Vor 20 Jahren: AufRuhr in Rheinhausen

1987 fand der bisher bedeutendste Kampf gegen eine Betriebsschließung statt.

Das Jahr 1987 begann mit einem Wahlsieg der Kohl-Regierung und endete mit einem Auf Ruhr” im Ruhrgebiet. Der damalige SPD-Fraktionschef im Landtag von NRW, Friedhelm Fahrtmann erklärte Ende 1987: „In Rheinhausen haben wir kurz vor Weihnachten eine vorrevolutionäre Situation erlebt, wie wir sie nach dem zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik noch nicht hatten.”

von Ursel Beck

Am 26.11.1987 erfuhren die Betriebsräte der Krupp-Stahl AG in Rheinhausen zufällig, dass das Werk Rheinhausen bis August 1988 geschlossen und die Produktion zu Mannesmann und Thyssen verlagert werden soll. Am Tag darauf stand die Produktion still. Alle drei Schichten legten die Arbeit nieder und demonstrierten durch Rheinhausen. Auch am 28. und 29.11. wurde nichts produziert. Am 30.11. fand eine außerordentliche Betriebsversammlung mit 10.000 TeilnehmerInnen statt. Krupp-Chef Cromme mußte sich hinter Plexiglasscheiben gegen Eier und Apfelsinen verschanzen. Diese Betriebsversammlung war der Auftakt eines Arbeitskampfes wie ihn die Republik bis dahin und seither nicht mehr gesehen hat. Am 1.12. sperrten dreißig Stahlarbeiter die Rheinbrücke nach Duisburg. Am nächsten Morgen waren es bereits Hunderte und im Laufe des Tages Tausende. Den ganzen Tag waren die wichtigsten Verkehrsadern Tag gesperrt. Der Polizei blieb nichts anders übrig als den Verkehr umzuleiten.

Arbeiterkontrolle

Die Belegschaft wählte für ihren Protest gegen die Betriebsschließung und die damit verbundene Vernichtung von 6.300 Arbeitsplätzen eine „stille Besetzung”. Die Produktion lief weiter, aber unter Kontrolle der Stahlkocher. Mehrmals wurden für Stunden, Tage und eine Woche die Arbeit niedergelegt. Zeitweise war das Betriebsratsbüro 24 Stunden besetzt, damit sich Kollegen jederzeit Informationen abholen konnten. Es wurde ein eigener Fernsehsender, der „offene Kanal”, aufgebaut und über eine Großantennenanlage direkt in die Kruppschen Werkswohnungen gesendet.


“Wir entscheiden, ob und wann produziert wird, wir steuern die Produktion und teilen Notbesetzungen ein, wir selbst fahren in Eigenverantwortung die Anlage – und viele unserer Vorgesetzten helfen uns dabei. „Hier betreten Sie den demokratischen Sektor” hätte eigentlich an allen Werkstoren während unser stillen Betriebsbesetzung stehen müssen. Denn faktisch war unser Betrieb für alle geöffnet. Damit wurde auch ausgedrückt, was jeder weiß: Krupp ist ein Teil von Rheinhausen, also kann auch jeder diesen Teil betreten. Wir haben nichts zu verschweigen, im Gegenteil: Wir haben viel zu sagen und lassen uns nicht von der Rheinhauser Bevölkerung abtrennen. Unser Druckmittel gegenüber dem Vorstand ist der Streik. Es tut ihnen weh, wenn kein Material geliefert wird. Sie haben ihre Fristen einzuhalten, und so schnell können sie nicht umstrukturieren. Dieses Druckmittel geben wir nicht aus der Hand und wollen es immer wieder einsetzen, bis der Vorstandsbeschluß vom Tisch ist.”

Aus „Dokumentation der Krupp-Stahlarbeiter in Rheinhausen“


Bevölkerung kämpft mit

Die Kruppianer verstanden es wie keine andere Belegschaft vorher, ihren Protest in andere Belegschaften und in die Bevölkerung zu tragen. Bei der Betriebsversammlung am 30.11. waren von den 10.000 Teilnehmern mindestens 4.000 keine Werksangehörigen. Während des gesamten Arbeitskampfes blieben Betriebsversammlungen öffentliche (Protest)Veranstaltungen. Betriebsbesuche wurden organisiert, öffentliche Protestaktionen wie Brückenbesetzungen, Demos und Fackelzüge organisiert. Aufsichtsratssitzungen wurden gestürmt und die leckeren Büffets abgeräumt. Sogar die Villa Hügel in Essen, seit Generationen prunkvoller Herrschaftssitz der Krupp-Bosse, mußte den Ansturm ihrer Untertanen ertragen.

Die Werkskantine wurde geöffnet. Hier tagte das Bürgerkomitee, das schon 1979 gegen die Schließung eines Krankenhauses gegründet wurde und jetzt den Kampf um den Erhalt der Hütte unterstützte. Zweimal wöchentlich tagte das Bürgerkomitee. 800 bis 1.000 Menschen nahmen daran teil. Es entstand eine Fraueninitiative mit 500 Aktivistinnen. Am 28. Januar 88 gingen 15.000 Schüler für die Arbeitsplätze ihrer Eltern und ihre Zukunft auf die Straße.

Regionaler Generalstreik am 10.12.87

Ein Höhepunkt des AufRuhrs in Rheinhausen war der Stahlaktionstag im Ruhrgebiet am 10.12.1987. An diesem Tag fand im Ruhrgebiet ein regionaler Generalstreik statt. Stahlarbeiter verschiedener Werke und Bergleute bauten Straßensperren, Bauern und Arbeiter legten den Brückenverkehr lahm. Studentinnen sperrten eine Hauptverkehrsstraße. Sämtliche wichtigen Straßen in Duisburg einschließlich der Rheinbrücken waren gesperrt. Hafenarbeiter machten die Hafeneinfahrt dicht, um einen Erz-Transport für Krupp zu verhindern. Die Hoesch-Kollegen blockierten die B1 und schnitten dadurch Dortmund vom Revier ab. In Bochum schmissen an diesem Tag 15.000 Opel Kollegen die Brocken hin. Im ganzen Ruhrgebiet kam es zu spontanen Arbeitsniederlegungen und Protestkundgebungen, an denen sich insgesamt 200.000 Menschen beteiligten. Den Herrschenden jagte dieser Tag Angst und Schrecken ein. Die Krupp-Stahlwerker schrieben über diesen Tag: „Der 10.12.87 hat eines gezeigt: Wenn wir aufstehen, können wir etwas bewegen; und wir sind mächtig, wenn wir gemeinsam kämpfen.”

Bundesweite Solidaritätsbewegung

Der Kampf um Rheinhausen hatte bundesweite und international eine enorme Ausstrahlung. Aktive Gewerkschafter, Vertrauensleute und kämpferischen Betriebsräte aus allen Ecken und Enden der BRD fuhren nach Rheinhausen, um den Kampf zu unterstützen und von diesem Kampf für ihren Betrieb und ihre Region zu lernen. Unter dem Motto „Wir lassen Euch nicht allein, ums Verrecken nicht“ fand im Februar 1988 im alten Walzwerk von Krupp das „AufRuhr-Stahl-Festival“ statt. Mit 40.000 Teilnehmern war es bis dahin das größte Hallenfestival Europas. Die bundesweite und auch internationale Solidarität war wiederum ein Faktor dafür, dass die Stahlkumpel so lange durchhielten.


Ich meine, dass uns Rheinhausen so etwas wie eine (das Wort stammt von Fahrtmann) revolutionäre Situation beschert hat, einen historischen Moment, den wir seit langem schon nicht mehr gehabt haben, ein Vorgefühl von Macht bei den Leuten, die das Empfinden hatten: wenn wir alle hier zusammen aufstehen, dann können wir was bewegen. Das war der 10. Dezember. Er ist für mich ein ganz einscheidender historischer Tag, weil er deutlich gemacht hat: es gibt so was wie Umbruchsituationen, Chancen einer großen Veränderung, was bei vielen durch Wirtschaftswunder und Wiederaufbau völlig aus dem Bewusstsein verschwunden war.“

Theo Stegmann, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender bei Krupp-Rheinhausen, zitiert in der Deutschen Volkszeitung vom 20.5.1988


Die Stahlbosse erkannten, wie gefährlich die Lage für sie und das gesamte System war, wenn sich in den Köpfen der Arbeiter die Erkenntnis der eigenen Macht verfestigt. Sie beeilten sich in dieser brenzligen Situation, Zugeständnisse zu machen und bekamen dabei tatkräftige Unterstützung von der SPD-Landesregierung und der IG-Metall-Spitze in Frankfurt. Für die Stahlarbeiter wiederum war das neu erlangte Gefühl von Macht Ansporn dafür in der bevorstehenden Stahltarifrunde, noch eins draufzusetzen und beide Kämpfe miteinander zu verbinden.

Bei einer Auftaktveranstaltung zur Tarifrunde am 14.1.1988 sagte der stellvertretende BR-Vorsitzende von Krupp Rheinhausen, Theo Steegmann, vor 4.000 Vertrauensleuten: „Nicht umsonst springen jetzt die politischen Helfershelfer des Kapitals – Bangemann und Lambsdorff – ihm zur Seite und versuchen zu retten, was zu retten ist. Sie fürchten das Vorgefühl von politischer Macht, das an diesem Tag bei den Kollegen entstanden ist.” Am Ende seiner Rede fragte Theo Steegmann „Wer ist für sofortige Urabstimmung?” – alle hoben die Hand.

Vergesellschaftung der Stahlindustrie

Ein Hoesch-Kollege führte kurz darauf eine weitere Abstimmung durch: „Wer ist für die Vergesellschaftung?” und wieder gingen alle Hände hoch. Am 20. Januar 1988 traten 50.000 Stahlarbeiter in den Warnstreik. Duisburger und Dortmunder Stahlarbeiter tauften die Rheinbrücke in Rheinhausen um in „Brücke der Solidarität”.

Wenn am Ende des Kampfes von Rheinhausen, das Ziel Erhalt aller Arbeitsplätze nicht erreicht werden konnte, dann lag das nicht an den Kolleginnen und Kollegen von Krupp. Es fehlte auch nicht an der Bereitschaft anderer Belegschaften zu Solidaritätsstreiks. Das einzige was fehlte, war die Bereitschaft der IGM- und DGB-Führung den Kampf zu unterstützen. „Obwohl es hier eine große Bewegung und viel Öffentlichkeit gab, hat uns die IGM den Rücken zugedreht; sie hat uns nicht unterstützt.” (Helmut Laakmann, führender Aktivist von Krupp-Rheinhausen)

Die IGM-Führung hatte sich in der sogenannten „Frankfurter Vereinbarung” im Juni 1987 schon darauf eingelassen, daß trotz 2,5 Millionen Arbeitsloser weiter Arbeitsplätze in der Stahlindustrie verloren gehen sollten und fiel damit allen Belegschaften und Betriebsräten in den Rücken, die einen konsequenten Kampf um Arbeitsplätze und Standorte verlangten.

Auf dem IGM-Gewerkschaftstag von 1983 war die Vergesellschaftung der Stahlindustrie beschlossen und später in dem sogenannten stahlpolitischen Programm konkretisiert worden. Immer wieder wurde von den Linken in der IGM bis hin zu Hans Janssen (von 1977 bis 1986 im Hauptvorstand der IGM) gefordert, daß der Kampf in Rheinhausen verbunden wird mit dem Kampf für die Überführung der Stahlindustrie in Gemeineigentum. Die IGM-Führung ignorierte dies, tat nichts, um den Kampf auszudehnen und brachte ihrerseits ihre Variante des „sozialverträglichen” Arbeitsplatzabbaus ins Spiel.

Unter dem Druck des Kampfes waren die Stahlbosse zu einer relativ großzügigen Sozialplanregelung bereit und versprachen außerdem, 1.500 „Ersatzarbeitsplätze” zu schaffen.

1993 wurde das Werk in Rheinhausen geschlossen. Auf die 1.500 versprochenen Ersatzarbeitsplätze warteten die Stahlarbeiter vergebens. Die SPD-Landesregierung zahlte Krupp hohe Summen für Grundstücke und errichtete den sogenannten „Business-Park”. Die Rheinhauser nennen diesen Park spöttisch „Is-nix-Park”,

Geschichte gemacht

Nach 173 Tagen endete die Auseinandersetzung um Rheinhausen im Mai 1988. Wenn auch der Kampf um Stahlwerk und Arbeitsplätze verloren ging, so war er dennoch nicht umsonst. Ohne Kampf wäre das Stahlwerk fünf Jahre früher geschlossen worden und hätten die Stahlkocher von Rheinhausen nicht einen der besten Sozialpläne in der Nachkriegsgeschichte bekommen. Aus Angst vor einer Eskalation des Kampfes machten die Stahlbosse in der Tarifrunde “88 trotz Stahlkrise bereits nach ersten Warnstreiks Zugeständnisse. Die Kumpels im Bergbau und die Kollegen von Opel Bochum wurden durch den Kampf in Rheinhausen bei den Auseinandersetzungen in ihren Betrieben vorübergehend gestärkt und erhielten ebenfalls Zugeständnisse.

Die Stahlarbeiter von Rheinhausen haben mit ihrem Kampf Geschichte gemacht, auf den sich auch spätere Belegschaften bezogen haben, bei Zechenschließung im Aachener Revier , beim Kampf um den Erhalt der Kaligrube im thüringischen Bischofferode und zuletzt beim Streik der Opel-Belegschaft. Straßenblockaden gehören seit Rheinausen zum Arsenal der Kampfmittel in Arbeitskämpfen. Aber nirgends wurde seither ein vergleichbares Niveau eines Kampfes erreicht. Historisch betrachtet war Rheinhausen nicht nur Höhepunkt, sondern auch End- und Wendepunkt der aufsteigenden Linie von betrieblichen Kämpfen der 70er und 80er Jahre. Die Stahlarbeiter waren durch die Arbeitsplatzvernichtung in den Rezessionen Mitte der 70er und Anfang der 80er Jahre radikalisiert . Im Gegensatz zu heute gab es eine Schicht von Funktionären und Kollegen, die zumindest eine vage Vorstellung davon hatte, dass es eine nichtkapitalistische Produktionsweise gibt und keine Angst davor hatten die Machtfrage zu stellen. Diese Schicht bewusster Gewerkschafter hatte gegen alle Widerstände der IGM-Bürokratie die 35-Stunden-Woche und die Vergesellschaftung der Stahlindustrie zum Programm der IGM gemacht. Im Winter 1978/79 wurde in den Stahlbuden der erste Streik für die 35-Stunden-Woche geführt. Bei den Betriebsratswahlen im Frühjahr 1987 brachte eine Reihe kämpferischer Kollegen frischen Wind in den Betriebsrat des Kruppwerks in Rheinhausen. Gestützt auf die Kampfbereitschaft der Stahlwerker nutzten sie ihre Position dazu den Kampf mit anzuführen.

Lehren ziehen

Auch wenn 20 Jahre nach Rheinhausen die IGM-Führung ohne großen Widerspruch die 35-Stunden-Woche begraben kann, auch wenn die Vergesellschaftung der Produktionsmittel kaum mehr im Bewusstsein vorhanden ist, auch wenn es aussieht, als ob Arbeitskämpfe wie in Rheinhausen, nicht mehr möglich seien, nichts bleibt wie es ist. Der Maulwurf der Geschichte wühlt. Früher oder später werden die Arbeiter wieder an der Tradition von Rheinhausen anknüpfen. Der wilde Streik bei Opel Bochum 2004, der Marsch der Mettinger Daimler-Beschäftigten auf der B 10 im selben Jahr, der 107 Tage lange Streik bei CNH in Berlin 2005/6, der Kampf bei AEG in Nürnberg und BSH 2006, die Besetzung der Radfabrik Nordhausen2007 und nicht zuletzt der Streik der GDL sind die ersten Anzeichen einer wiedererwachenden Radikalität und Entschlossenheit im Klassenkampf. Und in den anstehenden Kämpfen wird sich auch das antikapitalistische Bewusstsein entwickeln, das dazu führen wird, dass in den Betrieben und in der Gesellschaft die Machtfrage wieder neu gestellt und die betrieblichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen auf eine neue Stufe heben wird. Deshalb ist die Erinnerung an Rheinhausen 20 Jahre später keine Nostalgie, sondern Ermutigung und Ansporn für die aktuellen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig ist es notwendig, daß sich kämpferische Kolleginnen regional, bundesweit und international zusammenschließen und eine innergewerkschaftliche Opposition aufbauen, um zu verhindern, daß die Gewerkschaftsführung immer wieder Gelegenheit bekommt, Kämpfe abzuwürgen oder wie im Fall von Rheinhausen am Ende auflaufen zu lassen.

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