Was ist los in Ostdeutschland?

((c) Sebastian Gollnow, Creative Commons Lizenz)

Die Landtagswahlen werden ein vorhersehbares Erdbeben

Es ist so sicher wie das berühmte „Amen“ in der Kirche. Im September wird es bei den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ein gewaltiges politisches Erdbeben geben.

Von Torsten Sting, Rostock

Die Wahlprognosen für die ostdeutschen Landtagswahlen im September machen vielen Menschen zu Recht Angst. In allen drei Ländern kann die AfD stärkste Kraft werden. Aber auch in den Berliner Parteizentralen sind die Sorgen groß. In Thüringen etwa geht eine Umfrage vom 18.06. davon aus, dass die AfD stärkste Partei wird und 28 Prozent der Stimmen bekommen kann. Das BSW könnte demnach 21 Prozent der Wählerinnen und Wähler von sich überzeugen. Kurzum: Knapp die Hälfte der Befragten will keine der etablierten Parteien wählen! In Sachsen sieht die Situation nicht viel anders aus. Die FDP schafft es nach Umfragen in kein Landesparlament, die Grünen müssen überall zittern und selbst die SPD kann sich in Thüringen und Sachsen nicht sicher sein, fünf Prozent zu erreichen. Lediglich in Brandenburg zeichnet sich derzeit ab, dass CDU, SPD und Grüne eine Regierung bilden könnten. 

Allgemeine Unzufriedenheit

Wie ist diese Stimmung zu erklären? Einerseits gibt es eine allgemeine, große Unzufriedenheit mit der Bundesregierung, die in ganz Deutschland anzutreffen ist. Laut einer Umfrage meinten nur 22 Prozent der Menschen, dass sie mit der Arbeit der Regierung zufrieden seien, ein Negativrekord.  Es gibt eine Bandbreite von Themen, die eine Rolle spielen: die Angst vor hohen Mieten, Preissteigerungen, die Kriege in der Ukraine und in Gaza, Kritik am mangelnden Klimaschutz bis hin zur Migration. 

Fünfzig Prozent stimmen der Aussage zu, sich Sorgen zu machen, dass sie ihren Lebensstandard zukünftig nicht halten können (im Vergleich zu dreißig Prozent 2019 und 37 Prozent 2021). Der Anteil ist bei AfD-Wähler*innen mit 78 Prozent und 64 Prozent bei BSW-Wähler*innen besonders hoch.

Faktor Ost

35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und der darauffolgenden Wiedervereinigung gibt es noch immer gravierende politische Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. In einer Umfrage, die im Oktober des letzten Jahres durchgeführt wurde, definierten sich vierzig Prozent der Befragten als Ostdeutsche. Demgegenüber sahen sich nur fünf Prozent als Westdeutsche. 43 Prozent der Befragten im östlichen Teil der Republik fühlen sich zudem als Menschen zweiter Klasse.

Dieses Bewusstsein ist auf die Erfahrungen im Zuge der Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse zurückzuführen. Es ist das Erleben der Zerschlagung der Großindustrie in den 1990er Jahren und die darauffolgende hohe Massenerwerbslosigkeit bis in die 2000er Jahre. Viele Menschen haben Demütigungen erlebt, etwa indem Berufsabschlüsse nicht anerkannt wurden und das Leben in der DDR pauschal diskreditiert wurde.

Bis heute halten sich zudem große soziale Unterschiede zum „alten Westen“. Es gibt in Ostdeutschland einen großen Niedriglohnsektor; etwa dreißig Prozent der Beschäftigten gehören diesem an. Die Unterschiede zu den Einkommen in Westdeutschland sind noch immer bedeutend. Im vergangenen Jahr lagen die Ost-Bruttolöhne nur bei 82 Prozent der West-Bruttolöhne, obwohl im Durchschnitt über eine Stunde länger gearbeitet wird..

Neben den Städten, die als „Leuchttürme“ bezeichnet werden und wirtschaftlich besser dastehen als Teile der alten BRD (zum Beispiel Leipzig und Dresden), gibt es Regionen, die „abgehängt“ sind. Sie befinden sich in einem negativen Kreislauf: höhere Arbeitslosigkeit führt zur Abwanderung, der Abbau der öffentlichen Infrastruktur macht die Region für junge Menschen noch unattraktiver und verschärft die Abwanderung Richtung der Metropolen im Osten wie im Westen.

Schwäche der Etablierten

Die schwächere Wirtschaft und die vielen Enttäuschungen mit den Parteien der alten Bundesrepublik, als auch mit der PDS bzw. der Partei Die Linke, sind die Grundlage für die besonders instabile, häufig nur kurzweilige, Parteienunterstützung. Es wurden keine Erfahrungen gesammelt mit einem langen, wirtschaftlichen Aufschwung oder stabilen sozialen Verhältnissen. Daher haben es die FDP und die Grünen, welche sich auf besserverdienende Teile der Bevölkerung stützen, bis heute nicht geschafft, sich in der Fläche dauerhaft zu verankern. Dies gilt aber auch in abgeschwächtem Maße für SPD und CDU. Die Kräfte des Establishments beklagen immer wieder, dass sie gerade in den strukturschwachen Regionen des Ostens (zum Beispiel Vorpommern oder Sächsische Schweiz) kaum noch dazu in der Lage sind, Kandidat*innen für politische Ämter aufzustellen. 

Versagen der Linkspartei

Die PDS wurde in den 1990ern zu einem Angebot, mit dem viele Ostdeutsche ihre Wut gegen die ungerechten Verhältnisse ausdrücken konnten. Recht schnell beteiligte sich die Partei jedoch an Regierungen mit prokapitalistischen Parteien in Kommunen und Ländern. In Mecklenburg-Vorpommern und insbesondere in Berlin setzte die PDS und später Die Linke massiven Sozialkahlschlag, Privatisierungen, Lohndumping und Abschiebungen mit um. Dies führte zu einer Entfremdung von der Partei und war auch eine wesentliche Ursache für die fatale Entwicklung der letzten Jahre. Nach dem Austritt von Sahra Wagenknecht und ihren Anhänger*innen ist von einem Neuanfang nichts zu spüren. Vieles deutet darauf hin, dass die drei Landtagswahlen im Osten krachend verloren gehen. In Brandenburg und Sachsen ist sogar der Einzug in den Landtag gefährdet.

BSW

Von dieser Entwicklung profitiert zweifellos das erst Anfang des Jahres gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Analysen von Wähler*innenwanderungen zeigen, dass sich die neue politische Kraft gerade von ehemaligen Anhängerinnen und Anhängern der Linken speist. Geschickt greift die Partei die sozialen Fragen auf und kritisiert etwa die Rentenpolitik der etablierten Parteien oder macht Front gegen Privatisierungen. Mit der Ablehnung von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, insbesondere an die Selenskyj-Regierung, kann sie insbesondere im Osten punkten.

Diese linken Ansätze verbindet sie mit einer rechten, migrationsfeindlichen Argumentation. CDU/CSU hetzen schon seit Monaten gegen Menschen, die auf das Bürgergeld angewiesen sind. Zuletzt konzentrierte sich deren Propaganda auf ukrainische Menschen die auf staatliche Hilfe angewiesen sind. CSU-Politiker Dobrindt drohte mit Abschiebung in „sichere Gebiete der West-Ukraine“, andere forderten die Geflüchteten pauschal dazu auf, eine Arbeit anzunehmen, als ob diese sich mal so auf die faule Haut legen würden. Der O-Ton von Wagenknecht dazu: “Wer unseren Schutz in Anspruch nimmt, von dem kann man auch erwarten, dass er mit seiner Arbeit dazu beiträgt, die Kosten zu minimieren“. Damit trägt das BSW dazu bei, die Spaltung in Einheimische und Zugewanderte zu vertiefen. Zudem bietet sie über das Wählen ihrer Partei keinerlei Perspektive an, wie man eine Bewegung gegen die bestehenden Missstände aufbauen kann. Ganz zu schweigen davon, dass die Partei einen Weg aufzeigen würde, wie die Ursache allen Übels, der Kapitalismus als solcher, überwunden werden könnte.

Wagenknecht und die Verantwortlichen des BSW in den Bundesländern, haben mehrfach deutlich gemacht, dass sie zur Teilnahme an einer Regierung mit prokapitalistischen Parteien (bis hin zur CDU) bereit wären. Damit droht die Partei, die Fehler der Linken in noch kürzerer Zeit zu wiederholen. Dies wird früher oder später zu neuer Enttäuschung führen und die extreme Rechte stärken.

AfD

Die vermeintliche Alternative für Deutschland macht sich die sozialen Abstiegsängste zunutze. Die AfD stellt sich als Friedenspartei und Vertreterin des Ostens dar. Als Klammer dient der offene Rassismus, den sie zu jedem Thema herstellt. Das kann aber nur funktionieren, weil das bürgerliche Establishment über Jahre die Grundlage dafür gelegt hat. Seit Jahrzehnten wird auf soziale und ökonomische Krisen damit reagiert, “den Ausländer*innen” oder “der Migration” die Schuld in die Schuhe zu schieben, um von der eigenen Verantwortung für die Missstände abzulenken. Nach dem Mord an einem Polizisten in Mannheim, der von einem Menschen aus Afghanistan verübt wurde, folgte eine regelrechte Kampagne der etablierten Parteien und fast aller wichtigen Medien, mit dem Ziel, dass wieder in das von den Taliban beherrschte Land abgeschoben werden kann. Die AfD kann dann leicht daran anknüpfen und sich als das Original für migrant*innenfeindliche Politik verkaufen.

Eine starke AfD ist nicht nur eine Gefahr für Migrant*innen und andere Minderheiten. Sie stärkt auch frauenfeindliche Tendenzen und eine Politik gegen die Interessen von Lohnabhängigen (siehe Seite 7)

Perspektiven nach den Wahlen

Es ist davon auszugehen, dass sich gerade in Thüringen und Sachsen die Regierungsbildung als sehr kompliziert erweisen wird. Wahrscheinlich ist, dass die CDU derzeit nicht dazu bereit ist, mit der AfD eine Koalition zu bilden. Das muss aber ein Bündnis mit dem BSW und mindestens einer weiteren Partei gebildet werden, um überhaupt eine Regierung bilden zu können. Das wird zu vielen Konflikten und notgedrungen zu Kompromissen führen, die den Beteiligten und deren Wähler*innen weh tun werden. Die Folge wird sein, dass die AfD sich als Opposition weiter profilieren und stärker werden kann, es sei denn Gewerkschaften und Die Linke organisieren endlich wirksame Kämpfe gegen die Regierenden und die AfD.

Die sehr wahrscheinlich erneuten, heftigen Wahlniederlagen für die Ampel-Parteien werden die Bundesregierung womöglich in eine finale Krise stürzen. Auch unabhängig von der Frage von möglichen Neuwahlen wird sich die politische Instabilität in Deutschland beträchtlich steigern. Die Herrschenden werden sich dazu gezwungen sehen, über Modelle nachzudenken, die in der stabilen Bundesrepublik bislang tabu waren: Die Frage von Minderheitsregierungen oder die Einbeziehung der extremen Rechten wird sich früher oder später, zumindest auf Landesebene stellen.

Was tun?

Mit den wahrscheinlichen Wahlsiegen der AfD wird sich erneut eine Diskussion über deren Gründe entwickeln. Wie wir schon zu anderen Anlässen ausgeführt haben, müssen die gesellschaftlichen Debatten hin zu den sozialen Problemen und Ursachen verschoben werden und dazu braucht es Klassenkämpfe. Die klare Absage an die AfD und Rassismus jeglicher Art sollte mit den aktuellen Auseinandersetzungen in der Gesellschaft verbunden werden. Es wäre auch eine Chance, den berechtigten Zorn auf die Ampel-Regierung von links zu besetzen und eine Bewegung aufzubauen, die sich auch gegen die Kürzungen der Bundesregierung wendet. Eine Bewegung, welche die Klasseninteressen der arbeitenden Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, in den Blick nimmt und diese der reichen Elite entgegenstellt, ist die beste Medizin gegen die rassistische Spaltung. 

Neue Partei für die Arbeitenden

Dennoch bleibt das grundlegende Problem, dass die Arbeiter*innenklasse heute über keine Massenpartei verfügt, die ihre Interessen zum Ausdruck bringt. Diese aufzubauen, die Kämpfe im Hier und Jetzt mit der Vision einer sozialistischen Demokratie zu verbinden, wird die Aufgabe der nächsten Jahre sein.

Print Friendly, PDF & Email