Profitstreben und prekäre Beschäftigungsverhältnisse gefährden die Kultur – mit oder ohne Corona
Die Coronakrise hat Kunst- und Kulturschaffende mit Insolvenzen schwer getroffen und verunsichert. Als Locations und Venues im März zwangsweise schlossen, fielen für Tausende Musiker*innen, Schauspielende und sonstige Performende auf einen Schlag notwendige Einnahmen weg.
von Martin Schneider, Berlin
Festangestellte Ensembles sind in Deutschland die Ausnahme. Die meisten Künstler*innen verdingen sich „von Gig zu Gig“, mit Honorarverträgen oder prekären Engagements – eine bizarre Form der Saisonarbeit. Hier eine Spielzeit, dort eine kleine Konzerttour – dazwischen Hartz IV. Corona hat diese unhaltbaren Zustände sichtbar gemacht und verschärft. Um mittels Kultur ein auskömmliches Leben zu finanzieren, muss man in Deutschland zu den wenigen Auserwählten gehören. Der Rest lebt von der Hand in den Mund – und während Konzert- und Clubbetreiber die Soforthilfe in Anspruch nahmen, zahlten die meisten Schauspieler*innen und Musiker*innen diese zurück. Für Essen oder Miete durfte sie nicht verwendet werden.
Auch jetzt, wo vielerorts die Veranstaltungen wieder beginnen, bleibt eine große Verunsicherung. Veranstalter und Betreiber verweisen auf leere Kassen aufgrund der letzten Monate; Gagenverhandlungen werden zäher und die innerszenische Solidarität steht auf der Probe, wenn manche Bands oder Akteure für Niedrigpreise auftreten und diejenigen ohne finanzielles Polster auf der Strecke bleiben. Für sie geht es um die Existenz.
Die Großen lässt man spielen
Für andere geht es ums Gewerbe. Veranstalter und Betreiber, Agenturen und Eventmanager mussten herbe Einbußen verkraften und lobbyieren nun bereits seit Wochen für Lockerungen und Hilfen. Während die Großen das mit teils wohlwollender Unterstützung der Länder und Kommunen angehen können, stehen die Kleineren oft vor einem Wust aus Vorschriften, Verordnungen und Strafen bei Verstößen. Sie zögern lange, bevor sie den Schritt zurück zur „Normalität“ wagen. In dieser Verunsicherung treten weitere Lobbies auf den Plan, die sich den Anschein von Grass-Roots-Bewegungen geben und mit Grönemeyer und Micky Krause, Lindenberg und Die Toten Hosen und vielen Event-AG-Vorständen mit Druck auf die Tränendrüse um Spenden und Staatsknete bitten. Bereits am 9.9. demonstrierten 15.000 in Berlin.
Die Solidarität mit Techniker*innen, Fahrer*innen, Bühnenbauer*innen und Caterern aus dem Kulturbereich ist lobenswert. Doch man sollte nicht gemeinsam mit Managern und Großverdienenden wie Grönemeyer die Wiederherstellung des Status Quo fordern, sondern den Skandal von Kürzungen, Schließungen und Prekarisierung auf die Tagesordnung setzen. Der Rückzug des Staates aus der Kultur hat die meisten Künstler*innen zu Abhängigen der Event-Konzerne gemacht – eine Existenz, die vorbei sein kann, wenn Aufträge ausbleiben oder eine Krankheit zuschlägt. Das gesamte System der Gig-Wirtschaft gehört in Frage gestellt. Ausfinanzierung durch die öffentliche Hand. Keine Mittelumleitung zu Agenturen und Eventmanagements. Re-Integration der unfreiwillig „freien“ Kunstschaffenden in feste Ensembles und Engagements. Für ein sicheres und gutes Auskommen für alle.