Ampel wackelt, Kahlschlag droht

Zu den Folgen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt 2021

Das Urteil des Bundesverfassungsgericht zum sogenannten „Klima und Transformations-Fonds“ (KTF) stürzt die Ampel-Regierung in die nächste schwere Krise. Der Regierung stehen vorerst mindestens 60 Milliarden Euro weniger in ihrer Finanzplanung zur Verfügung. Die Summe dürfte insgesamt höher liegen, da weitere Sonderfonds in Frage stehen und womöglich den laufenden Haushalt in diesem Jahr betreffen. Ob die Regierung das überlebt oder das Karlsruher Gericht damit den letzten Sargnagel in die ohnehin lädierte Ampel geschlagen hat, ist völlig offen. Doch die Dimension des Urteils reicht über ein nun nochmal wahrscheinlicher gewordenes, frühzeitiges Aus dieser Koalition hinaus. Es ist ein Katalysator für politische Instabilität, Kürzungen auf allen Ebenen des Staates in der nächsten Zeit und auch die ohnehin vorhandenen rezessiven Tendenzen in der deutschen Wirtschaft. Gewerkschaften und Linke müssen die Alarmglocken läuten, sich für größere Angriffe wappnen und mit eigenen Forderungen in die Offensive.

von Tom Hoffmann, Sol-Bundesleitung

Das potenzielle Ausmaß des Karlsruher Urteils zu überblicken, ist alles andere als einfach – mehr als eine Woche danach scheint das selbst in Regierungskreisen noch nicht abschließend geklärt zu sein. Das liegt daran, dass das Ampel-Bündnis eine Schuldenbremsen-Umgehungspraxis vermittels Sondervermögen zur Universallösung eigener Konflikte gemacht hat. Niemand schien damit gerechnet zu haben, dass das Bundesverfassungsgericht diese Praxis so eindeutig und rückwirkend für unzulässig erklärt – nicht einmal die CDU, auf die die Klage zurückging. In der Ampel scheint es keine Vorbereitungen auf solch ein Urteil gegeben zu haben.

Worum geht es?

Es gibt eine Vielzahl von schuldenfinanzierten Sondervermögen, wie es der KTF ist, die hunderte Milliarden an staatlichen Ausgaben, Investitionen und Subventionen am regulären Haushalt vorbei finanzieren sollen. Einige dieser Töpfe wurden in den letzten Jahren aufgesetzt und zum Kitt des Ampel-Bündnis, welches die politischen Differenzen zwischen den Parteien überbrücken sollte: Die FDP konnte sich mit der Einhaltung der Schuldenbremse brüsten, während Grüne und SPD Investitionen für Unternehmen, Klimaschutz und ein paar soziale Abfederungen verkaufen konnten.

Das war möglich, weil in vergangenen „Krisensituationen“ (Corona, Ukraine-Krieg) die Ampel und davor Schwarz-Rot eine sogenannte „Notlage“ beschließen konnten, um in den entsprechenden Jahren eine deutlich höhere Neuverschuldung für zum Beispiel Rettungspakete zu ermöglichen, als es die Schuldenbremse eigentlich erlaubt. Einige dieser Milliarden an Kreditermächtigungen, auf welche die Regierenden zurückgreifen konnten, wurden in den entsprechenden Jahren aber nicht abgerufen und drohten zu „verfallen“. Daher wurden sie in den Sondervermögen für zukünftige Ausgaben „geparkt“. Im Falle des Nachtragshaushalt 2021, der 60 Milliarden Euro in den KTF verschoben hat, hat das Bundesverfassungsgericht diese Praxis nun für „nichtig“ erklärt. Damit verschwinden nicht nur sofort 60 Milliarden Euro, welche die Ampel in ihrer Finanzplanung für die nächsten Jahre vorgesehen hatte. Karlsruhe schiebt der Ampel und zukünftigen Bundes- wie Landesregierungen einen Riegel vor, diese Praxis weiter anzuwenden.

Es geht deshalb nicht nur um 60 Milliarden Euro. ASpätestens wenn weitere Klagen erhoben werden, könnten weitere Kreditermächtigungen aus anderen bundesweiten Sondervermögen gestrichen werden. Vor der Ampel hatte die GroKo 26 Milliarden Euro auf vergleichbare Art und Weise dem damaligen Klimafonds zugeführt. Laut Handelsblatt wird die Regierung den „Wirtschaftsstabilisierungsfonds“ (WSF), der 2022 mit 200 Milliarden Euro ausgestattet wurde und aus dem nächstes Jahr immer noch 20 Milliarden Euro ausgegeben worden wären, schließen. Damit wäre man schon bei über 100 Milliarden Euro geplanten Ausgaben, die möglicherweise nicht zu Verfügung stehen. Besonders problematisch für die Regierung: Aus dem WSF sind schon in diesem Jahr fast 38 Milliarden Euro abgeflossen – das dürfte nach dem Urteil unzulässig gewesen sein.

Die gesamte Finanzplanung der Regierung für die nächsten Jahre ist damit für die Tonne. In Frage stehen unter anderem Milliarden für die „Energiepreisbremse“; Subvention der Stromnetzentgelte, für Krankenhäuser, den Ausbau des Schienennetzes der Bahn, die Subventionen für Industriekonzerne beim Strompreis und für Produktionsumstellungen, Subventionen für Chip-Konzerne wie Intel und TSMC und Batteriezellfabriken, Förderungen beim Wohnungs- und Häuserbau… Auch auf Länderebene kann das Urteil mittelbar massive Einsparungen zur Folge haben.

Der Großteil dieser staatlichen Ausgaben dienten der Absicherung privater Profite des Kapitals durch Steuergelder der arbeitenden Bevölkerung – sie waren kein wirklich soziales Investitionsprogramm im Interesse der Arbeiter*innenklasse, welches zum Beispiel die vielen Notstände in der öffentlichen Daseinsvorsorge, bei der Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum usw. behoben hätte.

Die Bundesregierung hat eine de facto-Haushaltssperre erlassen. Somit dürfen von den Ministerien in den letzten Wochen des Jahres keine neuen Gelder über die regulär vorgesehenen verplant werden. Das gilt auch für das Verteidigungsministerium und damit das 100-Milliarden-Sondervermögen zur Aufrüstung der Bundeswehr. Allerdings wurde dieses von den pro-kapitalistischen Parteien bewusst im Grundgesetz verankert, um es nicht in Widerspruch zur Schuldenbremse anzulegen, sodass das Karlsruher Gerichtsurteil diesen Topf nicht grundlegend in Frage stellt. Während zum Beispiel die staatliche Subvention von Energiepreisen für Verbraucher*innen also in der Luft hängt, ist die Aufrüstung gesichert. Wer, wie Verteidigungsminister Pistorius, Deutschland „kriegstüchtig“ machen will, setzt Prioritäten.

Was bedeutet das für die Haushaltsberatungen und die Regierung?

Die Regierungsparteien wollten den Haushalt 2024 in dieser Woche finalisieren, doch der Zeitplan war angesichts der großen Unsicherheiten nicht zu halten. Es ist unklar, ob eine Einigung in diesem Jahr möglich ist. Somit droht ihnen, zu Jahresbeginn ohne beschlossenen Haushalt dazustehen, welcher die Handlungsfähigkeit der Regierung einschränken würde. Unter Druck setzt die Ampel auch die bereits geflossenen Milliarden aus dem WSF, welche eigentlich eine höhere Schuldenaufnahme in diesem Jahr nötig machen. Doch dazu müsste eine finanzielle Notlage noch in diesem Jahr erklärt werden.

Das Karlsruher Urteil macht es für die Ampel (aber auch für jede andere zukünftige, pro-kapitalistische Regierung) nötig, mit deutlich weniger Geld in den nächsten Jahren auszukommen. Das ist ein Katalysator für das erneute Feilschen um die Staatsausgaben und auch für umfangreiche Sozialkürzungen. Die Ampel-Parteien müssen eine Einigung über eine Überarbeitung des Haushalts für nächstes Jahr und die bisherige darüberhinausgehende Finanzplanung finden, wenn sie zusammen bleiben wollen. Wie groß die Folgen für den Haushalt 2024 konkret sind, ist nicht abzusehen. Laut Table.Media fällt das drohende Finanzierungsloch gemessen an den fest geplanten Ausgaben kleiner aus, als zunächst angenommen – da die geplanten Ausgaben aus Sonderfonds für 2024 mit Puffern ausgestattet waren und andere Ausgaben zum Teil erst in späteren Jahren geplant wurden.

Aber ob (und wenn ja wie) die Ampel eine Einigung findet, ist offen. Die von vielen bürgerlichen Kommentator*innen favorisierte Lösung ist die erneute Erklärung einer „Notlage“ mit einer einfachen Mehrheit im Bundestag. Damit könnten die Schuldenregeln in diesem Jahr und womöglich im nächsten Jahr erneut außer Kraft gesetzt werden. Aber ob das gelingt, ist fraglich. Erstens ist unklar, ob die FDP dem zustimmt. Zweitens ist unklar, ob solch solch ein Vorgehen rechtlich sicher ist und nicht erneut zu Klagen und Revision in Karlsruhe führen würde.

Das Ganze passiert in einer Situation, in der die Ampel längst keine Mehrheit mehr hinter sich hat und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung kocht. Die FDP, welche laut Umfragen um einen Wiedereinzug in den Bundestag bangen müsste, hat erklärt, dass sie zu Steuererhöhungen und einer Reform der Schuldenbremse nicht bereit ist. Für die Grünen und die SPD, die in Umfragen schwach aufgestellt sind, ist ein weitgehender Verzicht auf staatliche Investitionen möglicherweise nicht tragbar. Das es ihnen dabei vor allem um das Wohl des deutschen Kapitalismus und nicht der Masse der Bevölkerung geht, wird durch die Äußerungen von zum Beispiel Robert Habeck oder Kevin Kühnert deutlich, die fürchten dass deutsche Konzerne im internationalen Wettbewerb untergehen.

Debatte über Schuldenbremse

Hinter dem andauernden Regierungsstreit stehen daher zwar unterschiedliche politische Vorstellungen, aber diese basieren auf unterschiedlichen Vorstellungen den deutschen Kapitalismus zu stärken und richten sich nicht nach den Interessen der arbeitenden Mehrheit. Sie sind Ausdruck der Spannungen innerhalb der herrschenden Klasse, die keine einheitliche Politik im Angesicht der Krise formulieren kann. Die einen wollen auf Pump investieren und subventionieren (ohne die Reichen ernsthaft zur Kasse zu bitten und damit das Finanzierungsproblem in die Zukunft zu verschieben), die anderen wollen die Staatsausgaben nach den großen Rettungspaketen drosseln. Beide Lager sind sich einig, früher oder später die Arbeiter*innenklasse zur Kasse zu bitten.

Deshalb gibt es ein Infragestellung der aktuellen Form der Schuldenbremse bei Teilen der SPD und Grünen, die mehr Spielraum verlangen. AfD, FDP und CDU lehnen das strikt ab und haben dabei auch die Auswirkungen auf EU-Ebene im Blick, wo der deutsche Kapitalismus vehement für eine Begrenzung der Verschuldung anderer Staaten und Austeritätspolitik eintritt. Das wird nicht nur für die aktuelle Regierung zur Zerreißprobe, sondern kann – angesichts der aktuellen Umfragen laut der Dreier-Koalitionen nötig wären und die FDP um den Einzug bangen muss – auch zukünftige unions-geführte Regierungen lähmen. Sollte die Ampel vor dem offiziellen Legislaturende auseinanderbrechen, was durch das aktuelle Chaos wahrscheinlicher geworden ist, wird das kein Ende der politischen Instabilität bedeuten.

Wenn jetzt aber die SPD-Fraktionschef*innen von Bund und Ländern eine grundlegende Reform der Schuldenbremse und zudem höhere Steuern für Multimillionär*innen und Milliardär*innen fordern, dann ist das auch Vorwahlkampfgetöse. Man darf sie nicht daran messen, was sie sagen, sondern muss sie daran messen, was sie tun. Wenn es darauf ankam, hat die SPD mit Verweis auf Koalitionsverträge in der Vergangenheit gegen eine Streichung der Schuldenbremse oder Vermögensabgaben für Multimillionär*innen und Milliardär*innen gestimmt, welche DIE LINKE eingebracht hatte.

Reaktion von Arbeiter*innenbewegung und Linken nötig

Umso wichtiger ist es, dass es eine deutliche Reaktion der Arbeiter*innenbewegung und Linken auf dieses Urteil geben muss. Das beginnt damit, Klarheit über die Dimension der Auswirkungen zu schaffen und statt an die Regierenden zu appellieren, eigene Forderungen aufzustellen und sich auf Mobilisierungen vorzubereiten.

Schon vor dem Gerichtsurteil hatten Ampel-Vertreter mit dem aktuellen Haushalt die Rückkehr zur „haushaltspolitischen Normalität“ angekündigt und in diesem harte Kürzungen, u.a. für soziale Projekte, verankert. Das Karlsruher Urteil kann aber zum Ausgangspunkt eines Generalangriffs auf den Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse und soziale Errungenschaften werden, selbst wenn dieser nicht unmittelbar durch diese schwache Regierung eintritt. Damit wirft es auch ein Licht auf die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, welches ein zentraler Wächter des deutschen Kapitalismus ist und u.a. beim Berliner Mietendeckel bewiesen hat, dass es Klassenjustiz betreibt. Das Urteil der Richter*innen, die nicht nicht jederzeitig wähl- und abwählbar sind und mit einem Mindestgehalt von 14.537 Euro im Monat wohl kaum von kommenden Sozialkürzungen betroffen sein werden, kann von den Regierenden als unabänderliche Legitimation und quasi höhere Gewalt zur Durchsetzung von Sparpolitik genutzt werden.

Friedrich Merz, Jens Spahn und andere CDU-Figuren laufen sich mit Forderungen nach umfangreichen Sozialkürzungen warm und finden dafür Unterstützung bei FDP und AfD. Niemand sollte überrascht sein, wenn die CDU diese auch mit Unterstützung von SPD oder Grünen in einer nächsten Regierung durchsetzen – diese Parteien haben immer wieder bewiesen, dass sie ihrer „staatspolitischen Verantwortung“, das heißt der Verantwortung gegenüber den Wünschen des deutschen Kapitals, gerecht werden und linke Wahlversprechen durch Angriffe nach der Wahl ersetzen.

Die Gewerkschaften haben eine Verantwortung, die nötigen Schlussfolgerungen aus dem Karlsruher Urteil und der Regierungskrise zu führen. Dasselbe gilt für DIE LINKE, soziale Bewegungen und alle Kräfte, die den Anspruch haben, die Interessen der abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten zu verteidigen. Sie müssen erklären, was nötig ist um die soziale und ökonomische Krise, die Krise der öffentlichen Infrastruktur, die Wohnraumkrise, die Klimakrise usw. im Interesse der Masse der Bevölkerung zu lösen. Dazu ist ein massives öffentliches Investitionsprogramm unter der demokratischen Kontrolle von Vertreter*innen der Gewerkschaften und der arbeitenden Bevölkerung nötig – finanziert durch die Rekordgewinne der Banken und Konzerne und die obszönen Vermögen der Super-Reichen. Die Schuldenbremse muss abgeschafft werden – sie ist ein Instrument für sozialen Kahlschlag. Solche Maßnahmen werden auf den Widerstand aller pro-kapitalistischen Parteien im Bundestag treffen, welche die Kapitalinteressen verteidigen. Wenn das Kapital mit Deindustrialisierung, Produktionsverlagerungen oder Stellenabbau droht, müssen entsprechende Unternehmen verstaatlicht und unter die demokratische Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung gestellt werden. Ohne sozialistische Maßnahmen und Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse wird es keinen Ausweg aus der Krise geben, in die der Kapitalismus geführt hat.

Das Karlsruher Urteil ist ein Wetterleuchten für die Zukunft. Harte Angriffe und Klassenkämpfe stehen an. Die Arbeiter*innenbewegung muss sich jetzt darauf vorbereiten.

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