Manifest-Verlag veröffentlicht Textsammlung zum Thema Marxismus und Religion
Die kürzlich im Manifest-Verlag erschienene Textsammlung „Marxismus und Religion“ ist mit ihren 158 Seiten bei weitem keine vollständige Sammlung marxistischer Schriften zum Thema. Das Buch bietet jedoch einen guten Überblick über die Herangehensweise von Marxist*innen an religiöse Arbeiter*innen oder die Frage von Religionsfreiheit.
von Sönke Schröder, Bochum
Die Textsammlung gliedert sich in zwei Teile. Texte von Mitgliedern des “Committee for a Workers International”(CWI) aus den letzten zwei Jahrzehnten gehen auf zeitgenössische Themen und Debatten ein. Der zweite Teil bietet eine Auswahl marxistischer Klassiker*innen, wie Auszüge früher Texte von Marx und Engels, Reichstagsreden August Bebels über den „Kulturkampf“ im Kaiserreich oder Artikel von Lenin, Luxemburg, Trotzki und Sinowjew etwa über den Umgang der Arbeiter*innenbewegung mit religiösen Arbeiter*innen.
Im ersten Teil gibt Niall Mulholland vom Internationalen Sekretariat des CWI einen Überblick über die aktuelle weltweite Bedeutung von Religion und die Gründe für die Religiosität unterdrückter und ausgebeuteter Bevölkerungsgruppen. Er und andere Autor*innen erklären die Entstehung von Religionen: Vom Versuch früher menschlicher Gesellschaften, sich mit Religion und Magie ihre Umwelt zu erklären, bis zur gezielten Instrumentalisierung der Religion durch die herrschenden Klassen zur Aufrechterhaltung ihrer Macht und ihres Reichtums. Und schließlich versuchten auch immer wieder Bewegungen der Unterdrückten, die Religion in den Dienst gesellschaftlicher Umwälzungen zu stellen.
Spaltung überwinden
An verschiedenen Stellen wird erklärt, wie die Abkehr stalinistischer Parteien von einer internationalistischen, auf die Einheit der Arbeiter*innenklasse zielenden, religiöse Spaltung überwindenden Politik vor allem im Nahen Osten revolutionäre Bewegungen geschwächt hat. Teile der arbeitenden und verarmten Massen wurden somit in die Arme des reaktionären politischen Islam getrieben und die Macht des Kapitalismus gefestigt. Im Gegensatz dazu steht die Politik der Bolschewiki, denen in der jungen Sowjetrepublik die Gratwanderung zwischen der Trennung von Staat und Religion und der Akzeptanz religiöser Autonomie islamisch geprägter Bevölkerungsteile gelang. Das war die Voraussetzung für den Schulterschluss der arbeitenden Bevölkerung über religiöse und nationale Grenzen hinweg und ermöglichte den flächendeckenden Sieg der Revolution. Dies erklärt der Beitrag von Hannah Sell, Generalsekretärin der Socialist Party England & Wales.
Ein Kapitel aus dem „Anti-Sarrazin“ Sascha Staničić (Sol) behandelt das Thema „Islamfeindlichkeit als neuer Rassismus“ und geht unter anderem ausführlich auf die Debatten um den Bau von Moscheen, die Rolle der Frau im Islam oder Kopftuchverbote ein. Marxist*innen sollten das Recht von Frauen auf die freie Entscheidung zum Kopftuch verteidigen, während sie alle Betroffenen von Zwangsverschleierung im Kampf um Befreiung unterstützen und vor allem für die Verbesserung der materiellen Lebensumstände eintreten – die Voraussetzung für die Abschaffung patriarchaler Unterdrückung.
Gründe für Religiosität
Die Philosophie des Marxismus ist der dialektische Materialismus. Er erklärt nicht nur die Welt, ohne auf die Vorstellung eines Gottes zurückzugreifen, sondern erkennt auch die Religion selbst als menschengemacht. Marx beschreibt sie in seinem frühen Text „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ als „Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ (S. 74)
Die Gründe, warum Menschen religiös sind oder nicht, sind vielfältig. Marxist*innen treten für die volle Freiheit ein, Religion zu praktizieren oder darauf zu verzichten. Denn: „Der Ausgangspunkt für Sozialist*innen ist der Kampf um die Einheit der Arbeiter*innen und für Sozialismus. Um die Gesellschaft zu verändern, muss sich die Arbeiterklasse, einschließlich der religiösen Arbeiter*innen, unter einem sozialistischen Programm vereinen.“ (S.10)
Sozialistische Organisation Solidarität (Hg.): Marxismus und Religion. Eine Textsammlung, Berlin:Manifest Verlag 2020. 158 S., 9,90 €, ISBN: 978-3-96156-079-0