen Gaza keine unabhängige sozialistische Klassenposition eingenommen und wirkt immer wie der etwas linkere oder sozialere Teil des bürgerlichen Establishments, der letztlich keinen grundlegend anderen Kurs als die Regierungsparteien vertritt. Das ist der entscheidende Grund für den großen Rückgang der Unterstützung bei Wahlen und Meinungsumfragen. Die neue Wagenknecht-Partei kann den parlamentarischen Todesstoß für Die Linke bedeuten, zumindest auf Bundesebene. Trotz des Eintritts von über zweitausend neuen Mitgliedern seit der Abspaltung von Wagenknecht, darunter viele Aktive aus sozialen Bewegungen und linksradikalen Gruppen, ist nicht damit zu rechnen, dass die Partei in absehbarer Zeit eine neue Anziehungskraft auf Arbeiter*innen und Jugendliche ausstrahlen wird, auch weil gerade diese neuen Aktiven möglicherweise die identitätspolitische Ausrichtung verstärken werden.

62. Unsere Sektion in Deutschland hat ihr Verhältnis zur Linkspartei praktisch und propagandistisch an die neue Situation angepasst und legt einen größeren Fokus auf Aktivitäten unter eigenem Banner der Sol, hat eine unabhängige Jugendorganisation mit Jugend für Sozialismus gegründet und Prioritäten in der praktischen Arbeit stärker in Richtung Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit verschoben, während ein Teil der Mitgliedschaft weiterhin in der Linkspartei Mitglied ist und wir in den Linke-Strukturen, wo es erfolgversprechend ist, weiterhin aktiv sind und für ein sozialistisches Programm eintreten. Gleichzeitig argumentieren wir für eine Einheitsfrontpolitik gegenüber der neuen Wagenknecht-Partei, in den Fällen wo dies politisch möglich ist, weil wir davon ausgehen, dass ein Teil der Arbeiter*innenklasse diese Partei erst einmal als eine soziale Vertretung betrachten wird und es ist möglich, dass eine Schicht linker Aktivist*innen, die sich als Sozialist*innen verstehen, der Partei beitreten und für einen anderen Kurs innerhalb der Partei eintreten werden. Wie sich diese Partei entwickeln wird und ob sie möglicherweise schnell einen rein bürgerlich-nationalen Charakter annehmen wird, ist offen.

63. In Britannien ist das Corbyn-Projekt innerhalb der Labour-Partei gescheitert und Sir Keir Starmer und sein prokapitalistisch-blairistischer Apparat haben die Partei fest in der Hand. Corbyn darf nicht einmal mehr in seinem Wahlbezirk in London-Islington für die Partei antreten. Aufgrund des Hasses gegen die Tories und des Mehrheitswahlrechts wird Labour aber sehr wahrscheinlich die nächsten Parlamentswahlen deutlich gewinnen, auch wenn es wenig Begeisterung für die Partei geben wird. Würden Corbyn, andere linke Labour-Abgeordnete und Teile der Gewerkschaftsführungen eine linke Kandidatur organisieren, könnte diese aber auch unter den gegebenen Umständen möglicherweise einen gewissen Durchbruch erreichen und eine Gruppe von Abgeordneten erzielen. Unsere Genoss*innen in England, Wales und Schottland werfen dies zurecht innerhalb der Linken und der Gewerkschaften auf und bereiten gleichzeitig eine begrenzte Kandidatur unter dem TUSC-Banner vor, welche ohne prominente Unterstützung jedoch mit nur bescheidenen Ergebnissen rechnen muss. Trotzdem ist dies eine wichtige Vorbereitung auf die Zukunft, das Setzen eines Markers, da die objektive Situation als Ergebnis der Erfahrungen mit einer Starmer-Regierung die Frage einer neuen Arbeiter*innenpartei mehr auf die Tagesordnung setzen wird.

64. In Frankreich ist das NUPES-Bündnis in der Krise. Die Bildung von NUPES war schon Ausdruck der mangelnden Perspektive von Mélenchons La France Insoumise, aus den Wahlerfolgen und der großen Unterstützung eine Massenpartei zu entwickeln. Einerseits hat NUPES bei den Parlamentswahlen einen Erfolg für „die Linke“ erreicht, gleichzeitig aber die Kräfte rechts von LFI relativ gestärkt bzw. am Leben erhalten. Diese haben nun aufgrund der polarisierten Situation hinsichtlich des Kriegs in Gaza die Solidaritätsbekundungen Mélenchons mit den Palästinensern zum Anlass genommen, das Bündnis in Frage zu stellen oder auf Eis zu legen. Unsere französischen Genoss*innen erkennen an, dass weiterhin LFI die Kraft ist, die das Potenzial hat, das Tor zur Bildung einer Massenpartei der Arbeiter*innenklasse aufzustoßen und intervenieren daher weiterhin in LFI und machen Vorschläge bzw. richten Forderungen an LFI. LFI hat sich noch nicht, wie andere Parteien der Linken in Europa, in den Augen der Arbeiter*innenklasse diskreditiert, jedoch auch die Möglichkeiten zum Aufbau einer Partei mit Massenbasis nicht ergriffen.

  1. Gleiches gilt für die Partei der Arbeit (PTB/PvdA) in Belgien. Diese ex-maoistische Partei hat durch eine Art opportunistischer Öffnung eine breite Wähler*innenbasis aufgebaut und liegt in Umfragen zur Zeit bei zehn Prozent im flämischen und 15 Prozent im vallonischen Teil des Landes. Ein ähnliches Phänomen hatten wir bei der niederländischen Sozialistischen Partei beobachten können, die ebenfalls aus einer maoistischen Tradition kommt, aber mittlerweile aufgrund von kommunaler Regierungsbeteiligung und einem inhaltlichen Anpassungsprozess einen großen Teil der Unterstützung wieder verloren hat. Der PTB/PvdA droht ein ähnliches Schicksal, wenn sie keine aktive Massenbasis unter Arbeiter*innen*innen und Jugendlichen aufbaut und einen vorwärtstreibende Rolle im Klassenkampf beginnt zu spielen.
  2. Der Erfolg der PTB/PvdA zeigt aber, ähnlich wie das Wachstum der Arbeiterpartei der Türkei (TIP) oder auch die Erfolge der Kommunistischen Partei Österreichs in der Steiermark und Salzburg, dass es in Europa keine einseitige Rechtsentwicklung gibt, sondern ein Potenzial für linke, sozialistische Parteien besteht, das auch von Kräften teilweise gefüllt werden kann, die über kein klares sozialistisches Programm verfügen, wenn diese unverbraucht, unangepasst und oppositionell-widerständig rüber kommen. Solche Entwicklungen könnten der Ansatzpunkt für die Entwicklung von Massenparteien der Arbeiter*innenklasse sein. Aufgrund der ideologischen Schwächen der in diesen Formationen führenden Kräfte sind jedoch die Linksparteien, die nach der Großen Rezession von 2008/09 einen gewissen Aufschwung genommen haben, zu einem großen Teil gescheitert bzw. konnten sich nicht in Richtung von Arbeiterparteien mit einer Massenbasis entwickeln.
  1. Das ändert nichts an der grundsätzlichen Perspektive, dass die Arbeiter*innenklasse in der Regel nicht auf direktem Weg zu revolutionär-marxistischen Schlussfolgerungen kommen wird und die Entwicklung breiter Arbeiterparteien eine in den meisten Fällen notwendige Stufe der Entwicklung hin zu revolutionären Massenparteien sein wird. Die von uns in den 1990er Jahren entwickelte „doppelte Aufgabe“ besteht dementsprechend weiterhin – der Aufbau der revolutionären Organisation und die Beteiligung am breiteren Wiederaufbau der Arbeiterbewegung (Aufbau von gewerkschaftlichen Strukturen, Wiederentwicklung sozialistischen Bewusstseins, Aufbau neuer Arbeiterparteien). Gleichzeitig dürfen wir kein mechanisches Verständnis dieser doppelten Aufgabe haben.
  2. Wir können zu bestimmten historischen Momenten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung breiter Arbeiter*innenparteien spielen, diese aber nicht voluntaristisch ins Leben rufen. Wenn in bestimmten Perioden, wie das zur Zeit für die meisten europäischen Länder gilt, weder solche breiteren Arbeiter*innenparteien existieren noch ihre Bildung im Moment ansteht, kann dieser Teil der doppelten Aufgabe vor allem ein propagandistischer sein, während praktisch der Aufbau unserer revolutionären Organisation im Mittelpunkt steht. Ebenso ist es nicht ausgeschlossen, dass in manchen Ländern wir – oder andere sich als revolutionär verstehende Kräfte – eine kleine Massenbasis aufbauen können und revolutionäre Parteien aufgebaut werden können, die je nach Struktur zukünftiger breiter Arbeiter*innenparteien entweder Teil solcher werden (im Falle föderalistischer Strukturen) oder diesen mit der Einheitsfrontmethode begegnen werden.

Fazit

69. Europa ist ein Kontinent im Niedergang. Nicht nur weil der Kapitalismus sich weltweit im Niedergang befindet, sondern weil Europa im globalen Machtkampf ins Hintertreffen geraten ist. Alle Symptome des kapitalistischen Todeskampfes finden sich dementsprechend auf dem Kontinent – sowohl in den reichen und wirtschaftlich entwickelten Staaten als auch in den armen Staaten der europäischen Peripherie. Die Europäische Union hat in gewisser Hinsicht eine Verschnaufpause bekommen, kann aber die Integration nicht auf eine qualitativ höhere Stufe heben und wird im Zuge kommender Wirtschaftskrisen auch als Euro-Währungsraum oder als Staatenbündnis in eine, möglicherweise existenzielle, Krise geraten. Dies vor allem dann wenn ein Aufschwung verallgemeinerter Klassenkämpfe zur Entwicklung starker kämpferischer Gewerkschaften und Arbeiter*innenparteien führt, die die Herrschenden herausfordern können. Die soziale und politische Polarisierung wird sich fortsetzen, aber dann auch einen Ausdruck auf der politischen Linken finden.

70. Unsere Aufgabe ist es, in der unmittelbar vor uns liegenden Phase, die wachsenden Möglichkeiten für den Aufbau revolutionär-marxistischer Organisationen zu nutzen und einen Kader zu entwickeln, der in der Lage sein wird, den Gang der Ereignisse in der Zukunft maßgeblich zu beeinflussen.

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