Gewerkschaftliche Kämpfe in Ostdeutschland

Bilanz und Ausblick

Bis heute gibt es viele Unterschiede zwischen der alten Bundesrepublik und dem Gebiet der ehemaligen DDR. Dies widerspiegelt sich auch im Zustand und der Entwicklung der Gewerkschaften. Mit diesem Artikel wollen wir eine Bilanz der letzten Jahrzehnte ziehen, eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation erstellen und einen Ausblick auf die Zukunft wagen.

von Torsten Sting

Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus und der massiven ideologischen Offensive der bürgerlichen Elite wurde jede Vorstellung von gesellschaftlichem Eigentum an Produktionsmitteln für viele Jahre massiv diskreditiert. Die Sol hat immer erklärt, dass die stalinistische Bürokratie die großen Vorteile, die in einer Planwirtschaft stecken, zunichtegemacht hatte. Eine Demokratisierung der Gesellschaft und der Wirtschaft war zu Beginn der Revolution im Herbst 1989 das zentrale Thema. Letztlich schlug die Bewegung aus Gründen, die wir hier nicht näher behandeln können, um und es kam zur Wiedereinführung des Kapitalismus.

Infolge des historischen Umbruchs kam es weltweit zur Anpassung an die Logik des Kapitalismus von nahezu allen linken Parteien und Gewerkschaften und zu einer ideologischen Offensive des Kapitals. Jede Vorstellung von Klassenkampf, Sozialismus und Staatseigentum kam massiv unter Druck.

Die Sozialdemokratie ging politisch nach rechts, verlor ihre aktive Basis in der Arbeiter*innenklasse und wurde zu einer „normalen“ bürgerlichen Partei. Auch in den Führungen der Gewerkschaften kam es zu einer deutlichen Rechtsverschiebung. Diese Begleitumstände waren für die Kolleginnen und Kollegen, die gegen Privatisierungen oder Arbeitsplatzabbau kämpften, ein wichtiges Hemmnis.

Kahlschlag

Mit der Einführung der westdeutschen D-Mark zum 01.7.1990 wurden über Nacht die Produkte der DDR-Wirtschaft deutlich teurer und konnten nicht auf dem Weltmarkt mithalten. Damit wurde der Niedergang der großen Industriekombinate eingeleitet. Die Treuhandanstalt übernahm auf dem Papier alle staatlichen Betriebe der DDR, mit dem Ziel, alles zu privatisieren, was nicht niet- und nagelfest war. In etlichen Fällen wurden Firmen, die als „wettbewerbsfähig“ galten, an westdeutsche Kapitalist*innen verscherbelt, um von diesen dann geschlossen zu werden. Häufig war deren Ziel, eine „Marktbereinigung“ vorzunehmen, das heißt mögliche Konkurrenz zu zerstören, um letztlich höhere Gewinne einfahren zu können. Diese Entwicklung führte zu einem schnellen und dramatischen Anstieg der Erwerbslosigkeit. Dies traf eine Bevölkerung, für die bis dahin Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit der Standard war.

Mit dem Rücken zur Wand

Die Deindustrialisierung und die damit verbundene Massenerwerbslosigkeit waren ein Schock für die betroffenen Kolleg*innen und die ganze ostdeutsche Gesellschaft. Doch schon 1991 formierte sich erster Widerstand gegen den Kahlschlag durch die Treuhand. Es kam zu Demonstrationen und Betriebsbesetzungen. Das Jahr 1993 war dann der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung. In der ostdeutschen Metallindustrie brachen die Kapitalist*innen geltende Tarifverträge. Infolgedessen kam es zum ersten offiziellen Streik auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nach sechzig Jahren.

Der Kampf der Belegschaft des Kalibergwerks im thüringischen Bischofferode prägte das ganze Jahr. Diese Auseinandersetzung stand sinnbildlich für vieles, was sich in den ersten Jahren nach der Wende abspielte. Obwohl klar war, dass das Kali eine gute Qualität hatte, Absatzmärkte vorhanden waren und die Grube sogar profitabel arbeitete, wollte der Eigentümer (die Kali und Salz AG bzw. deren Hauptaktionär, der Chemiegigant BASF) das Werk schließen. Ein erbitterter Kampf begann. Die Grube wurde besetzt, es gab unzählige Demos und Solidaritätsaktionen. Die Unterstützung in Ost und West war groß.

Auch die Vorläuferorganisation der Sol hat sich damals in die Bewegung zur Unterstützung der Bergleute eingebracht und zum Beispiel Solidaritätskomitees mitgegründet. Der Slogan „Bischofferode ist überall“ machte die Runde. Belegschaften, die ein ähnliches Schicksal erlitten, knüpften an den Kampf an. Am Ende stand jedoch die Niederlage – eine von vielen.

Erfahrungen

Im Laufe dieser Kämpfe gab es etliche bittere Lehren für die ostdeutschen Arbeiter*innen. Aus den großen Versprechungen von Bundeskanzler Helmut Kohl („Blühende Landschaften“) und vielen anderen Vertreter*innen der westdeutschen Elite wurde nichts. Beim Kampf um das Werk in Bischofferode mussten die Kolleginnen und Kollegen zudem die Erfahrung machen, dass die Führung ihrer eigenen Gewerkschaft letztlich an der Seite der Bosse stand. Die DGB-Spitze entsandte Mitglieder in den Verwaltungsrat der Treuhand und oftmals „begleitete“ sie die Vernichtung der Betriebe „sozialverträglich“ statt entschlossen dagegen zu kämpfen.

Niederlage für IG Metall

Im Jahre 2003 versuchte die IG Metall auch in Ostdeutschland die 35-Stunden-Woche durchzusetzen. Etwa vier Wochen streikten die Metallerinnen und Metaller. Als der Arbeitskampf immer deutlicher seine Auswirkungen zeigte, insbesondere bei den großen Autofabriken, wurde der Ausstand abgebrochen und vom IGM-Vorsitzenden Klaus Zwickel als „gescheitert“ dargestellt. Dies entsprach aber nicht der Wahrheit. Gerade als die Kampfbereitschaft wuchs, wurde er abgebrochen und das Potenzial verschenkt, ihn mit den Protesten gegen die Agenda 2010 zu verbinden.

Denn tatsächlich fiel der Streik in eine Zeit, in der der Klassenkampf seitens der Herrschenden verschärft geführt wurde. Die rot-grüne Schröder-Regierung hatte die Agenda 2010 angekündigt, und die Konzerne standen infolge eines verschärften internationalen Wettbewerbs unter Druck und waren entschlossen, auf betrieblicher Ebene Verschlechterungen durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund war klar, dass der Kampf um eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit eine knallharte Auseinandersetzung werden musste. Innerhalb der IGM-Führung wurde zu dieser Zeit ein Machtkampf ausgetragen, der sich in dem Streik an sich, und wie er geführt wurde, niederschlug. Der Flügel um den stellvertretenden Vorsitzenden Jürgen Peters wollte mit den „klassischen“ Methoden der Ära vor dem Zusammenbruch des Stalinismus Reformen für die abhängig Beschäftigten durchsetzen, ohne auf die Sozialpartnerschaft zu verzichten. Die Kräfte um den späteren Vorsitzenden Berthold Huber wollten die Gewerkschaft im Zuge des Neoliberalismus politisch nach rechts verschieben und eine noch engere Zusammenarbeit mit Regierung und Konzernen durchsetzen. Der Streik stand da im Wege und wurde von diesem Teil der Bürokratie und insbesondere den Betriebsratsfürsten der Autokonzerne bewusst sabotiert, obwohl es von der Basis in den westdeutschen Betrieben sehr wohl konkrete Solidaritätsaktionen gab. Mit dieser selbst organisierten Niederlage gab es einen weiteren, schweren Rückschlag für die Gewerkschaftsbewegung.

Folgen der Deindustrialisierung

Die offizielle Erwerbslosigkeit in Ostdeutschland stieg und stieg. Sie erreichte im Jahre 2005 mit über 2zwanzig Prozent ihren Höhepunkt und war damit doppelt so hoch wie im Westen des Landes. Sie wäre noch um einiges höher gewesen, wenn nicht hunderttausende Menschen ihre Heimat gen Westen oder in Richtung Ausland verlassen hätten.

Die Folgen des beispiellosen industriellen Kahlschlags waren vielfältig. Durch die hohe Erwerbslosigkeit wurden die Arbeiter*innen in ihrer Macht als Klasse geschwächt. Das drückte sich auch lange in einem geringeren Selbstbewusstsein aus. Werftbeschäftigte zum Beispiel wussten um ihr berufliches Können und ihre Bedeutung für die Gesellschaft, weil Schiffe gebraucht werden. Die Betroffenen waren Teil eines großen Kollektivs, das Zehntausende Menschen umfasste. Mit der weitgehenden Zerschlagung der Werften blieb davon kaum noch etwas übrig. Dies hatte wiederum negative Auswirkungen auf die Kampfkraft der Gewerkschaften, insbesondere der IG Metall.

Wirtschaftsstruktur

Die Struktur der ostdeutschen Wirtschaft unterscheidet sich infolge des langen Niedergangs des produzierenden Gewerbes bedeutend von jener der alten Bundesrepublik. Große Industriebetriebe gibt es deutlich weniger als in Westdeutschland. Vorherrschend sind kleine und mittelgroße Firmen.

Mit der Bürde von vielen Niederlagen und dem allgegenwärtigen Druck der hohen Erwerbslosigkeit war es bis in die 2000er Jahre schwierig, gewerkschaftliche Hochburgen aufzubauen. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, war groß. Zusammen mit der sozialpartnerschaftlichen Ausrichtung der Gewerkschaftsführungen hemmte dies nicht wenige Kolleg*innen, sich einer Gewerkschaft anzuschließen und offensiv für die eigenen Rechte zu kämpfen.

„Leuchttürme“

Die Kehrseite der Medaille sind Städte in Ostdeutschland, wo sich moderne Industrie angesiedelt hat. Dresden sei hier genannt. Bereits zu DDR-Zeiten gab es mit Robotron eine Fabrik, die Mikrochips herstellte. In den letzten Jahrzehnten haben sich diverse Hersteller angesiedelt, die an dieser Tradition angeknüpft haben, zum Beispiel Infineon. Um diese Hersteller herum kamen eine Reihe von Zuliefererbetrieben dazu. Mit TSMC, einem der führenden Konzerne dieses Segments, gibt es eine weitere große Ansiedlung. In der Nähe von Magdeburg sollte ebenfalls eine riesige Intel-Fabrik entstehen, welche den modernen industriellen Goldstaub herstellen soll – allerdings hat Intel nun das Vorhaben erst einmal gestoppt.

Leipzig galt zum Beispiel schon in den 1990er Jahren als „Leuchtturm“. Mit der Ansiedlung von Konzernen wie Porsche, BMW und Siemens wurde die Grundlage für weitere Wertschöpfung gelegt. Jena, Erfurt, Potsdam oder Rostock gehören ebenfalls zur Riege von ostdeutschen Städten, die wirtschaftlich relativ gut dastehen. Wie wir in einem anderen Artikel darstellen, ist diese wirtschaftliche Entwicklung aber sehr ungleichmäßig. Die Ansiedlungen von Großkonzernen werden zudem zwar mit staatlichen Milliardenmitteln gefördert, aber nicht einmal eine Tarifbindung wird von ihnen verlangt.

Abgehängte Regionen

Die aufgeführten Beispiele sind in der Regel die größten Städte der jeweiligen ostdeutschen Bundesländer. Hier drückt sich ein Trend aus, der in ganz Deutschland und letztlich weltweit zu beobachten ist. Die Metropolen wachsen zulasten der Peripherie. Dies hat eine Negativspirale zur Folge: Gerade junge, gut qualifizierte Menschen wandern in die größeren Städte ab. Die schrumpfende Bevölkerung im Rest Ostdeutschlands liefert den bürgerlichen Parteien (und leider auch häufig der Linken) die Argumente, um Schulen oder Kliniken zu schließen und beim ÖPNV zu kürzen. Die Folge ist natürlich, dass die betreffenden Regionen noch unattraktiver werden.

Sinkende Arbeitslosigkeit

In den letzten zwanzig Jahren hat die Erwerbslosigkeit in Ostdeutschland deutlich abgenommen. So liegt die Quote in Thüringen (Januar 2024), dem ostdeutschen Bundesland mit den besten Kennziffern, mit 6,5 Prozent niedriger als etwa in Nordrhein-Westfalen mit 7,5 Prozent.

Längere Arbeitszeiten

Obwohl die „Wende“ fast 35 Jahre zurückliegt, gibt es bis heute eine Reihe von strukturellen Benachteiligungen für die abhängig Beschäftigten Ostdeutschlands. In einigen Branchen hat es in den letzten Jahren endlich die Angleichung der Löhne und Arbeitszeiten gegeben. Aber noch immer verweigern etwa die Unternehmer*innen der Metallindustrie die Übernahme der 35-Stunden-Woche im Rahmen des Flächentarifvertrags.

Im Jahre 2022 lagen laut dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung die Arbeitszeiten in Westdeutschland bei 37,5 und in Ostdeutschland bei 38,6 Stunden pro Woche.1

Niedrige Löhne

Es gibt in Ostdeutschland einen großen Niedriglohnsektor, etwa dreißig Prozent der Beschäftigten gehören diesem an. Die Unterschiede zu den Einkommen der alten Bundesrepublik sind noch immer bedeutend. Im vergangenen Jahr lagen die Ost-Bruttolöhne bei 82 Prozent der West-Bruttolöhne.2

Niedrigere Tarifbindung

Für rund 41 Prozent der Beschäftigten in Deutschland galt im Jahre 2022 ein Tarifvertrag. In Westdeutschland hat für 43 Prozent der Arbeiter*innen ein Branchentarifvertrag die Löhne und Arbeitsbedingungen geregelt. Für zehn Prozent der Beschäftigten galten Haustarifverträge.

In Ostdeutschland ist die Tarifbindung deutlich niedriger. Hier galten im Jahre 2022 für 33 Prozent der Beschäftigten ein Branchentarifvertrag. Zwölf Prozent arbeiteten in Betrieben mit Haustarifverträgen. Für 48 Prozent der Beschäftigten im Westen und 55 Prozent der Arbeiter*innen im Osten gab es keinen Tarifvertrag.3

Größere Streikbereitschaft

Die bessere wirtschaftliche Entwicklung hat dazu beigetragen, dass das Selbstvertrauen der ostdeutschen Arbeiter*innen gestiegen ist. Der zunehmende Mangel an Fachkräften tut sein Übriges, dass die abhängig Beschäftigten offensiver ihre Interessen vertreten und Streiks zugenommen haben.

Der Streik-Forscher Stefan Schmalz von der Uni Erfurt bringt es wie folgt auf den Punkt: „Die neue Generation von Beschäftigten im Osten hat nicht mehr die Wende-Erfahrungen in den Knochen. Das spürt man vor allem auch bei den Fachkräften. Sie wollen nicht mehr zur Jobsicherung Abstriche beim Lohn und den Arbeitsbedingungen machen wie noch die Generation vor ihnen. Das sieht man auch bei den Eigenkündigungsraten. Die Beschäftigten im Osten kündigen mittlerweile viel schneller von sich aus, weil sie bessere Jobs bekommen können. (…) Während die Erwerbsbevölkerung im Osten rund 13 Prozent der gesamtdeutschen Erwerbsbevölkerung ausmacht, finden rund ein Viertel aller Arbeitskonflikte dort statt. Denn noch immer sind die Löhne im Osten niedriger als im Westen. Dies spiegelt sich auch in den Streiks wider, die in den Betrieben geführt werden. Da geht es um höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen.“

Mehr „Häuserkämpfe“

Für die Entwicklung der Löhne ist ein starker Flächentarifvertrag von Vorteil für die Arbeiter*innenklasse. Die starken Betriebe unterstützen kleinere, gewerkschaftlich nicht so gut organisierte Firmen. Ein Tarifvertrag hat für viele Kolleginnen und Kollegen zur Folge, dass sie auf einen bestimmten Lohn, eine definierte Arbeitszeit, eine Mindestanzahl an Urlaubstagen und vieles mehr Anspruch haben.

Eine geringe Tarifbindung bedeutet, dass die Kolleg*innen in den betroffenen Betrieben selbst um die Regelung ihrer Arbeitsbedingungen kämpfen müssen. Das macht es einerseits schwerer gute Bedingungen durchzusetzen – gerade in Firmen, wo es aufgrund problematischer Rahmenbedingungen (hoher Anteil von Kolleg*innen, die einen zeitlich befristeten Arbeitsvertrag haben, Leihkräfte, Werkverträge, Minijobs, hohe Fluktuation) schwieriger ist, gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen. Andererseits übt dies einen „positiven Druck“ auf die Betroffenen aus. Man kann sich nicht, wie bei einer großen Tarifrunde, hinter den erfahreneren und kampferprobten Kolleg*innen aus anderen Betrieben „verstecken“.

Die Gewerkschaft „Nahrung-Genuss-Gaststätten“ (NGG) zum Beispiel hat eigenen Angaben zufolge im vergangenen Jahr insgesamt über 400 Arbeitskämpfe in Deutschland geführt, ein Rekordwert. Viele dieser Arbeitskämpfe fanden in Ostdeutschland statt.

Ein Blick auf die wichtigen Kämpfe von Beschäftigten, die stattfinden und stattgefunden haben, ist weiterhin nötig. Seit 2013 streiken zum Beispiel quasi jährlich Kolleg*innen bei Amazon u.a. im Leipziger Verteilzentrum für einen Tarifvertrag – und haben zumindest Lohnerhöhungen und Vereinbarungen zum Gesundheitsschutz erkämpft.

Beim Caterer Vielfalt-Menü konnten die Beschäftigten im ostsächsischen Kesseldorf einen wichtigen Erfolg durch Streiks erreichen. Nach monatelangem Kampf wurden Einkommensverbesserungen von bis zu 13 Prozent erzielt.

Bei Riesa Nudeln gab es in den letzten Jahren mehrere harte Auseinandersetzungen. Im Jahr 2022 mussten die Kolleginnen und Kollegen insgesamt sieben Wochen streiken. Am Ende gab es einen Tarifvertrag mit 18 Monaten Laufzeit und eine Lohnerhöhung um zwei Euro in der Stunde.

Im Gesundheitswesen und insbesondere in den Krankenhäusern kam es zu wichtigen und erfolgreichen Kämpfen – für Tarifverträge zur Mindestpersonalbemessung wie in Jena. Letzterer geht auf den Erfolg der Kolleg*innen an der Berliner Charité 2013 zurück, bei dem die Vorgängerorganisation der Sol eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Fazit und Ausblick

Über zwanzig Jahre lang war das Gebiet der ehemaligen DDR geprägt von dem historisch einmaligen, industriellen Kahlschlag der 1990er Jahre. Die Folgen der damit verbundenen Niederlagen, die hohe Erwerbslosigkeit und die Rolle der Gewerkschaftsbürokratie führten zu einer schwierigen Gemengelage im Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse. Lange Zeit stand die Angst vor dem Verlust des Jobs im Vordergrund. Zudem gab es viele abschreckende Beispiele für verloren gegangene Kämpfe. Das hat sich ins Gedächtnis der ostdeutschen Bevölkerung eingebrannt. Die kleinteiligere Wirtschaftsstruktur und geringere Tarifbindung erschwerten zudem objektiv die Organisierung des Widerstands der Beschäftigten.

Diese Rahmenbedingungen haben sich aber durch das relative Wirtschaftswachstum, die sinkende Erwerbslosigkeit und den Fachkräftemangel deutlich verändert. Zudem gibt es eine neue Generation Beschäftigter in den Betrieben, die die Rückschläge der Vergangenheit nicht erlebt hat.

Alles in allem gibt es bessere Voraussetzungen, um erfolgreiche Auseinandersetzungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten führen zu können. Die sind auch nötig: Die Inflation hat in Ost und West zu massiven Verlusten bei den Realeinkommen geführt. Die vielen, noch in erster Linie vereinzelt stattfindenden Arbeitskämpfe, die durchaus ansehnliche Ergebnisse vorzuweisen haben4, geben einen Eindruck davon, was möglich wäre, wenn Bewegungen von einer klassenkämpferischen Gewerkschaftsführung verallgemeinert würden.

In Ostdeutschland haben sich in den Gewerkschaften nach der Wende keine solch tiefen Beziehungen zur SPD entwickeln können, wie dies vor der Wende im Westen der Fall war. Parteipolitisch sind sicher weniger Funktionär*innen im Osten an die Sozialdemokratie gebunden. Es ist aber leider auch der Linken auf diesem Feld nie gelungen, tiefere Wurzeln zu schlagen und einen Beitrag dazu zu leisten, in den Gewerkschaften für einen Bruch mit Sozialpartnerschaft und SPD zu argumentieren.

Die geringere Flächentarifbindung und die gesunkenen Mitgliedszahlen sind auch ein Problem für den gewerkschaftlichen Apparat und die Organisation von Kämpfen – wenige Sekretär*innen müssen oft zu viele Betriebe gleichzeitig betreuen. Um diesem Trend entgegenzuwirken, stehen damit aber auch die Hauptamtlichen des Gewerkschaftsapparats mehr unter Druck, kämpferischer aufzutreten, die Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben einzubinden, um den Widerstand der jeweiligen Kapitalist*innen zu brechen und um Erfolge erzielen zu können, Mitglieder zu gewinnen und damit eine Basis für ihre Arbeit aufzubauen.

Das Ganze hat jedoch seine Grenzen. Solange sich die Gewerkschaften in den Händen einer auf Sozialpartnerschaft ausgerichteten Bürokratie befinden, die sich nicht grundlegend mit dem Kapitalismus anlegen will, werden auch in Ostdeutschland Kämpfe von Beschäftigten immer wieder Gefahr laufen, ausgebremst und sabotiert zu werden, wie das in der Vergangenheit der Fall war. Daher ist es wichtig, dass sich kritische Kolleg*innen in den Betrieben und Gewerkschaften vernetzen und in Ost- und Westdeutschland eine politische und personelle Alternative zur Gewerkschaftsbürokratie aufbauen.

Mit dem Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di5 gibt es einen wichtigen Ansatzpunkt. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG)6 bringt Kolleg*innen aus den verschiedenen Branchen zusammen.

Partei von und für Arbeiter*innen nötig

Neben dem Ziel, die Gewerkschaften zu verändern, stellt sich zudem dringender denn je die Aufgabe für die Arbeiter*innenbewegung, eine eigene, politische Interessenvertretung aufzubauen.

Angesichts der ökonomischen Krise und den Forderungen aus „der Wirtschaft“ nach einer neuen „Agenda“ ist klar, dass der Klassenkampf von oben in den nächsten Jahren verschärft wird. Das wird Widerstand provozieren. Die Sol setzt sich dafür ein, diesen auf allen Ebenen zu organisieren – ob in von Kürzungen betroffenen Kommunen, von Stellenabbau und Werksschließungen betroffenen Betrieben oder wenn eine Bundesregierung die Hand ans Streikrecht oder die Arbeitszeitgesetzgebung legt. Die Gewerkschaften als millionenstarke Organisationen haben aufgrund ihrer potenziellen Macht eine besondere Rolle dabei zu spielen.

Aber um letztlich erfolgreich zu sein, braucht dieser Widerstand auch eine politische Organisation: eine Partei VON Lohnabhängigen, Jugendlichen, Rentner*innen und sozial Benachteiligten und FÜR Lohnabhängige, Jugendliche, Rentner*innen und sozial Benachteiligte und deren Klasseninteressen. Eine solche politische Kraft ist nötig, um die verschiedenen Kämpfe der Arbeiter*innenklasse zu bündeln und in einem Programm mit gemeinsamen Forderungen und einer Alternative zum Kapitalismus zu vereinen, um sie den Konzernparteien gegenüberzustellen.

Solch eine Partei gibt es heute noch nicht. Gewerkschafter*innen müssen die Diskussion, wie man zu solch einer Partei kommt, in ihre Organisationen tragen. Die Linke hat zwar einen sozialistischen Anspruch, aber wird dem aber nicht gerecht. Besonders dort, wo sie sich an Regierungen mit SPD und Grünen beteiligt hat, hat sie allzu oft kapitalistische Sachzwänge akzeptiert und sich an Privatisierungen und Kürzungen beteiligt. Sie wird sich nicht einfach zu einer sozialistischen Massenpartei von Arbeiter*innen und Jugendlichen entwickeln. In der Partei muss daher eine Debatte dazu stattfinden, wie ihr Beitrag zur Bildung einer solchen Massenpartei aussehen kann, und um einen dafür nötigen Kurswechsel gerungen werden.

Überall, wo es Kämpfe gibt, werden Aktivist*innen die Erfahrung machen, dass man eine politische Vertretung braucht. Eine Partei, die aus solchen Kämpfen und Quellen entsteht, wird in der Lage sein, Millionen zu begeistern und zu aktivieren.

Torsten Sting ist ehemaliger ver.di-Betriebsrat und Mitglied des Sol-Bundesvorstands. Er lebt in Rostock. Dieser Text stammt aus der Broschüre „Von wegen blühende Landschaften – Zu Politik, Ökonomie und Klassenkampf in Ostdeutschland. Diese ist für 3 Euro zzgl. Versandkosten unter info@solidaritaet.info bestellbar.

1Arbeitszeiten: https://www.wsi.de/de/wochenarbeitszeit-15326.htm

2Löhne: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/lohnluecke-ost-west-100.html

3Tarifbindung: https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-5/tarifbindung-arbeitnehmer.html

4Streiks: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1180443.streiks-ngg-im-osten-gewerkschaft-im-aufbruch.html

5Siehe hier: https://netzwerk-verdi.de/

6Siehe hier: https://vernetzung.home.blog/