Nur der Sozialismus kann der Menschheit eine Zukunft bieten – Stellungnahme des Internationalen Sekretariats des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI)
Ein Jahr nach Beginn der Covid-19-Pandemie – mit über drei Millionen Toten, davon eine Million in Lateinamerika – ist der globale Kapitalismus in eine Reihe miteinander verbundener, multipler Krisen gestürzt: gesundheitliche, wirtschaftliche, politische, soziale, geopolitische und ökologische. Trotz der Einführung massiver Konjunkturpakete und anderer Maßnahmen – insbesondere in den wichtigsten imperialistischen Staaten – ist es dem Kapitalismus nicht gelungen, sein Gleichgewicht wiederherzustellen.
Stellungnahme des Internationalen Sekretariats des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI)
Die 2020er Jahre werden ein Jahrzehnt explosiver Entwicklungen und Umwälzungen in allen Ländern sein. Es gibt kein Land, in dem politische und soziale Unruhen nicht in der einen oder anderen Weise vorhanden sind. Die rasante Geschwindigkeit, mit der sich die Ereignisse entfalten, ist ein Merkmal der Ära, in die wir eingetreten sind. Der Kapitalismus befindet sich in seiner tiefsten Krise seit den 1930er Jahren mit entscheidenden Veränderungen in der Weltlage und der Wirtschaft – was viele Ungewissheiten mit sich bringt. Die kapitalistischen Klassen werden mit Krisenmanagement konfrontiert sein und von einer Krise in die nächste stolpern. Umgekehrt stehen die Arbeiter*innenklasse und die Revolutionär*innen vor der Aufgabe, die Arbeiter*innenbewegung wieder aufzubauen. Es gilt, die Gewerkschaften auf einen kämpferischen Kurs zu bringen sowie in Massenbewegungen zu intervenieren und revolutionäre Parteien aufzubauen, um die gegenwärtige Führungskrise der Arbeiter*innenklasse zu überwinden. Dies sind hier und jetzt dringende Aufgaben angesichts des dystopischen Charakters, den der moderne Kapitalismus in seinem Todeskampf annimmt.
Die globale Gesundheitskrise ist trotz der breiten Einführung von Impfstoffen in einigen Ländern wie Großbritannien, den USA und Israel, die dort wahrscheinlich für eine gewisse Atempause sorgen wird, noch lange nicht vorbei. Die katastrophale Situation, die sich vor allem in Brasilien und Indien und einigen anderen Ländern zeigt, weist darauf hin – zusammen mit dem wahrscheinlichen Auftreten neuer Varianten des Virus – dass die Covid-19-Pandemie auf globaler Ebene nicht kurzfristig enden wird. Die entsetzliche Lage, in der sich Indien und Brasilien befinden, wird internationale Konsequenzen haben. Die Verwüstung, die in beiden Ländern stattfindet, wurde mit einer nuklearen Kettenreaktion verglichen. Ausgelöst durch die Politik von Modi und Bolsonaro hat dies in beiden Ländern zu einem Massensterben hunderttausender Menschen geführt.
Die Massen in diesen Ländern und sogar die herrschende Klasse zahlen den Preis für die katastrophale Politik, die von Leuten wie Bolsonaro, Modi oder Trump (noch vor Bidens Wahlsieg) umgesetzt wurde. In diesen Ländern haben die kapitalistischen Klassen die Kontrolle über die politische Führung verloren – ein Phänomen, das auch in einigen anderen Ländern zu beobachten war. Es spiegelt den Zerfall einiger traditionell im Dienst des Kapitals stehenden politischen Parteien wider. International sind die kapitalistischen Klassen im Allgemeinen damit konfrontiert, dass sie “mit dem Virus leben” und dessen Eindämmung organisieren müssen. Dies, zusammen mit der sich vertiefenden Umweltkrise, wird sich auf die Wirtschaft und die sozialen Bedingungen der Massen auswirken. Die “Impfstoffkriege”, die in der EU, in Indien, in gewissem Maße auch in den USA und anderswo stattfanden, haben das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft schonungslos offengelegt. Die beteiligten großen Pharmakonzerne verdienen Milliarden auf Kosten der Ärmsten der Gesellschaft. Die Fehlentscheidungen bei der Einführung von Impfstoffen in Europa hat der EU einen schweren politischen Schlag versetzt.
Die explosiven Ereignisse in den USA im Kontext der Wahlen – als Trump verzweifelt versuchte, sich durch eine Art Putsch-Inszenierung an die Macht zu klammern – waren eine anschauliche Illustration der nun anbrechenden Ära. Sein Freund Bolsonaro könnte etwas Ähnliches versuchen, sollte er, worauf bei Erscheinen dieses Textes vieles hindeutet, 2022 eine Wahlniederlage erleiden.
Biden – was er bietet
Der Sieg Bidens hat ein neues Kapitel in der Krise des US-Imperialismus aufgeschlagen. Sein Amtsantritt hat bereits zu wichtigen Veränderungen in der Innen- und Außenpolitik geführt. Der Kurswechsel unter Biden hat seine Zustimmungswerte nach oben schnellen lassen, es wird hier zu einer gewissen „Honeymoon-Phase“ kommen. Diese wird jedoch nicht von Dauer sein, da sein Programm ursächliche Probleme wie die soziale Spaltung und die Klassenpolarisierung, die in der US-Gesellschaft zu beobachten sind, nicht wird lösen können. Die Wirtschaft ist immer noch 10 Millionen Arbeitsplätze von ihrem Höchststand vor der Pandemie entfernt. 50Prozent der Haushalte, die weniger als 35.000 US-Dollar pro Jahr verdienen, sind mit ihren Wohngeldzahlungen im Rückstand. 25 Prozent von ihnen geben an, nicht genug zu essen zu haben.
Das Konjunkturpaket in Höhe von 1,9 Billionen US-Dollar, gefolgt von einem vorgeschlagenen Investitionsprogramm in Höhe von zwei Billionen US-Dollar für Infrastrukturprojekte, wird Wirkung zeigen. Beide Maßnahmen sind in momentan sehr populär. Biden schlägt nun auch ein Zusatzpaket vor: den “American Families Plan” im Wert von etwa 1,8 Billionen US-Dollar. Nach Angaben der New York Times könnte eine berufstätige, alleinerziehende Mutter eines Dreijährigen, die den bundesstaatlichen Mindestlohn von ca. 16.000 US-Dollar pro Jahr verdient, über das neue Gesetz etwa 4.775 US-Dollar erhalten. Arbeiter*innen, die bei Bundesinfrastrukturprojekten beschäftigt sind, sollen den Mindestlohn von 15 US-Dollar pro Stunde erhalten.
Doch der Ökonom Nouriel Roubini rechnet vor: Von den 1400 US-Dollar, die als Direktzahlung an die Menschen gehen, wird nur ein Drittel aufgrund der angehäuften Schulden und der Rückstände bei den Wohngeldzahlungen den Weg zurück in die Wirtschaft finden. Dies wird natürlich die Schulden reduzieren, aber möglicherweise nicht zu einem sofortigen substanziellen und dauerhaften Wirtschafts-Boom führen.
Diese Pakete, zusammen mit Bidens unterstützenden Aussagen in Richtung der Gewerkschaften, weisen Merkmale auf, die Roosevelts “New Deal” aus den 1930er Jahren ähneln. Biden hofft, wie damals auch Roosevelt, dass die Gewerkschaftsführer*innen ihn sowohl gegen die Republikaner als auch gegen die linken und militanten Arbeiter*innen unterstützen werden. Umfragen zufolge stehen derzeit 65 Prozent der US-Bevölkerung den Gewerkschaften positiv gegenüber. Das ist ein Anstieg von 20 Prozentpunkten seit dem Crash von 2009. Gleichzeitig ist die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder insgesamt gesunken – was die Unfähigkeit der Gewerkschaftsbürokratie widerspiegelt, aus dieser potenziell günstigen Situation Kapital zu schlagen. Ein Problem, wie wir es aus vielen Ländern weltweit kennen. Der Aufbau kämpferischer Oppositionsgruppen in den Gewerkschaften, die einer sich hinter Regularien und Floskeln verschanzenden Bürokratie entgegentreten, ist eine entscheidende Aufgabe der kommenden Zeit.
In diesem Stadium bleiben Bidens Pakete hinter dem zurück, was Roosevelt eingeführt hat. Bidens vorgeschlagene Pakete in Höhe von etwa 5/6 Billionen US-Dollar sollen über acht Jahre hinweg eingeführt werden. Der Umfang ist weitaus geringer als seinerzeit in Roosevelts Plan. Bei der heutigen Preislage würde sich eine echte Kopie des „New Deal“ in der Größenordnung von 50 Billionen US-Dollar bewegen! Bidens Infrastrukturprogramm besteht größtenteils aus dem Ausbau bestehender Projekte. Bezahlt werden soll es durch eine Erhöhung der Körperschaftssteuer von 21 Prozent auf 28 Prozent, was bei einigen Teilen der herrschenden Klasse bereits Proteste hervorgerufen hat. Doch selbst dies liegt weit unter den historischen Niveaus der Körperschaftssteuer nach 1945, die häufig über 50 Prozent lagen! Unter Obama lag der Satz bei 35 Prozent, Trump senkte ihn auf 21 Prozent. Dennoch werden die genannten Maßnahmen ihre Wirkung haben. Ihnen könnten weitere Konjunkturpakete folgen. Die herrschende Klasse und Biden sind durch die objektiven Verhältnisse, mit denen sie konfrontiert sind, in diese Richtung getrieben worden. Doch sie werden die zugrundeliegende Krise der US-Gesellschaft und die soziale Polarisierung, die sich aufgetan hat, damit nicht lösen bzw. aufheben. Selbst Roosevelts „New Deal“ reichte nicht aus, um den Weg für einen massiven Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg zu ebnen. Dieser entwickelte sich zum einen aufgrund des massiven Rüstungsprogramms, das während des Krieges notwendig war, und zum anderen aufgrund der internationalen Lageveränderung nach Kriegsende.
Die herrschende Klasse in den USA wird sich einer weiteren politischen Krise gegenübersehen, wenn die Illusionen in Biden schließlich schwinden und neue Konflikte entstehen. Die Konsolidierung von Trumps Einfluss auf die Republikanische Partei zeigt, dass seine Kräfte trotz der erlittenen Wahlniederlage nicht gänzlich geschwunden sind. Die Vorschläge der Republikaner, in vielen Bundesstaaten das Wahlrecht weiter zu beschneiden, verdeutlichen, dass sich die Rechten auf einen Versuch der Rückkehr an die Macht vorbereiten. Sie zielen darauf ab, bei den Zwischenwahlen Zuwächse zu erzielen, um sich so auf ein Comeback im Jahr 2024 vorzubereiten. Sie bereiten sich auch darauf vor, die Blockade einiger Maßnahmen Bidens zu versuchen. Je nachdem, wie sich die Ereignisse entwickeln, kann die Krise in den USA den Boden dafür bereiten, dass entweder Trump selbst ein Comeback feiert oder aber ein Trump 2.0 auf der Bildfläche erscheint. Die Erschießung eines weiteren schwarzen Jugendlichen in Minneapolis und die dadurch ausgelösten Ausschreitungen verdeutlichen die heftigen sozialen Spannungen, die weiterhin bestehen.
Die Weltwirtschaft – wie geht es weiter?
Die Weltwirtschaft schrumpfte im Jahr 2020 um 3,5 Prozent. In vielen Ländern, einschließlich der großen imperialistischen Länder, war die Schrumpfung sogar noch erheblicher. Dies geschah trotz der massiven Konjunkturpakete, die sich weltweit auf 15 Billionen US-Dollar beliefen – das entspricht 17 Prozent der Weltwirtschaftskraft im Jahr 2020. Selbst dies reichte nicht aus, um die Wirtschaft “neu zu starten”, aber es verhinderte einen totalen Zusammenbruch. Mindestens ein Drittel davon ist jedoch direkt an die großen Unternehmen gegangen. Nur ein Drittel davon wurde an die Familien weitergegeben.
Angesichts dieser beispiellosen Krise gaben die herrschenden Klassen den Neoliberalismus, der die wirtschaftliche und politische Ideologie vor allem seit den 1990er Jahren dominiert hatte, weiter auf. Im Großen und Ganzen kehrten sie zu einer Form des Keynesianismus zurück, wie sie es auch schon 2007/8 taten, wenn auch nicht in gleichem Ausmaß wie damals. Die Abkehr vom Neoliberalismus der 1990er Jahre und die Rückkehr zu keynesianischen Methoden bedeutet jedoch nicht, dass in einigen Ländern keine Sparmaßnahmen und Privatisierungen durchgeführt würden, da die herrschende Klasse je nach der konkreten Situation einen politischen Zick-Zack-Kurs fährt. Eine Kombination sowhl keynesianischer Programme, zusammen mit Angriffen auf die Lebensbedingungen der Arbeiter*innenklasse bzw. der Mittelschicht, ist denkbar.
Aus dem Ausmaß des Zusammenbruchs im Jahr 2020 lässt sich folgern, dass es zwangsläufig zu einer gewissen Erholung kommen wird, vor allem, wenn die Wirtschaft aus dem Stillstand kommt. Das chinesische Regime behauptet, die Wirtschaft sei im ersten Quartal dieses Jahres um 18,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gewachsen. Auch in den USA findet eine Belebung der Wirtschaft statt. Die Schätzungen für China deuten jedoch darauf hin, dass sich diese Wachstumsrate wahrscheinlich nicht fortsetzen wird. Die voraussichtlichen Wachstumsschätzungen für das Jahr 2021 wurden entsprechend auf etwa 5 Prozent nach unten korrigiert. Die wackeligen Erholungen, die in einigen Ländern stattfinden, reichen im Großen und Ganzen nicht aus, um zu der Situation zurückzukehren, die noch vor dem Crash 2009 bestand. Im Allgemeinen handelt es sich eher um kurze Verschnaufpausen, bevor dann eine neue Krise ausbricht. Es gibt eine breite und sehr gespaltene Debatte unter bürgerlichen Ökonom*innen und Politiker*innen über die notwendige Politik. Viele Kommentator*innen sind vorsichtig, was die Zukunft anbelangt.
Außerdem ist bei jedem Aufschwung die Frage entscheidend, wer davon profitiert. Die massive Kluft zwischen den reichen Oligarch*innen und der Masse der Bevölkerung hat sich während der Pandemie verbreitert. International sind im Jahr 2020 493 neue Milliardäre entstanden – allein 205 davon in China! Die Monopolisierung der Weltwirtschaft hat massiv zugenommen. 157 der 200 größten Wirtschaftseinheiten (gemessen am Umsatz) sind Konzerne, nicht Staaten. Unternehmen wie Amazon, Walmart, Shell usw. haben in ihrem Umfang und in ihrer Funktionsweise fast schon staatliche Züge. Argumente für die Forderung, sie zu verstaatlichen und demokratisch von der Arbeiter*innenklasse als Teil eines sozialistischen Plans führen zu lassen, sind heute überzeugender denn je.
Kernmerkmale jedes Aufschwungs sind neue Arbeitsplätze zu verschlechterten Bedingungen und stagnierende Realeinkommen. Sie werden in den meisten Ländern die dominanten Faktoren sein. Dies wird mit anhaltender Arbeitslosigkeit für Millionen, auch in den USA, einhergehen. Die verzweifelte Lage der jungen Menschen wird ein weiteres entscheidendes Merkmal der kommenden Periode sein. In Spanien liegt die offizielle Jugendarbeitslosigkeit bei 40 Prozent, was bei den massiven Unruhen und Protesten eine große Rolle spielte, die auf die Verhaftung eines radikalen und sehr populären Rappers folgten. Die verzweifelte Notlage junger arbeitsloser Menschen und die Krise im Bildungswesen bilden einen explosiven Cocktail, der in den kommenden Monaten und Jahren zu Ausbrüchen großer Jugendbewegungen und politischen Radikalisierungen führen kann.
Die Anhäufung massiver globaler Schulden ist während dieser Krise ein entscheidendes Element der Weltwirtschaft. Dies gleicht einer tickenden Zeitbombe, die eine weitere Finanz- und / oder Wirtschaftskrise auslösen kann. Die globale Verschuldung wird im Jahr 2021 die Marke von 300 Billionen US-Dollar überschreiten. Im Jahr 2020 sind sechs Länder der neokolonialen Welt in Verzug geraten oder haben ihre Schuldenrückzahlungen umstrukturiert. Weitere 46 durften die Rückzahlungen aufschieben. Diese „Notpflaster“ werden in der kommenden Zeit abblättern, was die Wahrscheinlichkeit einer Haushaltskrise in einer Reihe von Ländern erhöhen wird. Einige Länder werden möglicherweise zahlungsunfähig, was erhebliche internationale politische wie wirtschaftliche Konsequenzen haben wird. In Argentinien bahnt sich eine große Krise in Bezug auf die Schuldenrückzahlung an, da sich das Land darauf vorbereitet, über die Rückzahlung seiner 50 Milliarden US-Dollar Schulden zu verhandeln. Die Forderung nach Nichtrückzahlung der Schulden und Verstaatlichung der Banken unter demokratischer Arbeiter*innenkontrolle ist ein wesentlicher Aspekt revolutionär-sozialistischer Programme in der neokolonialen Welt.
Die weitere Verschärfung der Handels- und Zollkriege, die sich im Laufe des Jahres 2020 entwickelt haben, ist ein Ausdruck der sich dramatisch verschärfenden Konflikte zwischen den kapitalistischen Mächten. Sollten sich diese weiter verschärfen, können sie jede noch so instabile, flüchtige Erholung in vielen Ländern oder sogar der Weltwirtschaft insgesamt schwächen oder zum Stillstand bringen.
Auch andere Instabilitäten in der Weltwirtschaft und auf den Finanzmärkten können bestehende Krisen verschärfen. Eine der Folgen von Bidens Paketen war die Aufwertung des US-Dollars. Dies hat sich in der neokolonialen Welt insofern ausgewirkt, als dass Importe teurer wurden und es zu einer erheblich steigenden Inflation in Brasilien, Argentinien und anderen Ländern beitrug. Die Aussicht auf mögliche Währungskriege kann die Probleme in der Weltwirtschaft ebenfalls verschärfen. Der US-Dollar bleibt die bei weitem dominierende Währung der Welt. Im Jahr 1975 wurden 84,6 Prozent der Reserven in US-Dollar gehalten. Bis 2019 sank dieser Anteil auf 60,8 Prozent, stieg aber im Laufe des Jahres 2020 wieder an, was auf den Rückgang des Welthandels zurückzuführen ist. Dieser Rückgang erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Währungskriege ausbrechen, in denen digitale Zahlungsmittel eine Rolle spielen können. Das Wachstum digitaler Währungen wie Bitcoin kann dazu beitragen, die globalen Finanzmärkte zu destabilisieren. Coinbase ging kürzlich an die Nasdaq-Börse und wurde mit 99,9 Milliarden US-Dollar bewertet – mehr als die Banken Lloyds und Barclays zusammengenommen. Obwohl Wert und Verbreitung digitaler “Währungen” gewachsen sind, ist dies in der aktuellen Phase eher symptomatisch für die manische Spekulation (mit extrem schnellen Preis- und Wertschwankungen) von hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, kleineren Investoren. Aus diesem Grund bezeichnet der kapitalistische Ökonom Roubini Bitcoin als “shitcoin”. Etwas anders verhält es sich mit der Etablierung einer digitalen Währung in China, die von der dortigen Zentralbank betrieben wird. Die britische Regierung prüft, ob die Bank of England ebenfalls eine digitale Währung einführen könnte. Die US-Notenbank führte Gespräche mit Facebook über die Möglichkeit, eine solche Währung einzuführen. Diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass digitale Währungen in den globalen Finanz- und Währungsmärkten an Bedeutung gewinnen werden, was wiederum zu weiterer Instabilität beitragen kann.
Biden: “Amerika ist zurück” – in einer Welt in Aufruhr
Biden erklärte, dass “Amerika zurück” sei, und zwar international nach der hauptsächlich isolationistischen Politik von Trump. Es ist jedoch eine “Rückkehr” in eine völlig veränderte Weltlage, die durch das Erstarken Chinas als Weltmacht und die geschwächte Position des US-Imperialismus gekennzeichnet ist. Während sich der US-Imperialismus unter Biden bereits in der internationalen Politik “engagiert”, ist er nicht mehr in der Lage, sich als unangefochtene Weltmacht zu etablieren. Sein “Engagement” kann die Situation sogar verschlechtern. Die USA haben sich wieder mehr in der NATO, der WHO und dem Pariser Umweltabkommen eingebracht. Es ist zwar möglich, dass sie versuchen, eine Einigung z.B. mit dem Iran zu erzielen, aber gleichzeitig hat Biden die Sanktionen und den Boykott sowohl gegen Kuba als auch gegen Venezuela aufrechterhalten.
Das Erstarken Chinas, dessen Anteil an der Weltproduktion jetzt 18 Prozent ausmacht, hat unweigerlich zu einem fortgesetzten Zusammenstoß zwischen Bidens Regierung und China geführt. Der US-Imperialismus, der seine übliche Heuchelei und Doppelmoral fortsetzt, zielt darauf ab, eine “demokratische Allianz” gegen die “diktatorischen” Regime Chinas und auch Russlands zusammenzustellen. Die scharfen Anprangerungen Putins durch Biden spiegeln die bitteren unterschwelligen Spannungen wider, die bestehen. Der US-Imperialismus ist jedoch nicht in der Lage, zu seiner Position als einzige unangefochtene Supermacht zurückzukehren.
Der Trend zur De-Globalisierung führt zu Versuchen, instabile regionale Handelsblöcke und Einflusssphären zu bilden. Auf die kleineren Länder in Asien und Lateinamerika wird massiver Druck ausgeübt, sich dem einen oder anderen Lager anzuschließen. An der “Regional Comprehensive Economic Partnership” (RECEP) in Asien sind 15 Länder beteiligt, darunter China, Australien, Neuseeland und Japan, die zusammen 30 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren. Schritte zur Bildung neuer Blöcke finden statt, da die bisherigen regionalen Strukturen wie ASEAN oder ALBA kaum noch funktionieren oder sich – wie die EU – in einer mehr oder weniger starken Krise befinden.
Die rasche Ausdehnung des chinesischen Einflusses in Lateinamerika, im Nahen Osten, in Afrika und auch in Süd- und Osteuropa führt zu Spannungen und Problemen bei den Versuchen des US-Imperialismus, diese Länder und Gebiete in eine lose antichinesische Allianz einzubinden. Auf die kleineren Länder wird massiver Druck ausgeübt, in dem sich entfaltenden Kampf um Einfluss zwischen den rivalisierenden Hauptmächten “Partei zu ergreifen”. Sri Lanka ist aufgrund seiner strategischen Bedeutung zu einem Schlachtfeld um Einfluss zwischen China und Indien geworden. In Indien hat Modi begonnen, sich als Verfechter des tamilischen Volkes aufzuspielen, um zu versuchen, einen größeren Einfluss im Land zu erlangen. Indien wird vom Westen umworben, was sich darin zeigt, dass es zusammen mit Südkorea und Australien zum nächsten Treffen der G7 eingeladen wurde. Biden will das brutale Modi-Regime in seine “Demokratische Allianz” einbinden. Gerade Asien ist ein explosiver Schauplatz im sich entfaltenden Konflikt zwischen den konkurrierenden Mächten und auch in Bezug auf den Klassenkampf.
Die Militärausgaben sind international in den letzten Jahren massiv gestiegen. Allein im Jahr 2020 stiegen sie um 2,6 Prozent auf etwa 2 Billionen US-Dollar. Der US-Imperialismus gibt inzwischen über 740 Milliarden US-Dollar für seinen Verteidigungshaushalt aus. Chinas Militärausgaben werden sich bis Ende 2021 voraussichtlich auf 208 Mrd. US-Dollar belaufen.
Die sich abzeichnenden regionalen und lokalen Scharmützel bzw. Konflikte weisen viele Parallelen zu den Auseinandersetzungen im Vorfeld des Weltkriegs von 1914 auf. Es gibt viele Krisenherde. Die angespannte Situation im Südchinesischen Meer, die in dem jüngsten Scharmützel zwischen China und den Philippinen ihr jüngstes Beispiel hat, sowie die Stationierung von Kriegsschiffen der EU-Länder und Großbritanniens sind ein Hinweis auf die schwelenden Konflikte in diesem Gebiet. Ein militärischer Schlagabtausch, ob versehentlich oder absichtlich, kann in diesem hochgradig aufgeladenen Kampf um Einfluss nicht ausgeschlossen werden.
In jüngerer Zeit ist die große militärische Aufrüstung an Russlands Westgrenze zur Ukraine ein weiteres Beispiel für die wachsenden Spannungen und Konflikte, die sich in diesem Jahrzehnt entwickeln werden. Putin, der seine Truppen inzwischen zurückgezogen hat, unternahm die Truppenaufstockung zum einen, um die Aufmerksamkeit zu Hause abzulenken, und zum anderen, um behaupten zu können, dass Russland auch international eine Macht sei. Zudem war es auch eine Reaktion auf die provokative Drohung eines ukrainischen NATO-Beitritts – wobei dies zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich nicht geschehen wird. Die Proteste, die in Russland nach der Verhaftung von Alexei Nawalny und dem Rückgang der Unterstützung für Putin ausbrachen, lassen erwarten, dass sich ab einem bestimmten Stadium weitere Bewegungen konstituieren und soziale Explosionen in Opposition zu Putin ergeben werden.
Die Auseinandersetzungen in den zwischenstaatlichen Beziehungen spiegeln sich auch in der globalen politischen Situation wider, wie sie sich uns heute darstellt. Sie ist in allen Ländern von Instabilität, Zersplitterung, Spaltung und Teilung geprägt. Es gibt kein einziges Land, in dem die kapitalistische Klasse auf einer stabilen oder ruhigen Basis regiert. Die Aussicht, dass Israel innerhalb von drei Jahren vor einer fünften Parlamentswahl steht, verdeutlicht dies. Ebenso wie die Krise, die sich im jordanischen Regime aufgetan hat – das zuvor als das solideste und stabilste Regime in der arabischen Welt galt.
Trump, Modi und Bolsonaro
Ein Merkmal der jüngsten Zeit sind die Krisen, die einige der brutalsten rechtspopulistischen Regime erschüttert und die Grenzen der Reaktion aufgezeigt haben. Trump wurde nach einem Versuch, sich an die Macht zu klammern – der zumindest Elemente eines Putschversuchs beinhaltete – besiegt. Jetzt, nach dem Verlust seines Freundes in den USA, steckt das bösartig rechtsautoritäre Regime von Jair Bolsonaro in Brasilien in einer massiven Krise. Der katastrophale Umgang Bolsonaros mit der Pandemie hat dazu geführt, dass er landesweit des Völkermords bezichtigt wird. Er drohte damit, Bundesgelder für jene Bundesstaaten zurückzuhalten, die Abschottungsmaßnahmen einführten. Der Zustand des Zusammenbruchs spiegelt sich in der Verwendung von Lokalwährungen in einigen Städten oder Gemeinden wider. Der Zusammenbruch des Lebensstandards und die Explosion der Armut zeigt sich darin, dass sechs von zehn Haushalten in der Woche nicht genug zu essen haben. Aus Angst vor einer wachsenden Opposition und der Gefahr, vom Führer der “Arbeiterpartei” Lula hinweggefegt zu werden, scheint es klar, dass Bolsonaro versucht, die brasilianischen Streitkräfte als Prätorianer zu seinem Schutz einzusetzen.
Wie Trump war auch Bolsonaro eine Katastrophe für Brasiliens kapitalistische Klasse. Er war nie ihre bevorzugte Kandidatenwahl. Doch seine Herrschaft war katastrophaler, als selbst sie befürchtet hatten. Der beispiellose Rücktritt der Oberbefehlshaber von Heer, Marine und Luftwaffe, die sich seinem Versuch widersetzten, den Einsatz der Streitkräfte zu seiner Verteidigung vorzubereiten, illustriert, wie weit die Krise sich entwickelt hat. Alle bisherigen Meinungsumfragen deuten auf einen klaren Sieg Lulas im Wettstreit gegen Bolsonaro hin. Die meisten deuten auf über 50 Prozent für Lula und etwa 30 Prozent für Bolsonaro hin. Während einige Arbeiter*innen und Jugendliche Lula skeptisch gegenüberstehen, wird er in der Abwägung gegen Bolsonaro als einzige Alternative gesehen. Die Bourgeoisie würde hoffen, eine Lula-Präsidentschaft zur Stabilisierung und zur Abwendung eines drohenden Kontrollverlusts zu nutzen. Es ist nicht auszuschließen, dass Bolsonaro weitere Schritte unternimmt, um jene Basis zu mobilisieren, welche er noch in Teilen des Militärs hat, um so zu versuchen, seine Macht zu erhalten. Eine solche Entwicklung würde einen Aufruhr und eine massive soziale Explosion hervorrufen. Doch diese Entwicklungen zeigen, ebenso wie die Umwälzungen in Indien, die Grenzen der Reaktion auf.
Modi hat in Indien eine bösartige hindu-nationalistische Kampagne geführt, die antimuslimische Stimmungen geschürt und brutale Repression betrieben hat. Die verheerenden Schrecken der Covid-19-Pandemie und das Ausmaß des Massensterbens, das sie im ganzen Land verursacht, sind eine direkte Folge von Modis Politik. Dies kann einen verheerenden politischen Effekt im ganzen Land haben und Modi in der kommenden Periode untergraben und schwächen und letztlich möglicherweise seine Herrschaft bedrohen. Er wurde bereits mit einem enormen Generalstreik von 250 Millionen Menschen im Jahr 2020 und der laufenden Bewegung der Bäuerinnen und Bauern konfrontiert. Wie in anderen Massenbewegungen hat die offizielle “Linke” in Form der Kommunistischen Parteien in Indien nicht die notwendige Führung geboten, um die Bewegung voranzubringen, sondern sie im Gegenteil sogar zurückgehalten. Ihr Versagen bei der Aufgabe, eine kämpferische, unabhängige Alternative der Arbeiter*innenklasse und der Armen anzubieten, bedeutet, dass sich die Massenproteste gegen die Regierung möglicherweise nicht in den Wahlen niederschlagen. Es ist sogar möglich, dass Modis Bharatiya Janta Party aus den Wahlen in Westbengalen, einer ehemaligen Hochburg der kommunistischen Parteien, als Siegerin hervorgeht.
Vielfache Aufstände: Welche Lehren ziehen? Wie geht es weiter?
Die multiplen Krisen, die während der Pandemie sich entfalteten, wurden von multiplen Aufständen oder Massenbewegungen in einer Reihe von Ländern begleitet: Ecuador, Chile, Bolivien, Weißrussland, Haiti, Senegal, Irak, Libanon, Hongkong, Thailand, Nigeria und die “Black Lives Matter”-Bewegung in den USA und Großbritannien, um nur einige davon zu nennen.
Die dramatischen Ereignisse in Myanmar nach dem Militärputsch gingen in vielerlei Hinsicht am weitesten und warfen alle zentralen Fragen von Revolution, Konterrevolution und Aufstand auf. Die Massenbewegung nahm heroische Züge an und war mit brutaler Unterdrückung durch das Militär konfrontiert. Elemente der Zerschlagung der Bewegung auf dem Tiananmen-Platz in China sind in der blutigen Antwort der Generäle von Myanmar präsent.
Die Notwendigkeit, demokratische Aktions- und Verteidigungskomitees zur Organisation des Kampfes zu bilden, wurde unmissverständlich dargelegt. Solche Versammlungen waren notwendig, um Schritte zur Lebensmittelversorgung zu unternehmen sowie Kommunikation und Propaganda zu organisieren, und insbesondere auch, um Verteidigungskomitees zu bilden, die ein Schritt in Richtung einer bewaffneten Miliz sind. Diese Schritte waren notwendig, um den Weg für Massenmobilisierungen und einen Generalstreik vorzubereiten, der zu einem bewaffneten Aufstand führen müsste. Um einen Aufstand zu organisieren, eine Regierung der Arbeiter*innen und Armen zu errichten und sich nicht auf die bürgerlichen Gegner des Militärs zu verlassen, war eine Strategie und Taktik notwendig, mit denen man der Armee und der Polizei die Waffen entreißen und diese staatlichen Institutionen spalten konnte. Die Existenz einer Partei der Arbeiter*innenklasse mit einem revolutionären sozialistischen Programm ist unerlässlich, wenn eine solche Bewegung Erfolg haben soll.
Das Fehlen der bewusst organisierten Kräfte der Arbeiter*innenklasse und der Armen zusammen mit einer solchen Partei hat dazu geführt, dass die Bewegungen, die ausgebrochen sind, zermürbt, erschöpft oder besiegt wurden. Die Aussicht auf Bürgerkrieg, Spaltung und Zerfall ist eine ernsthafte Bedrohung in Myanmar in den kommenden Monaten.
Diese Bewegungen haben heroische Widerstandsfähigkeit und bitteren Hass gegenüber den herrschenden Regimen, den Reichen, den etablierten politischen Parteien und sogar dem kapitalistischen System gezeigt. Ein fundiertes sozialistisches Bewusstsein hat sich jedoch noch nicht entwickelt. Die Idee einer “Revolution” gegen die bestehenden Regime war in vielen dieser Bewegungen sehr populär, aber die Idee des Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus war in der Masse der Teilnehmer*innen nicht präsent. Doch wie die jüngsten Umwälzungen im Libanon gezeigt haben, können neue Aufstände und soziale Explosionen schnell entstehen. Wo die bestehenden Regime die Oberhand gewonnen haben oder neue bürgerliche Regierungen an die Macht gekommen sind, geschah dies nicht auf einer stabilen Basis. Die Bewegungen, die stattgefunden haben, erlitten mehrheitlich keine blutige vernichtende Niederlage.
Diese Ereignisse sind eine Generalprobe für noch größere soziale Erhebungen, die in der kommenden Periode stattfinden können. Die besiegte russische Revolution von 1905 erwies sich als Vorbereitung für den Erfolg von 1917. Elemente davon sind in den Bewegungen zu erkennen, die wir in der jüngsten Periode erlebt haben. Der entscheidende Unterschied war, dass es 1905 die Arbeiter*innenklasse als Klasse war, die sich klar an die Spitze der Bewegung setzte und die Bildung der Sowjets vorantrieb. Dies war bei den jüngsten Aufständen nicht der Fall. Sie können jedoch den Weg für eine solche Entwicklung in der Zukunft bereiten. Die soziale, politische und ökonomische Situation, die in vielen Ländern besteht, ist derart, dass sich im Verlauf dieser Krise revolutionäre oder vorrevolutionäre Situationen entwickeln können. Die soziale, politische und ökonomische Situation in der Türkei macht sie zu einem Kandidaten für diese Art von sozialer Explosion. Während solcher Ereignisse können neue Organisationsformen von den Massen aufgeworfen werden. Revolutionär*innen müssen darauf vorbereitet sein und dürfen nicht einfach nach einer schlichten Wiederholung dessen suchen, was in früheren revolutionären Bewegungen stattgefunden hat. Bei solchen Ereignissen können selbst kleine revolutionäre sozialistische Gruppen mit dem richtigen Programm, den richtigen Parolen und der richtigen Taktik eine Wirkung haben und große Schritte nach vorn machen.
Diese Prozesse können sowohl in den industrialisierten kapitalistischen Ländern als auch in der neokolonialen Welt stattfinden. Auch in China mit seiner massiven industriellen Arbeiter*innenklasse kann es zu großen Bewegungen kommen, die weltweit entscheidende Folgen haben werden. Diese könnten dadurch ausgelöst werden, dass das Wachstum in China gekappt und rückgängig gemacht wird. Neben einem wirtschaftlichen Abschwung können aber auch andere Ereignisse soziale Umwälzungen auslösen. Wir haben es mit Merkmalen von Revolution und Konterrevolution zu tun, die international in ausgeprägter und zunehmend brutalerer Form existieren. Einen Vorgeschmack darauf haben die Umwälzungen gegeben, die die USA, Brasilien, Indien und andere Länder erschüttert haben.
Die soziale Polarisierung und der Rückgriff auf autoritärere Herrschaftsformen – einschließlich Formen parlamentarischer bonapartistischer Regime – in den industrialisierten imperialistischen Ländern und der neokolonialen Welt spiegeln wider, dass die alten Formen des Regierens für die explosive soziale und politische Situation in den meisten Ländern nicht geeignet sind. Die Verteidigung der demokratischen Rechte ist ein wesentlicher Bestandteil des Programms der Arbeiter*innenklasse und der Sozialist*innen.
Es ist wichtig, die Geschwindigkeit einschätzen zu lernen, mit der sich Ereignisse entwickeln oder Änderungen eintreten können. Dies hat sich bei den jüngsten Wahlen in Peru gezeigt. In den letzten zwölf Monaten sind drei Präsidenten gestürzt worden. Bei den jüngsten Wahlen übernahm Pedro Castillo die Führung. Er und seine Partei, Peru Libre, die sich selbst als marxistisch bezeichnet, kamen aus dem Nichts und gewannen den größten Anteil der Stimmen, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass sie die zweite Runde gewinnen. Die Partei ist aus einem erbitterten Streik der Lehrer*innen hervorgegangen, angeführt von Castillo.
Europa: Deutschland in einer historischen Krise
In Europa ist die dramatische Veränderung der Geschicke von Merkels Regierung äußerst beeindruckend. War sie erst das Vorzeigemodell bei der Bewältigung der Pandemie, haben sich nun eine Reihe von großen Spaltungen und Unstimmigkeiten aufgetan, als die verpfuschte Handhabung der Impfstoffverteilung und der Anstieg der Covid-19-Fälle bzw. damit einhergehende Todesfälle bekannt wurden. Dies hat ein tiefes Unbehagen und eine Infragestellung der Regierung und ihres Führungsstils auf allen Ebenen hervorgerufen. Offene Auseinandersetzungen sind zwischen der Bundesregierung und den lokalen Landesregierungen ausgebrochen. Spaltungen in der regierenden CDU/CSU-Allianz und innerhalb der CDU haben sich aufgetan. Die Unterstützung für die CDU ist eingebrochen, die Grünen sind in dieser Phase die großen Sieger. Die Grünen gehen davon aus, dass sie nach den Wahlen im September an der Bundesregierung beteiligt sein werden, möglicherweise als größter Koalitionspartner. Während einige aktuelle Umfragen zeigen, dass sie die größte Kraft sein und die Möglichkeit haben werden, eine Koalition mit der SPD und der LINKEN zu bilden, halten sich die Grünen viele Optionen offen. Die Grünen sind bereits in 11 der 16 Landesregierungen mit fast jeder Partei in verschiedenen Bundesländern an der Regierung – SPD, CDU, LINKE und FDP. Hier passt der alte Spruch: „Das sind meine Prinzipien; wenn sie euch nicht gefallen, dann ändere ich sie“. In Baden-Württemberg haben die Grünen schnell vorgeschlagen, ihre Koalition mit der CDU fortzusetzen, obwohl sie die Möglichkeit hätten, mit der SPD eine Mehrheit zu bilden. Die genaue Zusammensetzung der nächsten Regierung bleibt zu diesem Zeitpunkt noch offen. Doch gepaart mit wichtigen sozialen Bewegungen wie der groß angelegten Berliner Kampagne zur Enteignung von Immobiliengesellschaften und den spontanen Protesten in Berlin gegen die Aufhebung des Mietendeckels hat in Deutschland die schwerste Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen. Damit steht eine neue Periode der Wirtschaftskrise bevor, die ein neues Kapitel für das Kraftzentrum der EU aufschlägt.
Die anhaltende Unpopularität des arroganten Macron in Frankreich wird durch die Art der Eindämmungsmaßnahmen, einschließlich der Einführung einer Ausgangssperre, noch verstärkt. Dies geschieht vor dem Hintergrund erheblicher Proteste und Streiks. Doch das Fehlen einer kämpferischen, kohärenten Alternative von links bedeutet, dass ein Sieg Marine Le Pens bei den Präsidentschaftswahlen möglich ist. Dies wäre zweifellos ein Schock für große Teile der Bevölkerung, würde aber mit Sicherheit eine Gegenreaktion auslösen. Dies zeigt, dass die Bedrohung durch die extreme Rechte und den Rechtspopulismus in vielen Ländern bestehen bleibt. Der Anstieg der Wahlerfolge u. a. von VOX in Spanien, den Fratelli d’Italia in Italien und der AfD in Deutschland sind Beispiele dafür. Selbst wenn diese Parteien unter Spaltungen und möglicher Spaltung leiden wie die AfD in Deutschland, können sie in anderer Form wieder auftauchen.
In dieser Zeit der Zersplitterung und Instabilität stellen Wahlen nur einen in Grenzen belastbaren Gradmesser für die tatsächliche soziale und politische Grundsituation in den jeweiligen Ländern dar. Politiker*innen und Parteien, die an einem Tag gewählt werden, können bereits innerhalb der folgenden Tage oder Wochen wieder verabscheut oder gar gehasst werden, so volatil ist die bestehende Situation. Trotz des katastrophalen Umgangs von Johnson mit der Covid-19-Pandemie in Großbritannien liegen die Tories in den Meinungsumfragen vorn und werden möglicherweise gestärkt aus den Kommunalwahlen hervorgehen. Der Erfolg des Impfstoffs und die erbärmliche Rolle des Labour-Führers Starmer tun ein Übriges. Es ist auch möglich, dass die Regierung durch eine Reihe von Korruptionsenthüllungen, in die Johnson, Minister der Regierung und der ehemalige Premierminister David Cameron verwickelt sind, schwer beschädigt wird. Doch sollte Johnson bei den Wahlen profitieren, wird dies nicht die reale soziale Situation und die massive, real existente Klassenpolarisierung widerspiegeln. Diese kann jeden Moment zu gesellschaftlichen Ausbrüchen führen, wie die jüngsten Proteste und Gegenangriffe der Polizei gezeigt haben.
In ganz Europa und auf allen Kontinenten herrscht eine brodelnde Verbitterung. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern bereiten die Armut, die Obdachlosigkeit, die massive Inanspruchnahme von Lebensmittelbanken (Tafeln) durch diejenigen, die kein Geld für Essen haben und Angriffe auf die Arbeitsbedingungen den Boden für massive soziale Umwälzungen.
Die “Linke” in einer Ära der kapitalistischen Krise – Notwendigkeit einer revolutionär-sozialistischen Alternative
In der Zeit der größten Krise des globalen Kapitalismus seit den 1930er Jahren hat sich die “Linke” – sowohl die etablierten traditionellen kommunistischen Parteien als auch die neueren Formationen wie PODEMOS, FranceInsoumise, Die LINKE, der Linksblock, die Corbynistas – als untauglich erwiesen. Ein weiterer politischer und ideologischer Zusammenbruch hat angesichts dieser gigantischen globalen Krise stattgefunden. Die LINKE prüft den Eintritt in eine Koalition und ist in einen dreifachen Fraktionskampf verwickelt – ohne eine kohärente linkssozialistische Position zu verteidigen. In Frankreich artikuliert Mélenchon zwar einige linksradikale Ideen, weigert sich aber, eine Partei aufzubauen, will stattdessen eine „breite Bewegung“ und nimmt dafür eine nationalistische Haltung ein. Nachdem er mit der Sozialistischen Partei (PSOE) in die Regierung eingetreten ist, ist der Vorsitzende von PODEMOS, Pablo Iglesias, aus ihr ausgetreten, um sich an die Spitze des Regionalparlaments in Madrid zu setzen, ohne dabei eine politische Alternative anzubieten. Die Corbynistas haben es versäumt, eine wirksame Herausforderung für die Konterrevolution zu bieten, die Starmer in der Labour Party durchgesetzt hat. Alexandria Ocasio-Cortez in den USA hat jeden angegriffen, der Biden kritisierte. In der neokolonialen Welt ist der gleiche Prozess am Werk. In Indien haben die kommunistischen Parteien dabei versagt, die Bewegung anzuführen und sind dem Druck des “kleineren Übels” erlegen, ohne einen Klassenstandpunkt einzunehmen. Dies ist ein entscheidendes Thema in vielen Ländern, besonders in denen, die von rechtspopulistischen Kräften regiert werden. Es ist ein wichtiges Thema in Indien, Brasilien und in Chile, wo es um die Parole “alle vereint gegen Pinera” und im Kontext der Idee einer “provisorischen Regierung” von Bedeutung ist. Es ist wichtig, dass revolutionäre Sozialisten*innen geschickt die Stimmung für „Einheit“ berücksichtigen, um die Rechte zu besiegen. Dabei muss aber auch immer die Notwendigkeit politischer Unabhängigkeit und eigener Programmatik der Arbeiter*innenklasse betont werden. Die Arbeiter*innenklasse muss ihr Programm als den besten Weg, um die Rechte zu besiegen, verteidigen, indem sie kein Vertrauen in angeblich “fortschrittliche” Teile der herrschenden Klasse setzt.
Die Zukunft all dieser linken politischen Kräfte ist in Frage gestellt. Es ist möglich, dass sich aus Teilen von ihnen neue Organisationen oder Parteien zu bilden beginnen. Alternativ könnten neue Kräfte aus neuen Kämpfen und Umwälzungen der Arbeiter*innenklasse hervorgehen, wie es in Peru mit “Peru Libre” teilweise der Fall zu sein scheint. Diese neuen Parteien werden im Prozess ihres Aufbaus nicht „rein“ oder vollständig abgerundet sein. Es ist wichtig, dass Marxist*innen und das CWI auf verschiedene Möglichkeiten im Prozess des Aufbaus neuer Parteien der Arbeiter*innenklasse vorbereitet sind. Initiativen wie die TUSC in England, Wales und Schottland oder die SPN in Nigeria können ein Schritt auf dem Weg in diese Richtung sein. Das Entscheidende ist, mutig die Notwendigkeit des Aufbaus von Parteien der Arbeiter*innenklasse zu thematisieren und gleichzeitig Parteien und Gruppen mit einem revolutionären Programm aufzubauen.
Dies ist ein Teil der Herausforderung, vor der die Arbeiter*innenklasse international steht: Zusammen mit den Revolutionär*innen die Parteien und Organisationen der Arbeiter*innenklasse wieder aufzubauen.
Ein entscheidender Aspekt dieser Krise ist, dass die nationale Frage in einer ausgeprägteren und schärferen Form wieder aufgetaucht ist, wie sich in letzter Zeit in Irland, Katalonien, Schottland, Nigeria und anderen Ländern gezeigt hat. In Nigeria befindet sie sich auf einer viel tieferen Ebene, die bewaffnete Aufstände und Zusammenstöße beinhaltet.
Das CWI verteidigt die demokratischen Rechte aller unterdrückten Völker und das Recht auf Selbstbestimmung, die Einheit der Arbeiter*innenklasse und den Internationalismus. Wo es angebracht ist, unterstützt das CWI den Kampf für die Unabhängigkeit und verbindet ihn mit der Notwendigkeit des Sozialismus und der Einheit der Arbeiter*innen – zum Beispiel in Schottland und Katalonien. Doch jede Situation hat ihre eigenen Besonderheiten und ist sehr spezifisch. Die Unterstützung für die Unabhängigkeit verschiedener Nationalitäten und ethnischer Gruppen ist keine feste Größe, die Zustimmung dazu kann auch in den jeweils betroffenen Gruppen zu- und abnehmen. Obwohl nicht auf dem gleichen Niveau wie in Schottland, ist auch in Wales ein Anstieg der Unterstützung für die Unabhängigkeit zu verzeichnen, insbesondere unter jungen Menschen. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, die nationale Frage und andere Formen der Unterdrückung zu lösen. Deshalb ist es unerlässlich, den Kampf gegen nationale und ethnische Unterdrückung mit dem Kampf für den Sozialismus und die Einheit der Arbeiter*innen zu verbinden.
Die Tiefe der Krise, die sich gegenwärtig entfaltet, führt vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika aufgrund des Fehlens einer massenhaften sozialistischen Alternative zu zunehmenden Elementen der sozialen Desintegration und Barbarei. Der brutale Krieg in Äthiopien, die ethnischen Zusammenstöße und Entführungen in Nigeria und die verheerenden Drogenkriege, die in Mexiko geführt werden, wo die Drogenkartelle in einigen Städten und Bundesstaaten als rivalisierende Staatsmaschinerie fungieren, sind allesamt ein Hinweis auf das verfallende, faulende System des Kapitalismus und des Privateigentums an Produktionsmitteln. Die Notwendigkeit einer sozialistischen Alternative als einzige Lösung für die Pandemie, als einzige Lösung Armut, Krieg und Konflikt ist heute größer denn je. Eine globale Lösung für die pandemischen, ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisen, die auf die Menschheit niederprasseln, ist der einzige Weg, um diese drängenden Fragen zu lösen. Es ist der einzige Weg, die spektakulären Fortschritte in Wissenschaft und Technik, die derzeit stattfinden, vollständig zu nutzen. Damit dies erreicht werden kann, muss das System des monopolistischen Kapitalismus beendet werden. Es muss durch demokratische Planung und öffentliches Eigentum an den Produktionsmitteln durch die Arbeiter*innenklasse ersetzt werden, um den Aufbau einer sozialistischen Alternative zu beginnen. Dies stellt die einzige Zukunft für die Menschheit dar. Dem Kampf um diese Zukunft ist das CWI verpflichtet.
Diese Stellungnahme erschien zunächst in englischer Sprache am 28. April 2021 auf www.socialistworld.net