Randale in der Stuttgarter Innenstadt

Was steckt dahinter? Was sind die Konsequenzen?

Wer sich am Sonntag morgen über die neuesten Nachrichten informierte, bekam Berichte über Hunderte Jugendliche präsentiert, die in der vorigen Nacht in der Stuttgarter Innenstadt randaliert hatten. Seitdem begann eine große Kampagne von Politik und Medien für mehr Law and Order. Nach den Gründen und tieferen Ursachen für die Ereignisse wird kaum gefragt.

Von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart

Nach den Medienberichten hätte man ein Bild der Verwüstung in der Stuttgarter Innenstadt erwarten können. Ich sah am Montag Abend auf der Königsstraße Hunderte von flanierenden Menschen, die das schöne Wetter genossen. An den Läden rechts und links konnte man jede Menge Hinweise auf das Verhalten in Bezug auf Corona sehen, aber kaum Spuren von Gewaltorgien. Außer einer größeren Polizeipräsenz erinnerte wenig an die Nacht zum Sonntag. Von den zerstörten Schaufensterscheiben war keine 48 Stunden später kaum noch etwas zu sehen.

Die andere Gewalt in Stuttgart

Wenn man wesentlich nachhaltigere Folgen von anderer Gewalt sehen wollte, musste man nur von der Königsstraße zum Marktplatz abbiegen. Dort fand eine Montagsdemo gegen Stuttgart 21 (Neubau des Hauptbahnhofs gegen den es eine Massenbewegung gab, die mit massiver Polizeigewalt unterdrückt wurde) statt, unter den Teilnehmenden auch Dietrich Wagner, dessen Bild mit den durch den polizeilichen Wasserwerfereinsatz zerstörten Augen nach dem „schwarzen Donnerstag“, dem 30. September 2010, durch die Medien ging und der seitdem fast blind ist. Wer die damalige Polizeigewalt miterlebt hat, wer auf vielen Demonstrationen und anderen Gelegenheiten (Fußballspiele, verdachtsunabhängige Kontrollen, racial profiling, Razzien …) das provozierende und eskalierende Vorgehen der Polizei erlebt hat, wer in der Presse die Wiedergabe von Polizeiberichten über Ereignisse gelesen hat, von denen man aus eigenem Erleben wusste, dass sie sich wesentlich anders abgespielt haben, der wird auch den Polizeiberichten über Samstag Nacht mit einer gehörigen Dosis Skepsis gegenüber stehen.

Auslöser Polzeikontrolle

Die Polizei behauptet, dass eine Drogenkontrolle bei feiernden Menschen am Eckensee im Oberen Schlossgarten in der Stuttgarter Innenstadt dazu führte, dass sich eine größere Gruppe von Menschen mit dem Kontrollierten solidarisierten.

Nach Berichten hat sich dieser Ort zu einem Treffpunkt von jungen Menschen entwickelt, auch weil andere Möglichkeiten der Begegnung wegen der Coronapandemie geschlossen sind. Diese jungen Menschen erlebten wohl schon über einen längeren Zeitraum, teils schikanöse, Polizeikontrollen unter dem Etikett der Coronabekämpfung. Das ist eine Folge der Coronapolitik der Bundesregierung ebenso wie der grün-schwarzen Landesregierung, für die Profite und nicht menschliche Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen.

Auf der einen Seite wurde die kapitalistische Produktion möglichst wenig eingeschränkt. Die Rüstungsindustrie lief ebenso weiter wie zum Beispiel die Bauarbeiten bei Stuttgart 21, oft unter Bedingungen mit hohem Ansteckungsrisiko bei der Arbeit und/oder auf der Fahrt zur Arbeit. Auf der anderen Seite gab und gibt es drastische Einschränkungen der Freizeitgestaltung, auch unter freiem Himmel, wo die Ansteckungsgefahr vergleichsweise gering ist. Für diese höchst einseitige Politik, die nicht durch Gesundheitsschutz, sondern kapitalistische Klasseninteressen bestimmt ist, wird auch die Polizei eingesetzt, die die Menschen in ihrer Freizeit kontrolliert und beim Übertreten auch fragwürdiger Vorschriften Bußgelder kassiert (das trifft natürlich Menschen besonders, die keine geräumigen Wohnungen und keine eigenen Gärten haben), aber sich um die Ansteckungsgefahr am Arbeitsplatz allenfalls dann kümmert, wenn bereits ein neuer Corona-Hotspot entstanden und eine neue Infektionswelle bereits angerollt ist – siehe die Zustände in den Fleischfabriken des Schweinebarons Tönnies in Nordrhein-Westfalen.

„Die Sprache der Ungehörten“

Seit dem Sonntagmorgen ergießt sich eine Welle der Empörung über Stuttgart und Deutschland. Es scheint staatsbürgerliche Pflicht zu sein, über die Gewalt erschüttert zu sein. In der Woche davor berichteten Medien über mehr als fünfzig Ertrunkene vor der tunesischen Küste. Wo war da das öffentliche Entsetzen?

Politiker*innen beschweren sich, dass immer mehr gerade junge Menschen die Polizei nicht als „Freund und Helfer“, sondern als Unterdrückungsorgan betrachten würden. Ihre Lösung: eine weitere Verschärfung der Polizeigesetze. Also: die Polizei soll noch mehr den Unterdrücker und noch weniger den „Freund und Helfer“ herauskehren. Das ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiuung, die dazu führen wird, dass Ereignisse, wie die in Stuttgart zunehmen werden. Aber offenbar soll es nicht überzeugen, sondern zwingen. In Baden-Württemberg war eine erneute Verschärfung der Polizeigesetze ohnehin geplant. Für den 25. Juni war die erste, für den 15. Juli die zweite (und möglicherweise dritte) Lesung vorgesehen. Dass die Krawalle in der Nacht bewusst eskaliert wurden, um für diese Verschärfung noch mal richtig Stimmung zu machen, ist nicht auszuschließen.

Polizei und Medien betonen, dass es kein politischer Protest war. Sie scheinen das beruhigend zu finden. Wir sollten das bedauern, denn wenn es politisch gewesen wäre, hätte es sinnvollere Formen als diese Randale annehmen können. Im Zusammenhang mit den Black Lives Matter-Protesten wurde oft das Zitat von Martin Luther King angeführt, dass Krawalle „die Sprache der Ungehörten“ seien. Niemand sollte sich wundern, wenn sich die Erfahrung mit Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit, Schikanierung und autoritärem Polizeiverhalten so entlädt.

Wenn die Ungehörten nicht nur gehört, sondern auch verstanden werden und etwas verändern wollen, dann müssen sie ihre Wut in politischen Widerstand verwandeln. Das heißt: sich organisieren, politische Forderungen aufstellen und für sie kämpfen. Dabei sollten Linke sie mit ihren Vorschlägen unterstützen. Solche Krawalle sind auch die Folge davon, dass viele Jugendliche keinen Weg sehen, die Verhältnisse zu verändern, weil Gewerkschaften und DIE LINKE nicht entschlossen genug gekämpft haben, zuletzt keine entschiedene Opposition gegen die Corona-Maßnahmen im Dienste der Profite und stattdessen für Maßnahmen im Interesse der Gesundheit und der Lebensqualität der Bevölkerung organisiert haben. Dadurch ist ein politisches Vakuum entstanden, in dem solche ziellosen sozialen Explosionen fast zwangsläufig sind.

Wo steht DIE LINKE?

Noch schlimmer ist es aber, dass Teile der Partei DIE LINKE offenbar kein Interesse daran haben, die „Ungehörten“ zu hören und zu verteidigen, sondern sich in den Chor der etablierten Politiker*innen einreihen. Der LINKE-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Dietmar Bartsch, hatte schon die Polizei in Schutz genommen, als die SPD-Vorsitzende Saskia Esken vorsichtig auf latenten Rassismus innerhalb der Polizeikräfte hingewiesen hatte und der Black Lives Matter-Bewegung – wenige Tage nach den Polizeiübergriffen gegen vor allem schwarze Demonstrant*innen in Berlin – eine verbale Ohrfeige verpasst. Nun setzte er noch eins drauf und beschimpfte die Stuttgarter Jugendlichen und stellte sich auf die Seite der Polizei. Er hätte besser den Mund halten und erst einmal mit den Jugendlichen reden sollen. Aufgabe von LINKEN ist es, nach Ursachen und Erklärungen zu suchen und denjenigen Gehör zu verschaffen, die in dieser Gesellschaft nicht gehört werden. Wenn Bartsch und DIE LINKE so weiter machen, verlieren sie ihren Gebrauchswert für die „Verdammten dieser Erde“ und dürfen sich nicht wundern, wenn sie von denen, die sich für eine Veränderung von Staat und Gesellschaft einsetzen wollen als überflüssig betrachtet werden.

Wie weiter?

Man konnte schon vor der Coronakrise das Gefühl haben, dass die Welt aus den Fugen gerät und die Zukunft für die Jugend immer bedrohlicher wird (z.B. Klimawandel). Jetzt kommt die Verunsicherung durch Corona und seine noch unabsehbaren Folgen hinzu. Neben den medizinischen Folgen (droht eine zweite Welle? wann kommt ein Impfstoff? mutiert das Virus?) kommt die drastische Verschärfung der Wirtschaftskrise, die auch ohne Corona gekommen wäre. Jugendliche werden dadurch besonders betroffen sein: Arbeits- und Ausbildungsplatzvernichtung, Wegfall von Nebenjobs für Studierende etc. Wenn in dieser existenziellen Unsicherheit Gewerkschaften und DIE LINKE nicht einen entschlossenen Kampf für die Interessen der Ausgegrenzten, sozial Benachteiligten und der gesamten Arbeiter*innenklasse aufnehmen und das mit dem Kampf für eine Entmachtung der „ein Prozent“ und eine grundlegende Alternative, d.h. den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft, verbinden, werden sich solche Explosionen nicht nur in Stuttgart wiederholen.

Wir fordern:

– Unabhängige Untersuchung der Ereignisse in der Nacht zum Sonntag durch eine Kommission aus Vertreter*innen von Gewerkschaften, Jugendorganisationen und Anwohner*innen unter Einbeziehung der betroffenen Jugendlichen. Auf die Untersuchung durch die Polizei können wir uns hier noch weniger als sonst verlassen.

– Schluss mit der Schikanierung der Bevölkerung unter dem Deckmantel der Corona-Bekämpfung, statt dessen Durchsetzung von hygienischen Arbeits- und Transportverhältnissen auf Kosten der Profite der Konzerne.

– Nein zur neuen Verschärfung des baden-württembergischen Polizeigesetzes. Rücknahme der diversen „Anti-Terror“- und Polizeiaufgaben-Gesetze. Auflösung von Polizei-Sondereinheiten. Demokratische Kontrolle der Polizei durch aus der arbeitenden Bevölkerung und Gewerkschaften gewählte Komitees.

– Demokratische Rechte verteidigen – Schluss mit Demonstrations- und Versammlungseinschränkungen

– Für eine kämpferische und sozialistische LINKE

– Für eine Schwerpunktsetzung der Aktivitäten der Partei DIE LINKE auf Proteste und Widerstand auf der Straße, in Betrieben, Schulen, Hochschulen und Nachbarschaften – Parlamentsarbeit nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Unterstützung der Gegenwehr

– Überführung der Banken und Konzerne in öffentliches Eigentum bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung. Entschädigung nur für Kleinaktionär*innen bzw. bei erwiesener Bedürftigkeit.

– Durchschnittlicher Tariflohn und jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit für alle Personen in Leitungsfunktionen in Staat und Wirtschaft.

– Statt Konkurrenz und Produktion für den Profit – demokratische und nachhaltige gesamtgesellschaftliche Wirtschaftsplanung entsprechend der Bedürfnisse von Mensch und Umwelt.

– Für sozialistische Demokratie weltweit.