Steht der Faschismus schon vor der Tür?

Zum Wachstum von rechten Kräften wie Reform in Großbritannien

Angesichts der in den Meinungsumfragen führenden rechtspopulistischen Reformpartei und mehr als 100.000 Demonstrant*innen, die nach Aufruf von Tommy Robinson auf die Straße gegangen sind, bewertet HANNAH SELL das Wachstum der extremen Rechten in Großbritannien und die Aufgaben, vor denen die Arbeiter*innenbewegung steht.

Artikel Socialism Today (Ausgabe 291; Oktober 2025)

In aktuellen Umfragen liegen Labour und die Tories mit jeweils 16 Prozent Kopf an Kopf auf einem beispiellos niedrigen Niveau. Mehr als zwei Drittel der Wähler*innen haben sich von den traditionellen großen Parteien Großbritanniens abgewandt.

Die Unzufriedenheit unter den Hinterbänkler*innen der Labour-Partei wächst, ebenso wie die Gerüchte über einen Rücktritt von Starmer, in der Hoffnung, dass ein neues Gesicht ihre missliche Lage beheben könnte. Aber es ist die Fortsetzung der Sparpolitik der Regierung und ihr Versagen, die öffentlichen Dienstleistungen oder den Lebensstandard zu verbessern, die die Wurzel ihrer Probleme sind, und nicht Starmers Mangel an Charme. Dies ist das unvermeidliche Ergebnis der Rolle der Labour-Partei als treue Handlanger des kranken britischen Kapitalismus. Die Warnleuchten auf dem Armaturenbrett der Weltwirtschaft blinken, aber schon vor einer neuen Krise stagniert das Wachstum in Großbritannien, und die Kosten für die Staatsverschuldung haben den höchsten Stand seit 1998 erreicht. Die Kapitalist*innen fordern von der Labour-Partei als Reaktion darauf weitere Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse. In dieser Situation kann der Haushalt im November die Wut der Bevölkerung auf diese ohnehin schon verhasste Regierung nur noch verstärken.

Die Schwächung oder Zersplitterung traditioneller etablierter Parteien ist ein internationales Phänomen, das auch in Großbritannien deutlich zu beobachten ist. In vielen Ländern sind rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien und Politiker*innen in das entstandene Vakuum vorgedrungen. Trumps Wiederwahl, wenn auch auf den Trümmern der Republikanischen Partei, symbolisiert diesen Trend, aber er ist nicht allein. In Europa hat Italien seit 2022 eine Ministerpräsidentin der rechtsextremen Partei Fratelli d’Italia, Giorgia Meloni. Bei den letzten Parlamentswahlen in den Niederlanden lag die Partei für die Freiheit von Geert Wilders mit 23 Prozent der Stimmen an erster Stelle. Sein Rückzug aus der Regierungskoalition hat Neuwahlen ausgelöst, die im Oktober stattfinden sollen, und die Partei für die Freiheit liegt derzeit in den Umfragen bei 32 Prozent. In Frankreich liegt Le Pens Rassemblement National auf einem ähnlichen Niveau, während in Deutschland die rechtsextreme Alternative für Deutschland um den ersten Platz in den Umfragen kämpft.

Nun geschieht etwas Ähnliches in Großbritannien, wo Nigel Farages rechtspopulistische Reformpartei (auch Reform genannt) derzeit in den Umfragen führt. Für viele Arbeiter*innen und junge Menschen, insbesondere diejenigen, die am stärksten unter der spaltenden Rhetorik von Farage und anderen leiden, schürt dies ein wachsendes Gefühl der Sorge über die Zukunft. Kein Wunder. Zuerst versuchten die Tories und nun die Labour-Regierung, die Reformpartei mit Anti-Migranten-Propaganda zu übertrumpfen. Labour hat die Unterdrückung von Protesten verstärkt – insbesondere durch das Verbot von „Palestine Action“. Gleichzeitig dominierten im Sommer die Proteste vor mehreren Hotels, in denen Asylsuchende untergebracht sind, die Nachrichten, und am 13. September werden schätzungsweise mehr als 100.000 Menschen an der von dem rechtsextremen Prominenten Tommy Robinson organisierten Demonstration „Unite the Kingdom“ teilnehmen. Die Angst vor Übergriffen und Angriffen nimmt unter Minderheiten zu.

Die Notwendigkeit, dass die Arbeiter*innenbewegung Maßnahmen ergreift, ist offensichtlich, aber handelt es sich bei der Situation, mit der wir konfrontiert sind, um Faschismus?
Das ist eine Schlussfolgerung, die häufig von der Linken gezogen wird. Die Socialist Workers’ Party (SWP) begann ihren Bericht über die Demonstration „Unite the Kingdom” mit der Beschreibung „ein Schwarm von über 100.000 Faschist*innen und Rassist*innen”.
Die linke Abgeordnete Zarah Sultana spricht von „Faschismus, der vor der Tür steht”, und Jeremy Corbyn kam in einem Artikel mit dem Titel „Labour ebnet den Weg für den Faschismus”, der am 1. September in der „Tribune“ veröffentlicht wurde, aufgrund der jüngsten Ereignisse zu dem Schluss, dass „dies Anzeichen für ein Land sind, das sich auf einer schlüpfrigen Bahn in Richtung Faschismus befindet. Dieser Begriff sollte nicht leichtfertig verwendet werden. Viele Handlungen sind an sich schon erschreckend genug, ohne dass sie diese Bezeichnung verdienen. Aber Vorsicht, Faschismus kommt nicht über Nacht in Uniform. Er kommt mit passenden Politiker*innen und einem Gesetzesvorhaben nach dem anderen.“

Jeremy Corbyn hat seinen Artikel zu Recht genutzt, um für die Notwendigkeit einer Alternative zu argumentieren, die „Flüchtlinge nicht zum Sündenbock für die Übel der Gesellschaft macht“, sondern „unsere Aufmerksamkeit auf die wahre Ursache lenkt: eine grotesk ungleiche Gesellschaft, in der sich der Reichtum in den Händen einiger weniger konzentriert“, und um auf das Potenzial für den Aufbau einer solchen Alternative hinzuweisen, das seine und Zarah Sultanas Erklärung zur Gründung von „Your Party“ zeigt. Für die rechten Gewerkschaftsführer*innen wird Reform als Schreckgespenst benutzt, um zu versuchen, die weitere Unterstützung der Labour-Partei zu rechtfertigen. Dieser Ansatz wird jedoch nur den Erfolg von Reform garantieren. Der Aufbau einer Arbeiter*innenpartei mit einem klaren antirassistischen sozialistischen Programm ist eine der zentralen Aufgaben, denen sich die Arbeiter*innenbewegung stellen muss, wenn sie das Wachstum der Rechten bekämpfen will, was dringend notwendig ist.

Um die Aufgaben unserer Bewegung bewältigen zu können, ist es jedoch notwendig, zunächst eine genaue Einschätzung der gesellschaftlichen Lage vorzunehmen – insbesondere des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen. Wenn tatsächlich 100.000 Faschisten durch die Straßen Londons marschiert wären, befänden wir uns in einer ganz anderen und weitaus gefährlicheren Situation als heute. Wir unterschätzen die Dringlichkeit der Aufgaben nicht, aber es ist ein sehr schwerwiegender Fehler, sich vorzustellen, dass wir in Großbritannien oder anderen Ländern vor der Aussicht stehen, dass der Faschismus an die Macht kommt. So abstoßend Trump und Meloni auch sein mögen, sie stehen nicht an der Spitze faschistischer Regime. Auch eine Reformregierung wäre nicht faschistisch. Im Gegenteil, es wäre eine schwache und höchst instabile Regierung, die wahrscheinlich vom ersten Tag an mit massivem Widerstand der Arbeiter*innenklasse konfrontiert wäre.

Was ist Faschismus?

Leo Trotzki, einer der wichtigsten Führer der Russischen Revolution, verfasste in den 1920er und 1930er Jahren wertvolle Analysen über den Aufstieg des Faschismus und wie er besiegt werden könnte. Er unternahm erhebliche Anstrengungen, um falsche oder voreilige Definitionen des Faschismus zu vermeiden, da diese zu zutiefst falschen Schlussfolgerungen über die Perspektiven des Kampfes der Arbeiter*innenklasse führten. Ein faschistisches Regime stellt die schwerste Niederlage für die Arbeiter*innenklasse dar, einen vollständigen Triumph der Konterrevolution. Dies war der Unterschied zwischen Hitlers Machtübernahme in Deutschland und den verschiedenen halb-diktatorischen Regimen, die ihm vorausgingen. Unter diesen Regimen gab es für die Arbeiter*innenklasse noch eine Chance, ihre Kräfte neu zu sammeln und die kapitalistische Reaktion zu besiegen, während das Nazi-Regime die Arbeiter*innenklasse zersplitterte und alles, was über einen geheimen Untergrundkampf hinausging, für lange Zeit unmöglich machte.

Als der Faschismus 1922 in Italien und elf Jahre später in Deutschland an die Macht kam, war die Lage ganz anders als heute. Nach der Russischen Revolution von 1917, in der der Kapitalismus zum ersten Mal gestürzt worden war, hatte eine revolutionäre Welle Europa erfasst. Der Arbeiter*innenklasse außerhalb Russlands fehlte jedoch die notwendige Führung, um die bestehende Ordnung erfolgreich zu stürzen, und die revolutionären Massenbewegungen wurden niedergeschlagen. Die herrschende Klasse, sah keinen anderen Ausweg zum Erhalt ihrer Macht und ihres verrotteten Systems sowie der Zerschlagung der Arbeiter*innenklasse, die sich anschickte, ihr diese Macht zu entreißen, als sich den Kräften des Faschismus zuzuwenden: einer Massenbewegung, die hauptsächlich aus verarmten und wütenden Mittelschichten, Kleinunternehmer*innen, Bäuerinnen und Bauern bestand. Die Mehrheit dieser mittleren Schichten hatte zunächst auf die Arbeiter*innenklasse als Retterin gehofft, doch nach wiederholten Niederlagen wurden sie zum Rohstoff für eine reaktionäre Bewegung, die darauf abzielte, die Organisationen der Arbeiter*innenklasse zu zerstören und ihre kollektive Macht zu zersplittern. Der Faschismus siegte erst nach der Niederlage mehrerer Wellen von Arbeiterrevolutionen, die auf eine falsche Führung zurückzuführen waren.

In Italien unterstützte und finanzierte die Kapitalist*innenklasse nach mehreren Jahren gigantischer Arbeiter*innenkämpfe und nach der Niederlage eines Generalstreiks im August 1922 die Faschisten, um Gewerkschaftsorganisationen zu zerschlagen und Gewerkschaftsführer*innen zu ermorden. In Deutschland waren Ende 1932 schätzungsweise zwei Millionen Männer in den „Braunhemden“ organisiert, den paramilitärischen Einheiten der Nazis, die Krieg gegen die Arbeiter*innenorganisationen führten. Nach ihrer Machtübernahme errichteten die Faschisten totalitäre Regime, die die Arbeiter*innenorganisationen und alle Elemente der Demokratie auslöschten. In Deutschland wurden innerhalb von sechs Monaten nach der Machtübernahme mehr als 100.000 Kommunist*innen und Sozialist*innen als erste in Konzentrationslager deportiert.

Heute stehen wir vor einer völlig anderen Situation. Die Regierung Meloni in Italien hat nicht versucht, die Organisationen der Arbeiter*innenklasse zu zerschlagen, aber diese werden wahrscheinlich zu einem bestimmten Zeitpunkt versuchen, die Regierung zu stürzen. Bereits jetzt sind die italienischen Gewerkschaften international führend, wenn es darum geht, Solidaritätsstreiks mit den Palästinensern zu organisieren, mit weit verbreiteten Streiks und Hunderttausenden Demonstrant*innen wie am 22. September. Die Unterstützung für all diese rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien ist überwiegend wahlstrategischer Natur, und keine von ihnen verfügt über einen bewaffneten Flügel. In Frankreich beispielsweise liegt die rechtsextreme Partei Rassemblement National derzeit in den Umfragen vorn, aber sie organisiert keine Angriffe auf die Organisationen der Arbeiter*innenklasse, die nach einer Phase scheinbarer Zurückhaltung entschlossen in den Kampf eingestiegen ist.

Wir machen uns keine Illusionen: Die kapitalistischen Klassen dieser Welt sind nicht weniger skrupellos als vor einem Jahrhundert. „Mit allen Mitteln“ lautet nach wie vor ihr Ansatz zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft. Der Kapitalismus basiert weiterhin auf Nationalstaaten, und die Kapitalist*innen sind nach wie vor bereit, tief verwurzelte nationalistische Gefühle zu schüren, wann immer dies notwendig ist. Beispielsweise um Kriege zu rechtfertigen oder um mit der Strategie „Teile und herrsche“ ihre Herrschaft vor sozialen Aufständen und Revolutionen zu verteidigen. Der Staatsapparat ist heute wie damals nicht neutral, sondern verteidigt letztlich die Interessen der herrschenden Klasse.

Dennoch waren die Kapitalist*innen durch ihre Erfahrungen mit dem Faschismus im 20. Jahrhundert schwer gezeichnet. Ja, die Gefahr einer sozialistischen Revolution war für eine gewisse Zeit gebannt, aber sie verloren die Kontrolle über ihre Staaten an die Faschisten. Das Ergebnis war millionenfacher Tod und die beispiellose Zerstörung im Zweiten Weltkrieg sowie in dessen Folge eine Schwächung des Kapitalismus auf internationaler Ebene mit der Stärkung des stalinistischen Blocks, wodurch die Hälfte der Welt für Jahrzehnte von der imperialistischen Herrschaft abgeschnitten war. Darüber hinaus ist in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die wichtigste soziale Basis für den Faschismus – die „Mittelschicht“ – heute viel kleiner.

Wenn sie nicht mehr über die kapitalistische Demokratie herrschen können, versuchen sie eher den Weg der Militärdiktaturen, die zwar immer noch eine gewisse Unabhängigkeit von der herrschenden Klasse haben, deren Interessen sie letztlich vertreten, aber dennoch viel leichter zu kontrollieren sind als die rasenden Massen des Faschismus.

Das derzeitige Kräfteverhältnis

Derzeit haben die Kapitalist*innen jedoch in keinem der wirtschaftlich entwickelten Länder, nicht zuletzt in Großbritannien, Anlass, diesen Weg einzuschlagen, und die Arbeiter*innenklasse hat die Möglichkeit, dem Kapitalismus ein Ende zu setzen, bevor wir mit dieser Perspektive konfrontiert werden. Heute befinden wir uns in einer frühen Phase des Kampfes – die Kapitalist*innenklasse hat große Schwierigkeiten, stabile Regierungen zu finden, die in ihrem Interesse handeln, was letztlich auf die Krankheit ihres Systems zurückzuführen ist –, aber ihre Herrschaft ist noch nicht ernsthaft bedroht.

Die Arbeiter*innenklasse hat begonnen, sich von der „langen dunklen Nacht“ zu erholen, die sie am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchlebt hat. Dies war die Zeit nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Russland und Osteuropa. Auch wenn diese Regime nichts mit echtem Sozialismus zu tun hatten, war ihr Zusammenbruch dennoch ein Sieg für die Kapitalist*innen weltweit und eine schwere Niederlage für die Arbeiter*innenklasse. In der Folge wurde die Organisation der Arbeiter*innenklasse weit zurückgedrängt. Die Idee eines alternativen Systems zum Kapitalismus – des Sozialismus – wurde an den Rand gedrängt. In dieser poststalinistischen Ära war der vom US-Imperialismus dominierte Kapitalismus überaus selbstbewusst und behauptete, er biete der Welt Frieden, Wohlstand und „liberale“ Demokratie.

Stattdessen brachte es jedoch Krieg in Form der Invasionen im Irak und in Afghanistan: unterstützt von New Labour Mark I und dann die Große Rezession, von der sich der Kapitalismus noch nicht erholt hat. Als Reaktion darauf hat die Arbeiter*innenklasse begonnen, wieder auf die Bühne der Geschichte zurückzukehren. In Großbritannien gab es 2022-2023 die größte Streikwelle seit Ende der 1980er Jahre. Die 800.000 Menschen, die sich bei „Your Party” angemeldet haben, zeigen das Potenzial für eine neue linke Kraft. Dennoch steht diese noch ganz am Anfang, die Arbeiter*innenklasse ist weit davon entfernt, um die Macht zu kämpfen, und hat noch nicht einmal den entscheidenden ersten Schritt getan, eine eigene Massenpartei zu gründen.

Dennoch hat die Aushöhlung der sozialen Basis der etablierten Parteien und die Untergrabung der Autorität aller Institutionen des Kapitalismus dazu geführt, dass die Kapitalist*innen verzweifelt versuchen, stabile Regierungen in ihrem Interesse zu bilden. In Großbritannien versuchen sie gleichzeitig, die Tory-Partei wiederzubeleben, in der Hoffnung, dass sie in den Startlöchern steht, wenn die Labour-Regierung vollständig auseinanderfällt, und gleichzeitig versuchen sie, Reform zu einem zuverlässigeren Vertreter ihrer Interessen zu machen, für den Fall, dass diese trotz ihrer Bemühungen doch an die Regierung kommt. Der Übertritt des Tory-Abgeordneten Danny Kruger zur Reformpartei, um dort die Leitung der „Vorbereitung auf die Regierungsübernahme” zu übernehmen, und seine Zusicherungen gegenüber den Medien, dass die Reformpartei nun die „Sozialreform unterstützen” werde, sind Anzeichen für die Versuche der Kapitalist*innenklasse, die Reformpartei nach ihren Vorstellungen zu formen.

Der italienische Kapitalismus hat dasselbe mit der Regierung unter Giorgia Meloni getan. Ihre Partei hat historische Verbindungen zum italienischen Faschismus. Dennoch hat sich ihre Regierung strikt an die Grenzen der kapitalistischen Demokratie gehalten, und die italienische Kapitalist*innenklasse scheint angenehm überrascht zu sein, wie zuverlässig sie ihre Interessen verteidigt hat, unter anderem durch die Erteilung von 450.000 Arbeitsgenehmigungen für Migrant*innen seit 2023. Wie der Chef des großen Bau- und Immobilienunternehmens Donati Immobiliare es ausdrückte: „Sie ist eine pragmatische Führungskraft, die die Bedürfnisse der Wirtschaft versteht“.

Die Reformpartei ist für die Kapitalist*innen unzuverlässig, aber sie wären für sie besser, als wenn eine Arbeiter*innenpartei an die Macht käme! Wenn die herrschende Klasse jedoch nicht verhindern könnte, dass eine zukünftige Arbeiter*innenpartei zu einer Massenkraft wird, würde sie sich sicherlich auch innerhalb einer solchen Partei organisieren, um zu versuchen, sie „moderater“ zu machen.
Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass eine neue Partei auf den Gewerkschaften – als Massenorganisationen der Arbeiter*innenklasse – basiert, um solchen Versuchen mit Gegendruck seitens der Arbeiter*innenklasse entgegenzuwirken, und dass die Sozialistische Partei und andere sozialistische und marxistische Organisationen sich frei in ihr organisieren können.

Bonapartistische Maßnahmen?

Es gibt noch andere Maßnahmen, auf die der britische Kapitalismus relativ kurzfristig zurückgreifen könnte, um ein stabiles Instrument zur Herrschaft zu finden. Es ist beispielsweise nicht ausgeschlossen, dass sie das Mehrheitswahlrecht als ungeeignet aufgeben und zu einer Form der proportionalen Vertretung übergehen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass sie gezwungen sein werden, auf eine Art Koalitionsregierung zurückzugreifen, angeblich im „nationalen Interesse”, wenn sie mit einer neuen globalen Wirtschaftskrise und den daraus resultierenden Massenkämpfen konfrontiert werden. Eine solche Regierung könnte über die Köpfe des Parlaments hinweg mehr exekutive Maßnahmen ergreifen und sich damit bis zu einem gewissen Grad von den normalen Kontrollmechanismen des parlamentarischen Systems befreien. In diesem Sinne wäre es keine Entwicklung hin zu einer Diktatur, sondern zu Elementen eines parlamentarischen Bonapartismus. Das würde, anders als der Faschismus, Jeremy Corbyns Beschreibung entsprechen, dass „ein Gesetz nach dem anderen” verabschiedet wird. Eine nationale Regierung, die in Krisenzeiten zur Verteidigung der Interessen des Kapitalismus an die Macht gebracht würde, würde jedoch alle beteiligten Parteien weiter untergraben und damit letztlich die Probleme der Kapitalist*innenklasse erheblich verschärfen.

Weit davon entfernt, die Ära der „liberalen Demokratie“ einzuläuten, die die Kapitalist*innen nach dem Zusammenbruch des Stalinismus versprochen hatten, gibt es einen globalen Trend zu zunehmenden Elementen des „parlamentarischen“ oder „präsidialen“ Bonapartismus, vor allem in Trumps Versuchen, per „Executive Order“ (Exekutivverfügung) zu regieren. Laut der „Global State of Democracy Survey von 2024“ (Umfrage zum globalen Stand der Demokratie) verzeichneten 94 Länder – das sind 54 Prozent aller bewerteten Länder – einen Rückgang in mindestens einem Faktor der demokratischen Leistungsfähigkeit im Vergleich zu ihrer eigenen Leistung fünf Jahre zuvor, während nur 55 Länder (32 Prozent) in mindestens einem Punkt Fortschritte erzielten.

Da sich die Krise des Kapitalismus verschärft, sind weitere Schritte in diese Richtung unvermeidlich. Wir sollten jedoch die aktuelle Situation nicht überbewerten. Die kapitalistische Demokratie, so unvollkommen sie auch sein mag, bleibt in dieser Phase für die Kapitalist*innenklasse in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die Norm, während es bis in die 1970er Jahre hinein in Westeuropa, in Spanien, Portugal und Griechenland, Militärdiktaturen gab. Und trotz des nach wie vor geringen Bewusstseins und Organisationsgrades der Arbeiter*innenklasse sollten wir ihre zugrunde liegende Macht nicht unterschätzen, die die Kapitalist*innenklasse berücksichtigen muss. Der Putschversuch im vergangenen Jahr in Südkorea wurde durch eine Massenbewegung von unten und anschließend durch einen Generalstreik vereitelt. Das ist eine Warnung vor der Reaktion, mit der jeder Teil der Kapitalist*innenklasse rechnen muss, der töricht genug ist, Schritte in diese Richtung in Europa oder den USA in Betracht zu ziehen. Massenaktionen der Arbeiter*innenklasse können auch viel begrenztere Versuche, demokratische Rechte einzuschränken, vereiteln. Selbst hier in Großbritannien sollte man nicht vergessen, dass das Gewerkschaftsgesetz der Tories von 2024 fast von Anfang an bedeutungslos war, weil die Gewerkschaften Wege fanden, es zu umgehen.

Aber wächst der Faschismus nicht „von unten“?

Natürlich hat die Kapitalist*innenklasse in der Vergangenheit auch faschistische Schläger als Hilfstruppen eingesetzt, um die Arbeiter*innenbewegung anzugreifen, auch wenn sie diese auf Distanz hielt. Zeigt die Demonstration „Unite the Kingdom“, dass wir in Großbritannien die Entwicklung ernstzunehmender faschistischer Kräfte mit allen damit verbundenen Gefahren erleben? Dies zu diesem Zeitpunkt zu behaupten, wäre jedoch eine erhebliche Überbewertung der Lage. Sicherlich wurde die Demonstration von dem rechtsextremen Politiker Tommy Robinson angezettelt, und auf der Bühne standen zahlreiche rechtsextreme Redner, die zu Rassismus und Spaltung aufriefen. Es ist auch wahr, dass die relativ kleine Gruppe faschistischer Schläger durch die Größe der Menschenmenge ermutigt wurde und dass die Gegendemonstration von „Stand Up to Racism“ ohne Polizeischutz einem ernsthaften gewalttätigen Angriff ausgesetzt gewesen wäre. Dennoch war die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer*innen weder „auf Konfrontationskurs” noch standen sie den nach wie vor sehr kleinen und zersplitterten rechtsextremen Organisationen nahe. Das gilt auch für die große Mehrheit der weitaus geringeren Zahl von Demonstranten – insgesamt vielleicht nicht mehr als 10.000 –, die diesen Sommer vor Hotels protestiert haben, in denen Asylbewerber untergebracht sind.

Dennoch dürfen wir die Gefahr des Erstarkens der extremen Rechten nicht unterschätzen. Die Größe der „Unite the Kingdom”-Demonstration ist ein dringender Weckruf für die Arbeiter*innenbewegung. Die Haltung der meisten Gewerkschaftsführer*innen in der letzten Zeit hat sich nun endgültig als unzureichend erwiesen. Sie bestand hauptsächlich darin, die Verantwortung für den Kampf gegen Rassismus an die Organisation „Stand Up to Racism” auszulagern, die von der SWP dominiert wird. Jetzt müssen die Gewerkschaften selbst aktiv werden, nicht mit moralischen Appellen gegen Rassismus, wie sie für den Ansatz von „Stand Up to Racism“ typisch sind, sondern indem sie den Kampf gegen Rassismus und Spaltung und die Verteidigung von Migranten und Flüchtlingen mit der Notwendigkeit einer möglichst großen Einheit im Kampf für die Interessen der Arbeiter*innenklasse verbinden. Dies ist seit 2018 die offizielle Politik des Gewerkschaftskongresses (TUC), die nun in die Tat umgesetzt werden muss.

Der Kampf gegen Rassismus kann nicht losgelöst vom Kampf gegen die kapitalistische Sparpolitik der New Labour geführt werden. Der jüngste TUC-Kongress hat eine Resolution verabschiedet, in der zu einer nationalen Demonstration gegen die Sparpolitik aufgerufen wird. Eine gut organisierte Demonstration am Samstag gegen die Sparpolitik der New Labour und rassistische Spaltung wäre ein Sprungbrett für einen ernsthaften Kampf. In der Arbeiter*innenklasse herrscht enorme Wut über die unerbittliche Verschlechterung des Lebensstandards unter den Tories und nun auch unter Labour. Die jüngste Umfrage des Amtes für nationale Statistik vom August dieses Jahres ergab, dass auf die Frage nach den wichtigsten Problemen, mit denen Großbritannien konfrontiert ist, die drei wichtigsten Themen die Lebenshaltungskosten (87 Prozent), das Gesundheitswesen (82 Prozent) und die Wirtschaft (70 Prozent) waren. Wenn die Arbeiter*innenbewegung es nicht schafft, einen wirksamen Kampf gegen diese Probleme zu führen, lässt sie anderen Kräften mehr Raum, diese für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Viele der Teilnehmer*innen der „Unite the Kingdom”-Demonstration kamen aus den Teilen Großbritanniens, die am stärksten unter Deindustrialisierung und Sparmaßnahmen gelitten haben. Unter den Slogans „Freie Meinungsäußerung” und „Stoppt die Boote” marschierten sie, doch ein Großteil ihrer Wut war dennoch auf den Rückgang des Lebensstandards der Arbeiter*innenklasse in ihren Gemeinden zurückzuführen.

Weitaus breitere Schichten der Arbeiter*innenklasse erwägen, mit ihrer Stimme für die Reformpartei ihrer Wut Ausdruck zu verleihen, was sich wahrscheinlich in weiteren Gewinnen für diese Partei bei den Wahlen im Mai 2026 niederschlagen wird. Es ist aber auch wahr, dass die Partei „Your Party” von Jeremy Corbyn und Zarah Sultana – sofern sie rechtzeitig gegründet wird – zahlreiche Sitze und sogar die Kontrolle über Gemeinderäte gewinnen könnte. Stellen Sie sich vor, diese Position würde genutzt, um einen ernsthaften Kampf gegen die Sparpolitik der Regierung zu führen, nicht nur mit Worten, sondern durch die Mobilisierung der Arbeiter*innenklasse zur Unterstützung eines Programms zum Bau von Sozialwohnungen und zur Wiederherstellung öffentlicher Dienstleistungen, einschließlich der Wiedereröffnung von Jugendclubs, Bibliotheken und mehr. Nach Jahrzehnten, in denen Politiker*innen verschiedener Parteien der Arbeiter*innenklasse Sparmaßnahmen auferlegt haben, würde eine solche Haltung Millionen begeistern.

Bereits 67 Prozent der Reform-Wähler sehen Jeremy Corbyn als sich „für die arbeitende Bevölkerung” einsetzend. Wenn er Teil einer Arbeiter*innenpartei wäre, die einen Kampf gegen die Sparpolitik der lokalen Behörden anführt, in scharfem Kontrast zu Farages Selbstdarstellung, könnte er eindeutig einen großen Teil der Reform-Wähler für sich gewinnen. Denken Sie daran, dass 2017 eine Million Wähler aufgrund ihrer Begeisterung für seine Anti-Sparpolitik von der UKIP (UK Indenpendence Party) zu Corbyns Labour gewechselt sind.

Verteidigung der Arbeiter*innen?

Die Offensive der Arbeiter*innenklasse gegen die Sparpolitik von New Labour – sowohl gewerkschaftlich als auch politisch – ist das wichtigste Mittel, um der Reaktion Einhalt zu gebieten. Dennoch gibt es noch weitere Maßnahmen, die in Bezug auf die extreme Rechte und die kleinen Gruppen faschistischer Schläger, die in der gegenwärtigen Atmosphäre etwas Selbstvertrauen gewinnen, um aus der Gosse zu kriechen, ernsthaft in Betracht gezogen werden müssen.

Im November 1931 stellte Trotzki in einem Artikel über Großbritannien klar, dass die „Partei von Mosley“ zwar „die Anfänge des Faschismus“ darstellte, ihre „völlige Sinnlosigkeit“ jedoch auch zeigte, wie weit Großbritannien von der „bevorstehenden Ankunft des Faschismus“ entfernt war, die in Großbritannien selbst als „ferne Perspektive“ zweifelhaft war. (Aus: Aufgaben der Linken Opposition in England und Indien). Dennoch war Oswald Mosleys British Union of Fascists stärker als jede der derzeitigen faschistischen Splittergruppen Großbritanniens. Zu ihrer Blütezeit zählte sie 50.000 Mitglieder, und an ihrer größten Versammlung in Birmingham nahmen 10.000 Menschen teil.

Und seine „völlige Sinnlosigkeit“ bedeutete nicht, dass es keine Bedrohung für die Arbeiter*innenbewegung oder Minderheiten darstellte. Auch schmälerte es nicht die Bedeutung der gewaltigen und entscheidenden Machtdemonstration gegen die Faschisten, als 1936 in der Auseinandersetzung von „Cable Street“ Hunderttausende von Arbeiter*innen verschiedener Organisationen, die Trotzkis Ansatz einer Einheitsfront effektiv übernahmen, ihnen den Marsch durch den Londoner „East End“ versperrten.

Das bedeutet jedoch nicht, dass es unter allen Umständen richtig ist, Gegenproteste gegen die extreme Rechte zu mobilisieren. Im Grunde genommen müssen Arbeiter*innenorganisationen eine Entscheidung treffen, ob eine bestimmte Mobilisierung die Arbeiter*innenbewegung stärkt und umgekehrt die extreme Rechte schwächt. Trotzki schrieb im März 1934 über das, was er als „ultralinke Taktik im Kampf gegen die Faschisten“ in Paris bezeichnete, und erklärte:

„Die Aufgabe besteht darin, immer mehr Arbeiter*innen in den Kampf gegen den Faschismus einzubeziehen. Das Abenteuer von Menilmontant (Ortsteil von Paris) kann nur eine kleine, militante Minderheit isolieren. Nach einer solchen Erfahrung werden hundert, tausend Arbeiter*innen, die bereit gewesen wären, den jungen bürgerlichen Schlägern eine Lektion zu erteilen, sagen: ‚Nein, danke, ich will mir nicht umsonst den Kopf einschlagen lassen‘. Das Ergebnis des ganzen Unterfangens war das Gegenteil von dem, was beabsichtigt war.“

Trotzki kommentierte einen Vorfall im Pariser Stadtteil Menilmontant, der zu einer unnötigen Konfrontation mit der Polizei führte. Aber leider hätte diese Schlussfolgerung auch auf die Gegendemonstration von „Stand Up to Racism“ am 13. September gegolten, wenn die Polizei in diesem Fall nicht zum Schutz der Antirassisten eingegriffen hätte. Ein solch katastrophales Ergebnis hätte den rechtsextremen Schlägern Selbstvertrauen gegeben und die antirassistische Bewegung eingeschüchtert.

Die Gewerkschaftsbewegung muss sich für eine demokratische Kontrolle der Gegenproteste einsetzen, einschließlich der Entscheidungen darüber, wann diese stattfinden sollen, und dafür sorgen, dass sie klare Slogans für die Einheit der Arbeiter*innen haben, die den Kampf gegen rassistische Spaltung mit dem Kampf gegen Sparmaßnahmen verbinden. Oft beschränken sich die Gegenproteste von „Stand Up to Racism“ darauf, die Demonstrant*innen als „Nazis“ zu brandmarken. Insbesondere wenn die Demonstrant*innen, wie es bei den Protesten vor Asylhotels oft der Fall ist, überwiegend aus der lokalen Bevölkerung stammen und größtenteils nicht zu rechtsextremen Organisationen gehören, ist dies völlig kontraproduktiv.

Die Arbeiter*innenbewegung muss sich auch mit der Frage der Betriebsvertretung befassen, wobei lokale Gewerkschaftsabteilungen Betriebsvertrauensleute wählen sollten, und Gewerkschaftsräte sowie andere gewerkschaftliche Gremien die Entwicklung von Vertrauensleuteorganisationen koordinieren sollten, wie es Mitglieder der Sozialistischen Partei in einer Reihe von Gewerkschaftsräten tun. Erstens könnten diese dazu beitragen, zu verhindern, dass die extreme Rechte zuversichtlich wird, dass sie ‚die Straßen übernehmen‘ und Minderheitengemeinschaften einschüchtern kann.

Zweitens könnten sie die Betreuung von Gegen-Demonstrationen gegen rechtsextreme Proteste übernehmen. In Irland hat die größte Gewerkschaft des öffentlichen Sektors, NIPSA, in der Mitglieder der Militant Left (unserer Schwesterorganisation in Irland) eine führende Rolle spielen, die Initiative ergriffen, dies zu organisieren, und hat Unterstützung für die gewerkschaftliche Betreuung auf dem Irish Congress of Trade Unions gewonnen. Dieser Ansatz ist wichtig, selbst wenn die Gegenproteste die rechtsextremen Proteste bei Weitem übertreffen. Das war im letzten Sommer der Fall. Ein Jahr später ist das objektive Kräfteverhältnis immer noch zugunsten der antirassistischen Bewegung. Dies dürfte sich in der Praxis zeigen, wenn die Rechtsextremen versuchen, in Arbeiter*innengemeinden, insbesondere in den Großstädten, in die Offensive zu gehen. Neue Angriffe auf Moscheen würden beispielsweise dazu führen, dass eine große Zahl von Menschen aus der Arbeiter*innenklasse auf die Straße geht, angeführt von schwarzen, asiatischen und muslimischen Gemeinschaften. Dies ändert jedoch nichts an der Notwendigkeit, dass die Arbeiter*innenbewegung die Veranstaltung begleitet, um deutlich zu machen, dass es sich um vereinte Verteidigungsdemonstrationen handelt, an denen alle Teile der Arbeiter*innenklasse beteiligt sind, und um es der Polizei zu erschweren, Strafmaßnahmen gegen junge schwarze und asiatische Demonstrant*innen zu ergreifen.

Starmers „New Labour Mark II“ ist erst seit 14 Monaten im Amt. Es zerfällt sichtbar, während es versucht, die Interessen des britischen Kapitalismus zu verteidigen. Die Wut der Arbeiter*innenklasse ist spürbar. Es ist dringend notwendig, dass die Arbeiter*innenbewegung den Ereignissen ihren Stempel aufdrückt und einen ernsthaften Kampf gegen Starmers Sparpolitik sowohl industriell als auch politisch organisiert. Die Bekämpfung der extremen Rechten ist ein wichtiger Aspekt dieser Aufgabe.

Artikel auf englisch unter: https://socialismtoday.org/is-fascism-growling-at-the-door