Marxismus und Identitätspolitik

Zwei Artikel über den Kampf gegen Unterdrückung und Diskriminierung und die Bedeutung eines Klassenstandpunkts dabei

Nicht erst seit Sahra Wagenknechts neuem Buch “Die Selbstgerechten” wird die Frage des Kampfes gegen Unterdrückung und Diskriminierung und die Frage, welche Rolle die so genannte Identitätspolitik dabei spielt, kontrovers diskutiert. Wir veröffentlichen hier zwei Artikel der englischen Marxistin Hannah Sell, Generalsekretärin der Socialist Party in England und Wales, zum Thema aus den Jahren 2015 und 2020

Von Privilegien und Rucksäcken (2015)

„Identity politics“ und der Kampf gegen Unterdrückung

Auf der Suche nach einem Weg, Diskriminierung und Unterdrückung zu bekämpfen, beschäftigen sich vor allem viele Jugendliche mit Identity politics. Dies kann einen wichtigen ersten Schritt in der Entwicklung von sozialistischem Bewusstsein darstellen – wenn es zu einem Verständnis des Klassencharakters der kapitalistischen Gesellschaft und zur Einsicht in die Notwendigkeit für gemeinsame Massenkämpfe führt.

von Hannah Sell

In den letzten Jahren wuchs die Unterstützung für das, was im weitesten Sinne als „Identity politics“ bezeichnet wird, vor allem unter jungen Menschen, die berechtigterweise durch ihre Erfahrungen mit Sexismus, Rassismus, Homophobie, Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderung und andere Formen der Unterdrückung verärgert sind und sich dadurch radikalisieren. Identity politics sind gewissermaßen ein zwangsläufiger Bestandteil des politischen Erwachens vieler Angehöriger unterdrückter gesellschaftlicher Gruppen. Die Erkenntnis, dass man unterdrückt wird und dagegen gemeinsam mit anderen kämpfen kann, die von derselben Unterdrückung betroffen sind, ist ein entscheidender erster Schritt.

Allerdings zeigt die Geschichte des Kampfes gegen Unterdrückung, dass diejenigen, die daran teilnehmen, auf der Basis ihrer Erfahrungen über Identity politics hinausgehen, sobald sie erkennen, dass die Wurzel ihrer Unterdrückung in der Struktur der Gesellschaft liegt. So wurde der Höhepunkt der riesigen Bewegung gegen Rassismus in den USA in den 1950ern und 1960ern von den Black Panthers erreicht, die 1966 auf der Grundlage einer großen Idee gegründet wurden: „Wir bekämpfen nicht Rassismus mit Rassismus. Wir bekämpfen Rassismus mit Solidarität. Wir bekämpfen den ausbeuterischen Kapitalismus nicht mit ‚schwarzem‘ Kapitalismus. Wir bekämpfen Kapitalismus mit Sozialismus.“

Heute sind sowohl die #BlackLivesMatter-Rebellion als auch die Bewegung für einen Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde die ersten Stufen einer neuen Massenerhebung gegen Armut und Rassismus in den USA. Allerdings haben der weltweite Rückgang des Bewusstseins in den Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des Stalinismus in den 1980ern und der damit einhergehende kapitalistische Triumphzug dazu geführt, dass diese neuen Bewegungen nicht dort weitermachen, wo die Black Panthers aufgehört haben: bei einer sozialistischen Perspektive. Trotzdem wächst die antikapitalistische Stimmung unter jungen Menschen in den USA, was einen ersten Schritt hin zu sozialistischen Schlussfolgerungen darstellt.

Gleichzeitig sind Identity politics der politische Ausgangspunkt für viele AktivistInnen. Während sie von denjenigen, die in Bewegungen aktiv sind, als Mittel zur Gegenwehr betrachtet werden, beschränkt sich die von den Universitäten ausgehende und in den letzten Jahrzehnten vorherrschende Form von Identity politics überwiegend darauf, über persönliche Unterdrückungserfahrungen zu diskutieren, anstatt Wege zu finden, Unterdrückung zu beenden.

Das betrifft all die Strömungen von Identity politics, die in den letzten Jahren bekannt wurden, wie Intersektionalität und Privilege theory. In Großbritannien sind diese Konzepte in der breiteren Gesellschaft wenig bekannt, gelten aber beispielsweise in universitären feministischen Gruppen als allgemein anerkannt. VertreterInnen der Intersektionalität gehen davon aus, dass sich verschiedene Unterdrückungsweisen überschneiden (engl. intersection = Überschneidung). Das tun sie tatsächlich: Beispielsweise wird eine schwarze Frau aus der Arbeiterklasse dreifach unterdrückt. Aber VertreterInnen der Intersektionalität sehen ihre Aufgabe häufig eher darin, Unterdrückung zu katalogisieren und zu bestimmen als sie abzuschaffen.

AnhängerInnen der Privilege theory sind dafür bekannt, Leute in (häufig Online-) Diskussionen aufzufordern, ihre „Privilegien zu hinterfragen“. Peggy McIntosh, die Begründerin der Privilege theory, argumentierte, dass beispielsweise ein weißer, heterosexueller Mann aus der Oberschicht einen „unsichtbaren Rucksack“ voller unverdienter Privilegien mit sich herumtrage. Ihre Argumentation geht davon aus, dass Macht nicht in den Händen einer gesellschaftlichen Klasse oder im Staat konzentriert, sondern über die ganze Gesellschaft verteilt sei, und demzufolge in allen sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen bestehe. Die Privilege theory betrachtet jedes Individuum als Teil vielfältiger unterdrückerischer Beziehungen. Sie beschränkt sich überwiegend auf Ermahnungen an Individuen, sich zu verändern und ihre Privilegien zu hinterfragen.

Allerdings ist es nicht möglich, Unterdrückung oder Privilegien auszumerzen, indem lediglich Individuen dazu aufgerufen werden, ihr Verhalten zu ändern. Vielmehr ist es so, dass in den letzten Jahrzehnten in vielen Ländern große Fortschritte bei den gesellschaftlichen Einstellungen zu verschiedenen Unterdrückungsformen stattfanden, dass diese Fortschritte aber nicht zur Beendigung der jeweiligen Unterdrückung geführt haben.

Die Wurzeln von Rassismus

So sind beispielsweise in Großbritannien noch gewisse rassistische Vorurteile verbreitet, während plumpe rassistische Ideen weit weniger gesellschaftlich akzeptiert sind als vor dreißig Jahren. Dies hat verschiedene Gründe – in erster Linie die Entschlossenheit und das gestiegene Selbstbewusstsein, mit denen schwarze und asiatische Menschen gegen Diskriminierung und Rassismus kämpfen. Ein weiterer wichtiger Faktor war die breite Einbindung schwarzer und asiatischer ArbeiterInnen in den Gewerkschaften in gemeinsame Kämpfe mit weißen ArbeiterInnen. Diese beiden Faktoren haben unter einem großen Teil der weißen Bevölkerung, und vor allem unter Jugendlichen, das Gefühl befördert, dass Rassismus falsch ist und bekämpft werden muss.

Trotzdem ist Rassismus weiterhin tief in der britischen Gesellschaft verwurzelt. Es ist für Schwarze und AsiatInnen bis zu 28 mal wahrscheinlicher, von der Polizei kontrolliert zu werden. Trotz einer Veränderung der gesellschaftlichen Einstellungen haben sich die Lohnunterschiede zwischen weißen ArbeiterInnen und ArbeiterInnen aus ethnischen Minderheiten in den letzten Jahren vergrößert. Mehr als die Hälfte junger schwarzer Männer ist arbeitslos, womit unter ihnen der Arbeitslosenanteil mehr als doppelt so hoch ist wie unter jungen weißen Männern.

In den USA ist die Situation noch krasser. Während es weiterhin tief verwurzelten Rassismus gibt, gab es zwar auch dort Fortschritte bei den gesellschaftlichen Einstellungen. Außerdem haben sich dort eine schwarze Mittelschicht und sogar eine kleine schwarze Elite entwickelt. Diese beiden Prozesse spiegelten sich in der Wahl eines Schwarzen zum US-Präsidenten wider. Aber trotzdem gehört die riesige Mehrheit der schwarzen Bevölkerung zu den Ärmsten und am meisten Unterdrückten in der Gesellschaft und ist von gewaltsamer staatlicher Repression betroffen. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2015 wurden 135 AfroamerikanerInnen von der Polizei getötet.

Rassismus speist sich nicht bloß aus individuellen Vorurteilen, sondern hat auch eine viel grundlegendere Ursache: die historisch entstandene Natur des Kapitalismus. Malcolm X sagte richtigerweise: „Es gibt keinen Kapitalismus ohne Rassismus.“ Karl Marx sagte, das Kapital kam „aus allen Poren blut- und schmutztriefend“ auf die Welt (Das Kapital, Bd. I, Kapitel 24). Hierbei bezog er sich insbesondere auf die Rolle der neuzeitlichen Sklaverei bei der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. Mit dieser Sklaverei entwickelten sich alle möglichen pseudo-wissenschaftlichen Rassentheorien, um die Versklavung der afrikanischen Völker zu begründen. Danach wurden rassistische Ideen aufgegriffen, um die koloniale Ausbeutung großer Teile der Welt zu rechtfertigen. Der Kapitalismus war im 20. Jahrhundert wegen der gewaltigen revolutionären antikolonialen Bewegungen gezwungen, die direkte Kolonialherrschaft abzuschaffen. Trotzdem ist die wirtschaftliche Ausbeutung heute brutaler als je zuvor, denn vor 250 Jahren betrug das Verhältnis zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern etwa 5:1 – während es heute 400:1 beträgt. Rassismus wird zur Rechtfertigung dafür genutzt, dass es diese riesige Kluft gibt und schwarze ArbeiterInnen selbst in den „reichen“ Ländern zu den ärmsten und am meisten unterdrückten Teilen der Arbeiterklasse gehören.

Unterdrückung von Frauen

Ähnlich wird – insbesondere in den wirtschaftlich stark entwickelten kapitalistischen Ländern – offener Sexismus nicht mehr auf die selbe Weise akzeptiert wie in der Vergangenheit. In den letzten Jahrzehnten haben Frauen mehr Rechte errungen. Dazu haben mehrere Faktoren geführt, nicht zuletzt die Entwicklung verbesserter und leicht erhältlicher Verhütungsmittel. Und vor allem können viele Errungenschaften auf das gestiegene Selbstbewusstsein von Frauen zurückgeführt werden, von denen immer mehr einer Lohnarbeit nachgehen, anstatt zu Hause isoliert zu sein.

Nichtsdestoweniger werden Frauen auch weiterhin unterdrückt. Diese Unterdrückung liegt nicht so sehr in den Einstellungen der Männer begründet, sondern vielmehr in der Rolle von Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft und früheren Klassengesellschaften. Die meisten Menschen verstehen unter „Familie“ ihre Angehörigen und Verwandten. Aber aus einer historischen Perspektive kann die Familie als eine Institution betrachtet werden, die in Klassengesellschaften soziale Kontrolle ausübt, indem dem Vater als „Haushaltsvorstand“ die Verantwortung übertragen wird, Frau und Kinder zu disziplinieren. Dieses Konzept wurde in der Neuzeit durch das gestiegene Selbstbewusstsein von Frauen geschwächt, wurde aber noch lange nicht beseitigt. Weiterhin bleibt die Idee tief verwurzelt, Frauen seien das Eigentum von Männern und müssten ihrem Partner treu und gehorsam sein – und Gewalt und Zwang seien angemessene Mittel für Männer, dies sowohl gegenüber „ihren“ Frauen als auch „ihren“ Kindern durchzusetzen.

Heutzutage wird es nicht mehr gesellschaftlich akzeptiert, Frauen offen als Eigentum von Männern zu bezeichnen – aber bis vor relativ kurzer Zeit waren diese Ansichten in der Gesetzgebung verankert. Vergewaltigung in der Ehe wurde in Großbritannien erst 1991 verboten, in Spanien 1992 und in Deutschland 1997. Obwohl sie nicht mehr rechtlich oder öffentlich akzeptiert wird, ist Vergewaltigung in der Ehe immer noch weit verbreitet und wird nur selten bestraft. Es wird davon ausgegangen, dass in Großbritannien nur 15 Prozent aller Vergewaltigungen bei der Polizei angezeigt werden und dass es nur bei sieben Prozent der angezeigten Vergewaltigungen zu einer Verurteilung kommt. Laut UN wurde 2012 fast die Hälfte aller weltweit ermordeten Frauen von Partnern oder Familienmitgliedern umgebracht. Hingegen wurden nur sechs Prozent aller Morde an Männern von Partnern oder Familienmitgliedern begangen.

Gleichzeitig tragen Frauen weiterhin die Hauptlast der Haushaltstätigkeiten, obwohl immer mehr von ihnen zusätzlich arbeiten gehen. Häufig sind Frauen weiterhin, wie es der russische Revolutionär Leo Trotzki ausdrückte, „Sklavinnen von Sklaven“. Beispielsweise erkennen Studien zufolge in Großbritannien die meisten Männer an, dass sie genauso viel Hausarbeit wie Frauen machen sollten, aber es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen Anspruch und Realität: Einer Umfrage zufolge verrichten Frauen durchschnittlich 17 Stunden Hausarbeit pro Woche (Kinderbetreuung nicht mit eingerechnet), während Männer weniger als sechs Stunden verrichten.

Insofern ist es wahr, dass Männer aus dem Umstand, dass Frauen einen unverhältnismäßig hohen Anteil an der Hausarbeit auf ihren Schultern tragen, einen gewissen Nutzen ziehen, weil sie dadurch einige Stunden mehr Freizeit haben. Aber Den Hauptnutzen daraus ziehen die Kapitalisten: Indem sie die Belastungen der Hausarbeit, des Großziehens der nächsten Generation (aus der sich die Arbeitskraft der Zukunft speist) und der Pflege der Kranken und Alten auf die Frauen abwälzen, entziehen sie sich der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung.

Machtkonzentration bei der Kapitalistenklasse

Zu behaupten, dass die Macht nicht in den Händen einer Klasse konzentriert ist, bedeutet, das Wesen des Kapitalismus grundlegend falsch zu verstehen. Heute sind Reichtum und Macht in weniger Händen – den Händen der Eigentümer der großen Banken und Konzerne – konzentriert als zu Marx‘ Zeiten. Laut Oxfam verfügen die 85 reichsten Menschen der Erde – so viele, wie in einen Doppeldeckerbus passen – über so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Unter diesen 85 reichsten Menschen befinden sich fünf Frauen und ein Afrikaner, während weiße Männer überwiegen. Ihre gesellschaftliche Rolle ist jedenfalls nicht auf ihre Hautfarbe oder ihr Geschlecht zurückzuführen, sondern darauf, dass sie Teil einer kleinen superreichen herrschenden Elite sind.

Die 100 größten Unternehmen der Erde kontrollieren heute 70 Prozent des Welthandels. Selbst wenn in ihren Vorständen mehr Schwarze oder Frauen vertreten wären, würde es keinerlei materiellen Unterschied für die Ausbeutung machen, unter der die Arbeiterklasse und die Armen weltweit leiden, darunter nicht zuletzt schwarze Frauen. Schauen wir nach Südafrika, so sehen wir, dass die Eingliederung einer kleinen Minderheit der Schwarzen in die Kapitalistenklasse keinen Unterschied in der schrecklichen Armut gemacht hat, unter der die Mehrheit der Menschen dort leidet. Und der Kapitalismus erweist sich zunehmend als unfähig, die Gesellschaft weiterzuentwickeln. Viele Rechte, die von bisherigen Generationen in Europa teilweise als selbstverständlich betrachtet wurden, wie relativ sichere Arbeitsplätze, Wohnungen und Renten, gehören inzwischen der Vergangenheit an.

Zu sagen, dass die sozialen Beziehungen in der modernen Gesellschaft kapitalistische Beziehungen sind, ist kein „wirtschaftsdeterministischer“ Blick auf die Gesellschaft, der davon ausgehen würde, dass jeder Aspekt des gesellschaftlichen Überbaus – Staat, Politik, öffentliche Meinung usw. – starr durch die wirtschaftliche Basis vorherbestimmt ist. Im Gegenteil besteht ein Wechselverhältnis zwischen Basis und Überbau. Denn Politik und gesellschaftliche Einstellungen spiegeln nicht nur den gegenwärtigen Charakter des Kapitalismus wider, sondern auch Überreste der Vergangenheit und – insbesondere in Form von Massenkämpfen der Arbeiterklasse und der Unterdrückten – die Keime einer potenziellen besseren Zukunft. Aber trotzdem ist klar: Solange wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, in der Reichtum und Macht bei der kleinen Elite liegen, die Industrie, Wirtschaft und Technologie besitzt und kontrolliert, wird der Überbau dieser Gesellschaft letzten Endes die Interessen dieser herrschenden Elite widerspiegeln und ihr dienen.

Egal, wie häufig Menschen aufgefordert werden, ihre „Privilegien zu hinterfragen“: Das wird nicht die gesellschaftlichen Einstellungen beseitigen, die vom Kapitalismus hervorgebracht und aufrechterhalten werden. Der Kapitalismus kann durch entschlossene Massenbewegungen bis zu einem gewissen Grad zur Anpassung gezwungen werden – so war es mit LGBT-Rechten (LGBT = engl. Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender, AdÜ), Lohngleichheitsgesetzen und anderen Maßnahmen – aber dauerhafter, tief verwurzelter Wandel, vor allem dort, wo er die Funktionsweise des Kapitalismus bedroht, kann ausschließlich durch die sozialistische Veränderung der Gesellschaft erreicht werden.

Die abschreckende bürokratische Degeneration und schließlich der Zusammenbruch der Sowjetunion haben verschleiert, welche Bedeutung die Russische Revolution spielte, uns einen flüchtigen Blick darauf zu ermöglichen, was Sozialismus für die von Unterdrückung Betroffenen bedeuten würde. In Russland führte 1917 die Arbeiterklasse eine Bewegung der Unterdrückten an, die zum ersten und bisher einzigen Mal erfolgreich den Kapitalismus stürzte. Russlands extreme Armut und die Isolation des neuen Arbeiterstaates führten zu der genannten Degeneration. Und trotzdem: In seiner Anfangszeit gab dieser Arbeiterstaat einen Blick darauf frei, wie eine neue Gesellschaft Unterdrückung überwinden kann, die seit Jahrtausenden bestand.

Im „rückständigen“ Russland wurden in kurzer Zeit viele rechtliche Änderungen vorgenommen, die über Jahrzehnte fortschrittlicher waren als in irgendeinem kapitalistischen Land. Diese umfassten universelles Wahlrecht, Zivilehe und Scheidungsmöglichkeit für beide Partner, gleiche Bezahlung, bezahlten Mutterschaftsurlaub, das Recht auf Abtreibung und die Legalisierung der Homosexualität. Unterdrückte Nationalitäten bekamen ein vollständiges Selbstbestimmungsrecht. Es wurden Maßnahmen zur Förderung von Nationalitäten und Kulturen unternommen, die unter dem Zarismus unterdrückt worden waren, zum Beispiel die erstmalige Entwicklung von Schriften für einige Sprachen.

Selbstverständlich beenden rechtliche oder formale Maßnahmen alleine nicht die Unterdrückung. So verdienen auch Jahrzehnte nach der Verabschiedung der Lohngleichheitsgesetze in Großbritannien Frauen jährlich im Durchschnitt 5000 Pfund weniger als Männer. In Hinblick auf die Frauenunterdrückung in der Sowjetunion erklärte Trotzki, dass die rechtliche Gleichheit ein Schritt vorwärts war, aber die wirkliche Gleichheit in den sozialen Beziehungen einen viel „tiefergehenden Pflug“ bräuchte, der echte ökonomische Gleichheit und die Wegnahme der häuslichen Belastung von der Frau ermöglichen sowie die seit Jahrtausenden verwurzelten gesellschaftlichen Einstellungen verändern würde. Eine große Zahl an Maßnahmen wurde direkt nach der Revolution ergriffen (z. B. kostenlose Kinderbetreuung, Gemeinschaftsküchen und öffentliche Wäschereien), was einen Eindruck davon gab, wie das Joch der Hausarbeit abgeworfen werden könnte – obwohl die Maßnahmen aufgrund der Degeneration der Sowjetunion nie vollständig umgesetzt werden konnten. Das hätte wiederum das Fundament für den Aufbau einer Gesellschaft legen können, die auf der Gleichheit von Mann und Frau basiert.

Viele VertreterInnen der Intersektionalismus-Theorie legen ziemlich wenig Betonung auf Kampagnen für ökonomische und praktische Maßnahmen, um die Belastung von Frauen aufzuheben; stattdessen beschränken sie sich fast ausschließlich auf gesellschaftliche Einstellungen und versuchen, unterdrückungsfreie Räume in der Gesellschaft aufzubauen. Dabei ist die Befreiung der Frauen davon, die Pflegerinnen, Köchinnen und Putzfrauen der Gesellschaft zu sein, eine wesentliche Voraussetzung für das Ende der Frauenunterdrückung. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts fährt jedoch genau in die Gegenrichtung: Austerität trifft Frauen schwer. Sie bedeutet große Kürzungen bei öffentlichen Angeboten, die wenigstens teilweise die Last erleichtert haben, die auf Frauen liegt. Die Parole der „großen Gesellschaft“ von David Cameron (konservativer Premierminister des Vereinigten Königreichs, AdÜ) kann zusammengefasst werden als die Forderung an Frauen, die Kürzungen in den Bereichen Gesundheit, Kinderbetreuung und Altenpflege zu kompensieren, indem sie deren Aufgaben auf sich nehmen. Das zeigt deutlich, dass Errungenschaften, die von unterdrückten Gesellschaftsgruppen erkämpft wurden, im Kapitalismus niemals garantiert und dauerhaft sind. Das gilt übrigens auch für die verheerenden, teilweise lebensbedrohlichen Folgen der Austerität für Menschen mit Behinderung.

Kampf gegen Vorurteile

Die Einsicht in die Notwendigkeit, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen, schmälert keineswegs die Wichtigkeit, gegen unterdrückerische und reaktionäre Ideen und Verhaltensweisen anzukämpfen, solange wir in dieser Gesellschaft leben – und das auch innerhalb der Arbeiterbewegung. Dies ist notwendigerweise ein permanenter Kampf. VertreterInnen der Intersektionalismus-Theorie fordern „geschützte Räume“ mit keinerlei Toleranz für irgendetwas, das als unterdrückerisch gelten könnte. Aber es ist utopisch, einen Schutzraum schaffen z uwollen, der abgeriegelt ist von der Gesellschaft, in der wir alle leben und die uns alle prägt. Sich abzukapseln, anstatt rauszugehen und eine Bewegung aufzubauen, die wirkliche Veränderungen erreichen kann, ist zum Scheitern verurteilt und führt zu Frustration. Denn weit davon entfernt, tatsächlich geschützte Räume zu schaffen, führt so etwas häufig zu einer undemokratischen Umgebung, in der die in einem „Raum“ dominierenden Individuen behaupten, sie würden sich von Ideen und Meinungen unterdrückt fühlen, die ihnen oft einfach nicht passen.

Es gibt außerdem die gefährliche Entwicklung dahin, zu glauben, dass der Wert eines Diskussionsbeitrages darauf zurückzuführen sei, unter welchen Unterdrückungen die/der Beitragende leidet. Das ist komplett falsch. Die erste und einzige Premierministerin Großbritanniens, Margaret Thatcher, war zweifelsfrei von ihrer individuellen Unterdrückung als Frau betroffen, aber das neoliberale Programm, dass sie durchgezogen hat, war komplett gegen die Interessen von Frauen aus der Arbeiterklasse gerichtet. Vor kurzem wurde Jeremy Corbyn, der neue linke Anführer der Labour Party, dafür angegriffen, dass er angeblich nicht genug Frauen in seinem Schattenkabinett habe, obwohl in dessen erster Reihe erstmals mehrheitlich Frauen stehen. Bei der Wahl zum Parteivorsitz stimmten mehr Frauen für Corbyn als für die KandidatInnen vom rechten Flügel (unter denen zwei Frauen waren), weil er gegen Austerität war. Wenn er anstelle des linken Abgeordneten John McDonnell eine für Austerität stehende Frau zur SchattenkanzlerIn gemacht hätte, wären die meisten Frauen, die ihn gewählt hatten, berechtigterweise tief enttäuscht gewesen.

Die Frage der „geschützten Räume“ hängt auch mit der Herangehensweise der VertreterInnen der Intersektionalismus-Theorie an Geschlechterfragen zusammen: Sie meinen, dass das Konzept der zwei Geschlechter ein soziales Konstrukt sei und Gender (soziales Geschlecht) in Wahrheit eher als breites Spektrum aufzufassen sei. Sie legen ihren Schwerpunkt darauf, Transgender-Personen und all jene zu unterstützen, die gegen gesellschaftliche Geschlechterrollen rebellieren. Dies schließt auch diejenigen ein, die sich weder als männlich noch weiblich betrachten, sondern als „gender-nonkonform“. Darin drückt sich die begrüßenswerte Ablehnung einer wachsenden Zahl junger Menschen gegenüber den üblichen Geschlechterverhältnissen und Homophobie aus. SozialistInnen treten freilich für das demokratische Recht von Individuen ein, ihre Genderzugehörigkeit und ihre Sexualität selbst zu bestimmen. Aber dass sich in dieser Frage eine wichtige Schicht von Leuten radikalisiert, bedeutet nicht, dass es möglich wäre – wie es einige VertreterInnen der Intersektionalismus-Theorie versuchen – innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft Räume zu schaffen, die frei von jedem Druck in Hinsicht auf Gender sind.

Der Kapitalismus formt unsere Ansichten von Geburt an, mit all den Verzerrungen der menschlichen Persönlichkeit, die er hervorbringt. Dazu gehört auch, welches unserem sozialen Geschlecht (Gender) „angemessene“ Verhalten von uns erwartet wird. Es ist nicht möglich, sich dem vollständig zu entziehen; in dieser Gesellschaft sind kapitalistische Geschlechterrollen objektive Realität. Sogar kapitalistische Geschlechterrollen abzulehnen bedeutet, auf diese Rollen zu reagieren und somit von ihnen beeinflusst zu werden. Es ist nicht genau vorhersehbar, wie sich zwischenmenschliche Beziehungen einschließlich der Geschlechterrollen in der Zukunft entwickeln werden, wenn wir von den engen Zwangsjacken befreit sind, in die uns der Kapitalismus aktuell zwingt. Deshalb lautet die entscheidende Frage für alle, die entschlossen sind, Unterdrückung zu beenden: Wie kann der Kapitalismus abgeschafft und mit dem Aufbau einer Welt ohne Unterdrückung – einem „Schutzraum“ für alle – begonnen werden?

Die Rolle der Arbeiterklasse

Heute wie damals, als Marx die Arbeiterklasse als „Totengräber des Kapitalismus“ bezeichnet hat, ist sie die entscheidende Kraft auf unserem Planeten, die uns von diesem bankrotten System befreien kann. Sowohl die Privilege theory als auch die Intersektionalität würden die gesellschaftliche Klasse unter dem Begriff „Klassismus“ als eine unter vielen Formen von Unterdrückung bezeichnen. Häufig diskutieren sie die Klasse in Hinblick auf die Vorurteile, mit denen Menschen konfrontiert sind, weil sie aufgrund ihres Sprachgebrauchs oder ihrer Postleitzahl (z. B. bei Bewerbungen; AdÜ) der Arbeiterklasse zugeordnet werden. Dabei wird das Entscheidende, nämlich die Bedeutung von Klassen für die Gesellschaftsstruktur, gar nicht erkannt. Bei dieser Herangehensweise würde überhaupt nicht verstanden werden, dass ein nigerianischer Arbeiter mehr Gemeinsamkeiten mit einer Arbeiterin in Großbritannien oder den USA (oder Deutschland; AdÜ) hat als mit Aliko Dangote, dem einzigen Afrikaner, der es auf die Liste der 85 reichsten Menschen der Erde geschafft hat. Der Umstand, dass die Arbeiterklasse letztlich die Profite der Kapitalisten erschafft und durch gemeinsame Klassenkämpfe die kapitalistische Gesellschaft zum Stillstand bringen kann, wird als altmodisch abgetan.

Aber die Arbeiterklasse ist nicht am Verschwinden. Sie ist heutzutage sogar potenziell stärker als zur Zeit der Russischen Revolution. Viele Länder, in denen die ArbeiterInnen vor hundert Jahren noch eine kleine gesellschaftliche Minderheit waren, haben heute große und kraftvolle Arbeiterklassen. In den wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern wie Großbritannien hat die Deindustrialisierung zwar zu einem starken Schrumpfen der Industriearbeiterklasse geführt. Aber trotzdem bestehen weiterhin Gruppen von ArbeiterInnen mit einer gewaltigen Kraft, die Gesellschaft mit Streiks zum Stillstand zu bringen – das wissen alle, die in letzter Zeit einen der Streiks bei der Londoner U-Bahn miterlebt haben. Die Deindustrialisierung hat nicht dazu geführt, dass Jugendliche nun Teil der „Mittelschicht“ sind, sondern sie hat diese zu schlecht bezahlter, befristeter Arbeit, häufig im Dienstleistungsbereich, gezwungen. Gleichzeitig wurden große Schichten der Bevölkerung,wie LehrerInnen und Beamte, die sich früher selbst als Teil der Mittelschicht betrachtet haben, in die Reihen der Arbeiterklasse hinunter gedrückt, was ihren Lebensstandard und ihre soziale Perspektive angeht.

Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hat mehrfach die Bereitschaft der Arbeiterklasse, für Sozialismus zu kämpfen, demonstriert. Zugleich hat sie gezeigt, dass die Kapitalistenklasse sich mit allen Mitteln an die Macht klammert und nicht zuletzt versucht, nach dem Prinzip „teile und herrsche“ die verschiedenen Teile der Arbeiterklasse gegeneinander auszuspielen.

In den letzten Jahren gab es einen weltweiten Anstieg von Radikalisierung und Kämpfen bis hin zu revolutionären Bewegungen. Wenn diese auch vielfach erfolglos waren, so werden aus ihnen heraus doch die Schlussfolgerungen gezogen, was notwendig ist, um die Gesellschaft zu verändern: Notwendig ist eine revolutionäre Massenbewegung, die die verschiedenen Schichten der Arbeiterklasse mit ihren verschiedenen Erfahrungen und Perspektiven in einer Massenpartei zusammenführt – mit einem klaren Programm und einer entschlossenen und rechenschaftspflichtigen Führung.

Solch eine Partei wäre kein Modell einer neuen Gesellschaft, aber ein Werkzeug, um sie zu erreichen. Es ist entscheidend, dass in einer solchen Partei auch die am heftigsten unterdrückten Schichten der Arbeiterklasse vertreten sind, und dass sie eine lebendige und demokratische Kraft darstellt, in der alle Beteiligten ihre Sichtweisen zum Ausdruck bringen können. Ihr Programm muss – wie damals das Programm der Bolschewiki in Russland – den Kampf für die Rechte nicht nur der Arbeiterklasse im Allgemeinen, sondern auch für ihre diversen besonders unterdrückten Schichten beinhalten.

Zweifelsohne würde eine solche Bewegung auch die Unterstützung breiter Teile der Mittelschichten und sogar von einzelnen Personen aus der Kapitalistenklasse erhalten, die die Notwendigkeit für einen Bruch mit dem Kapitalismus sehen. Das beträfe vor allem diejenigen, die im Kapitalismus unter Unterdrückung leiden und einsehen, dass die einzige Möglichkeit, Homophobie, Rassismus oder Frauenunterdrückung zu beenden, in der Beteiligung am Kampf für eine neue Gesellschaft liegt.

Vereint im Kampf

Es wäre lächerlich und aberwitzig, zu fordern, dass diejenigen, die gegen ihre spezifische Unterdrückung kämpfen, sich zurückhalten und auf den vereinigten Kampf der gesamten Arbeiterklasse warten sollen. Im Kampf für gesellschaftlichen Fortschritt sind Massenkämpfe tausendmal wirkungsvoller als Ermahnungen an Individuen, ihre Einstellungen zu verändern. Eine Bewegung hat immer dann größere Erfolgsaussichten, wenn sie in der Lage ist, auf andere Schichten der Arbeiterklasse überzugreifen. Und darum ist es wichtig, dass das Programm, für das eine Bewegung eintritt, dies versucht. Aber das bedeutet auf keinen Fall, dass eine Gruppe ihren Kampf künstlich hinauszögern sollte, bis sie beispielsweise mehr weiße oder männliche Arbeiter von ihrer Sache überzeugt hat.

Gleichwohl erfordert zum Beispiel die dauerhafte Abschaffung des Rassismus in den USA die Abschaffung des Kapitalismus und muss daher in einem gemeinsamen Kampf erfolgen, der verschiedene Teile der Arbeiterklasse zusammenführt: Schwarze, Hispanics, AsiatInnen und Weiße. Das ist eine praktische Frage. Die afroamerikanische Bevölkerung, die am stärksten unter Polizeirassismus leidet, macht 13 Prozent der Gesamtbevölkerung aus und wird nicht alleine gewinnen können. Die Kapitalistenklasse wird versuchen, die Spaltung zwischen verschiedenen Schichten der Unterdrückten zu vertiefen, vor allem in Zeiten verstärkten Kampfes. Die Unterdrückten sind darauf angewiesen, ihre Stärke zu erhöhen, indem sie nach größtmöglicher Einheit streben. Die „$15 Now“-Bewegung (für 15 Dollar Mindestlohn) in den USA und die Wahl von Kshama Sawant von der Socialist Alternative in Seattle haben die wachsenden Möglichkeiten gezeigt, in den USA eine vereinte Arbeiterbewegung aufzubauen.

Das Streben nach Einheit bedeutet jedoch nicht, die Wichtigkeit des Kampfes gegen die spezifische Unterdrückung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen herunterzuspielen. Im Gegenteil: Es ist unerlässlich, dass SozialistInnen sich dafür einsetzen, dass die Arbeiterbewegung den Kampf gegen jede Form von Unterdrückung aufnimmt. Die Socialist Party blickt dabei auf eine stolze Geschichte zurück: So standen wir in den 1990ern an der Spitze der Bewegung gegen häusliche Gewalt, die entscheidend dabei war, dass die Gewerkschaften dieses Thema aufgegriffen haben.

Die Intersektionalität an den britischen Universitäten hat die Tendenz, feministische Campus-Gruppen nach innen zu kehren und sich fruchtlosen Versuchen zu widmen, Unterdrückung in Listen zu erfassen, anstatt für ihre Beendigung zu kämpfen. Aber viele Menschen, die ursprünglich von diesen Ideen angezogen wurden, suchen nach einem Weg, die Gesellschaft zu verändern, und werden dabei schnell an die Grenzen der Identity politics in ihren unterschiedlichen Ausprägungen stoßen.

Ein kleiner Hinweis darauf ist die Beliebtheit des Films „Pride“ unter jungen Menschen, der die wahre Geschichte der Gruppe „Lesben und Schwule für Bergarbeiter“ (engl. LGSM) erzählt. LGSM hatte die Gemeinsamkeiten zwischen ihrem Kampf gegen die konservative Tory-Regierung und dem Bergarbeiterstreik von 1984/85 erkannt. Ihre Bemühungen, die Bergarbeiter zu unterstützen, stießen durchaus auf Schwierigkeiten, führten aber schließlich zu wirklicher Einheit. LGSM hatte nämlich verstanden, dass ein Sieg der Bergarbeiter eine massive Niederlage für die Premierministerin Thatcher, die Tories (konservative Partei) und die Kapitalistenklasse gewesen wäre – und dass dies im Interesse von Lesben und Schwulen war. Sie haben niemals weiße, heterosexuelle Bergarbeiter, die anfangs häufig homophob waren, aufgefordert, ihre „Privilegien zu hinterfragen“. Ein Ergebnis ihres heldenhaften Engagements war, dass große Teile der Arbeiterbewegung von ganzem Herzen den Kampf für die Befreiung von Lesben und Schwulen unterstützt haben. So führte ein Block von aus dem ganzen Land angereisten Mitgliedern der Bergarbeitergewerkschaft NUM die Pride-Demonstration (vergleichbar mit dem Christopher Street Day im deutschsprachigen Raum; AdÜ) 1985 in London an.

Der Bergarbeiterstreik war ein historisches Ereignis im britischen Klassenkampf, aber er wird in den Schatten der Ereignisse treten, die in Zukunft vor dem Hintergrund des krisengeschüttelten Kapitalismus stattfinden werden, der versuchen wird, die Lebensstandards der Mehrheit der Menschen in den Dreck zu werfen. Einige VertreterInnen der Intersektionalismus-Theorie werden die gewaltige Macht der Arbeiterklasse in Aktion erleben müssen, um zu der Einsicht zu kommen, dass der Weg zur Beendigung ihrer spezifischen Unterdrückung nicht über zersplitterte Kleingruppen führt, sondern über die Beteiligung am Klassenkampf. Wie auch immer: Immer mehr junge Menschen, besonders wenn sie in konkreten Kämpfen aktiv werden, sind bereits begeistert von sozialistischen Ideen als dem einzigen Weg zur tatsächlichen Befreiung der ganzen Menschheit.

Sozialistische Debatte zur Identitätspolitik (2020)

Marxismus und Kampf gegen Frauenunterdrückung

Das Verhältnis zwischen dem Kampf gegen Frauenunterdrückung, Identitätspolitik und dem Kampf für Sozialismus ist Gegenstand vieler Debatten innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung. Die Fehler, die die Irische Socialist Party (Sozialistische Partei) in dieser Frage gemacht hat, spielte bei der Spaltung innerhalb des CWI 2019 eine zentrale Rolle. Im Zuge der irischen Parlamentswahlen zog Hannah Sell Bilanz.

Eine wesentliche Debatte im Jahre 2019 innerhalb des CWI, dem die Socialist Party in England und Wales angehört, hat zur Spaltung innerhalb des CWI geführt, indem einige ihrer nunmehr früheren Unterstützer*innen eine opportunistische Anpassung eingeschlagen hatten.

Ein Hauptauslöser der Debatte war das fehlerhafte Herangehen der Führung der Irish Socialist Party (zu dem Zeitpunkt Teil des CWI ) an den Kampf gegen Frauenunterdrückung und ihr Verhältnis zum Kampf für den Sozialismus. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage birgt wichtige Lektionen für die internationale Arbeiter*innenbewegung insbesondere in einer Zeit, in der von Einzelnen und Kräften, die sich für links halten, Identität anstatt Klassenzugehörigkeit vielfach als zentrale Spaltungslinie innerhalb der Gesellschaft ausgemacht wird. In zukünftigen Kämpfen werden diesbezügliche Fragen auf unterschiedlichste Art wieder und wieder aufkommen. Ebenso wie Lenin und die Bolschewistische Partei ohne einen korrekten Umgang mit dem Recht auf nationale Selbstbestimmung nicht in der Lage gewesen wären, die Arbeiter*innenklasse in Russland 1917 zur Macht zu führen, wird der korrekte Umgang mit den vielen Formen spezieller Unterdrückung für zukünftige gesellschaftsverändernde Kämpfe unabdingbar sein.

Einheit ist Stärke

Unser Ausgangspunkt ist, jede Form der im Kapitalismus erlittenen Unterdrückung hart zu bekämpfen, indem wir uns dafür einsetzen, dass die Arbeiter*innenbewegung ernsthaft für die Rechte aller Unterdrückten kämpft. Dabei sollten wir versuchen zu vermeiden, dass sich die Kluft innerhalb verschiedener Teilen der Arbeiter*innenklasse verschärft oder vertieft. Während die Frage, wie spezielle Probleme am besten aufgegriffen werden können, komplex sein kann, ist unsere generelle Herangehensweise sehr einfach. Eines der Grundprinzipien der Arbeiter*innenbewegung – „Einheit ist Stärke“ – ist heute so lebenswichtig wie eh. Für die kapitalistische Klasse, eine winzige Minderheit der Gesellschaft, ist es ein unentbehrliches Mittel zur Aufrechterhaltung der eigenen Macht, Bewegungen, die ihre Herrschaft bedrohen, zu durchtrennen, indem sie Unterschiede und Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen der Unterdrückten anheizt. Auf welche Weise die kapitalistische Klasse Identitätspolitik benutzen kann, um in der Arbeiter*innenbewegung Spaltung zu erzeugen, besonders da, wo sie nicht effektiv bekämpft wird, zeigt sich in den erfolgreichen Versuchen, irreführende Antisemitismusanschuldigungen einzusetzen, um Jeremy Corbyn während der letzten vier Jahre und während des gegenwärtigen Wettstreits um die Führung zu unterminieren und gleichzeitig den Boden für zukünftige Angriffe gegen Linke zu bereiten.

Das Ziel der Marxist*innen ist dem der Kapitalist*innen entgegengesetzt. In jeder Phase streben wir danach, alle Unterdrückten in einer Bewegung zu vereinen, die, von der Arbeiter*innenklasse angeführt, dafür kämpft, durch die sozialistische Transformation der Gesellschaft alle Übel des Kapitalismus zu beenden. Unser Programm – das alle Forderungen aus den verschiedenen Bereichen der Arbeiter*innenklasse zusammenbringt und zusammenfasst – weist den Weg, diese zu erreichen. Sie werden niemals erreicht, wenn versäumt wird, Bewegungen Unterdrückter zu unterstützen oder die legitimen Forderungen jeglicher unterdrückter Gruppe herunterzuspielen oder zu ignorieren. Wir müssen jedoch in jeder Epoche auf den gemeinsamen Kampf der gesamten Arbeiter*innenklasse als bestem Mittel hinweisen, die jeweiligen Forderungen langfristig durchzusetzen.

Leider hat die Irish Socialist Party von diesem Herangehen Abstand genommen. Das hat ihre Effizienz im Kampf für das Recht auf Abtreibung und auch in anderen Kämpfen verwässert und war ein Faktor bei den substanziellen Wahlrückschlägen. Es ist bedauerlich, dass Ruth Coppinger, Mitglied der Irish Socialist Party, ihren Sitz bei den kürzlichen Parlamentswahlen verloren hat. Wir möchten, dass eine maximale Anzahl an Sozialist*innen die Wahlen gewinnt und wir würden viel lieber Kritik an Kampagnen erheben, die zu Wahlerfolgen anstatt zu Niederlagen führten.

Gleichwohl ist wichtig, die notwendigen Schlussfolgerungen für zukünftige nicht zuletzt in Irland aufkommende Kämpfe zu ziehen. Der große Zustrom für Sinn Fein während der Wahl durch das Vorgeben einer Anti-Establishment-Haltung und indem sie der vorhandenen Wut über die Verhältnisse in den Bereichen Wohnen, Gesundheit und Niedriglohn Ausdruck verliehen, zeigt die Gärung in der irischen Gesellschaft. Zahlreiche andere Vorboten des kommenden Klassensturms, der Irland erschüttern wird, zeigten sich in den letzten Jahren. Das schließt die erfolgreiche Massenbewegung gegen die Wassergebühren ein, die die Irish Socialist Party 2015-16 angeführt hat, die Bewegung für Abtreibungsrechte, die im Referendumssieg 2018 ihren Höhepunkt hatte sowie eine Reihe sehr wichtiger Streiks, besonders der Streik der Krankenpflege und Hebammen 2019.

Zentral und vorrangig?

Leider hat sich die Führung der Irish Socialist Party nicht auf die bevorstehenden Massenbewegungen vorbereitet. In der Folge des Abtreibungsreferendums äußerte das CWI Besorgnis darüber, dass die Irish Socialist Party Gefahr läuft, „alle Kämpfe durch das Prisma der Frauenkämpfe zu sehen, statt zu sehen, wie diese sich mit anderen Kämpfen verknüpfen und damit riskieren, in die falsche Richtung zu gucken, wenn andere Kämpfe sich entwickeln.“ Wir erklärten, dass „aus unserer Sicht nicht der Fall sein wird, dass Bewegungen, die mit Frauenunterdrückung zu tun haben, in jedem Land während der nächsten Zeit zentral sein werden. Zusätzlich können in vielen Ländern, in denen solche Bewegungen entstehen, die Elemente der Arbeiter*innenklasse in ihnen schnell Teil breiterer Kämpfe werden (auch wenn natürlich die Forderungen, die speziell an die Frauenunterdrückung geknüpft sind, ein wichtiger Aspekt in diesen Bewegungen bleiben werden.)“

Eindeutig hat eine ganze Reihe von Bewegungen gegen Frauen- und geschlechtliche Unterdrückung innerhalb der letzten Jahre stattgefunden. Die Bewegung für Abtreibungsrechte in Irland war eine davon. Auch wenn sie nicht den Grad aktiver Massenbeteiligung wie beispielsweise bei den massiven Demonstrationen in Indien, Argentinien oder Spanien hatte, mobilisierte sie doch bedeutende Schichten von Frauen auf die Straßen und führte natürlich zu einem wichtigen Schritt vorwärts für die irische Arbeiter*innenklasse.

Sind irgendwelche der kürzlichen Frauenbewegungen für sich genommen „zentral“ und „vorrangig“ im Kampf für den Sozialismus? Nein. Zu argumentieren, dass sie es sein könnten, heißt, sich der Haltung der radikalen Mittelschichten anzupassen, die die Führung der meisten Frauenbewegungen in diesem Stadium dominieren. Die Kraft, die „zentral“ und „vorrangig“ im Kampf für den Sozialismus ist, ist die Arbeiter*innenklasse aller Geschlechter. Nicht aus moralischen Gründen. Die Arbeiter*innenklasse erlebt sowohl die wirtschaftliche Ausbeutung durch den Kapitalismus als auch seine spaltende Ideologie. Unvermeidlich wird in ihr widergespiegelt, was Marx den Dreck des Kapitalismus nennt, einschließlich Sexismus, Rassismus und andere Vorurteile. Dennoch ist sie die potentiell weitaus machtvollste Kraft für soziale Umwälzung aufgrund ihrer Rolle im kapitalistischen Produktionsprozess und ihres potentiell kollektiven Bewusstseins.

Die Referendumskampagne

Unmittelbar nach Abschluss der Debatte im CWI über diese Fragen ist die Welle einer gigantischen Bewegung überwiegend aus der Arbeiter*innenklasse über die Welt hinweggefegt – einschließlich Latein-Amerika, weiten Teilen des Mittleren Ostens und Frankreichs – , die alle Kämpfe seit der Niederlage des Arabischen Frühlings in den Schatten stellt. In einem Land nach dem anderen wurden ethnische, religiöse, Geschlechter- und andere Spaltungen durchbrochen, indem Arbeiter*innen und junge Leute gegen die wirtschaftliche Misere und die undemokratischen Regimes kämpfen, die ihnen der Kapitalismus anzubieten hat. Die Mehrheit dieser Bewegungen hat bisher noch keine klaren Siege errungen, was auf die Notwendigkeit von Massenparteien der Arbeiter*innen mit einem klaren Programm hinweist, mit dem Kapitalismus zu brechen und eine neue sozialistische Ordnung zu errichten. Dennoch sind sie einen enormen Schritt weiter.

Keine Frauenbewegung, es sei denn sie wird eine Bewegung der Arbeiter*innenklasse als ganzes, kann die Rolle übernehmen, die diese Bewegungen in der Vereinigung der Unterdrückten zu einem gemeinsamen Kampf innehaben. Sie können jedoch eine entscheidende Rolle darin spielen, eine breitere Bewegung auszulösen und haben das viele Male getan, nicht zuletzt als die Textilarbeiterinnen die russische Revolution im Februar 1917 begannen. Frauen haben ebenfalls eine herausragende Rolle in breiteren Klassenkämpfen gespielt, die aufgrund einer generellen Radikalisierung und aufgrund ihres wachsenden spezifischen Gewichtes an den Arbeitsplätzen und in den Gewerkschaften in vielen Ländern entstanden sind.

Der kürzlichen Massenbewegung in Chile sind, um ein Beispiel anzuführen, Märsche gegen Sexismus im Bildungswesen von Zehntausenden vorausgegangen. Sie wurden durch Demonstrationen gigantischer Millionen und mehr in den Schatten gestellt, die Ende letzten Jahres gegen Austerität und das undemokratische Regime stattfanden. Dennoch blieben die Märsche für Frauenrechte ein wichtiger Bestandteil der breiteren Bewegung, die das Land überflutete und in dieser breiteren Bewegung spielten die Frauen eine tragende Rolle.

Alle Frauen, sogar die der herrschenden Elite erleiden Unterdrückung aufgrund ihres Geschlechtes. Trotzdem haben klassenübergreifende Frauenbewegungen begrenzte gemeinsame Interessen. Der Kampf für das Wahlrecht der Frauen zum Beispiel war für Arbeiterfrauen Teil des Kampfes für bessere Bedingungen für die Arbeiter*innenklasse, während er für die Ehefrauen und Töchter der kapitalistischen Klasse hauptsächlich ein Ringen um ihre Rechte für eine unabhängige Rolle innerhalb der herrschenden Elite war. Frauenbewegungen neigen also dazu, entlang der Klassenlinien zu zerbrechen, obwohl das natürlich nicht von vornherein ausschließt, dass einzelne Frauen sich von der Elite lösen und sich dem Kampf für den Sozialismus als einzigem Mittel anschließen, die Unterdrückung ihres Geschlechtes gänzlich zu überwinden.

Der Kampf für den Sozialismus ist ebenfalls das einzige Mittel, das die Grundlage der Unterdrückung von Frauen und Minderheiten gänzlich und dauerhaft überwindet. Frauenunterdrückung ist ein immanenter Bestandteil aller Klassengesellschaften einschließlich des die gesamte heutige Welt dominierenden Kapitalismus. Die Aufgabe von Marxist*innen ist, an Bewegungen gegen Frauenunterdrückung teilzuhaben und die aktuellen Forderungen der Bewegung geschickt mit einem Programm zu verbinden, das auf die Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft hinweist.

Leider hat die Führung der Irish Socialist Party diesen Ansatz in der Referendumskampagne für das Recht auf Abtreibung nicht übernommen und auch im Nachhinein argumentiert, dass das falsch gewesen wäre. Sie lehnte während der Referendumskampagne beispielsweise ab, die Forderung für das Recht auf Abtreibung mit anderen Forderungen zu verbinden, die ein wirkliches Recht der Wahl, wann und ob ein Kinderwunsch besteht, durch bezahlbaren Wohnraum, angemessene Bezahlung, das Recht auf Familienurlaub anstrebten. Für Sozialist*innen sind solche Forderungen unerlässlich, um das Versagen des Kapitalismus, der Mehrheit der Frauen jedes wirkliche Recht der Wahl zu gewähren, aufzuzeigen. Ebenfalls stellen sie die kapitalistischen und kleinbürgerlichen Führer*innen der Bewegung bloß, die legalen Änderungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen für Frauen zustimmen, aber wirtschaftliche Verbesserungen ablehnen.

Der Kampf für derartige Forderungen hätte beispielsweise dazu beigetragen, den prokapitalistischen Fine Gael Premierminister Leo Varadkar zu entlarven, der für sich beansprucht hat, für Frauenrechte einzustehen während er zeitgleich über Kürzungen und Armut im öffentlichen Sektor residierte. Sie weisen auf die Notwendigkeit des Klassenkampfes für wirkliche Frauenrechte hin. Aber die Führung der Irish Socialist Party hat auch noch zusätzlich haarsträubend argumentiert, dass es falsch gewesen wäre, an die Gewerkschaften den Anspruch zu stellen, den Kampf für das Recht auf Abtreibung aufzunehmen.

Die Realität der Bewegung

Sie rechtfertigte ihr Herangehen, indem sie den radikalen Charakter des Abtreibungsreferendums in Irland aufbauschte und argumentierte, dass es Teil einer weltweiten Frauenbewegung sei, welche aus ihrer Sicht „universeller, globaler und verbundener“ sei als vorhergehende feministische Wellen und „eine fundamentalere Verschiebung des Bewusstseins“ repräsentiere.

Das ist teilweise wahr. Der Ärger über die existierende Ordnung und geringes Vertrauen gegenüber jeglichen Institutionen des Kapitalismus, charakteristisch für die im Austeritätszeitalter aufgewachsene Generation, hat Bewegungen gegen Frauenunterdrückung angefacht. Junge Frauen sind – aus einer Reihe von Gründen – radikaler, speziell, weil sie in großer Zahl ins Arbeitsleben gezogen worden sind und aufgrund der Kluft zwischen der kapitalistischen Propaganda, gleiche Rechte für Frauen erreicht zu haben und der Lebenswirklichkeit für die Frauen. In Großbritannien und den USA zum Beispiel war die Unterstützung für Jeremy Corbyn und Bernie Sanders unter jungen Frauen am höchsten. Es wäre trotzdem falsch zu schlussfolgern, dass die Mehrheit derer, die für das Recht auf Abtreibung in Irland oder in anderen Bewegungen gegen Frauenunterdrückung kämpft, ihren Kampf automatisch als Teil des Kampfes gegen den Kapitalismus sieht.

Angesichts des Charakters des jetzigen Zeitraumes mit einem noch immer relativ niedrigen Organisatonsniveau der Arbeiter*innenklasse, verbunden mit einem noch begrenzten Verständnis von der Möglichkeit einer sozialistischen Umwälzung ist es nicht überraschend, dass die Führung vieler Frauenbewegungen der Mittelklasse angehört oder sogar Mitglied der führenden Elite ist. In der irischen Abtreibungsbewegung waren besonders verschwommene Klassenlinien, weil die Mehrheit der irischen Kapitalistenklasse unter dem Druck von unten zu dem Schluss gekommen war, dass sie wenigstens in die Abtreibungsrechte einwilligen muss. Leider hat die Socialist Party in Irland nicht die Rolle gespielt, die sie hätte spielen können, indem sie die Klassenlinien klarer gezogen hat, sondern beschönigte stattdessen die Realität der Bewegung.

Vertiefung der Fehler

Alle Organisationen machen Fehler. Vorausgesetzt man erkennt und korrigiert sie, geht nichts ernsthaft verloren. Weit davon entfernt sich zu hinterfragen, ist die Führung der Irish Socialist Party aber denselben Weg weiter gegangen. Zuerst setzte sie ihren Kampagnenfokus darauf, Massenstreikaktionen am internationalen Frauentag 2019 ohne ernsthafte Vorbereitung zu organisieren und verlangte vom CWI, das in internationalem Maßstab zu wiederholen. In Dublin nahmen an diesem Ereignis zweuhundert Leute teil, ein brauchbarer Protest, aber weit entfernt von den prognostizierten Massenaktionen.

Dann stellte die Irish Socialist Party in den Europawahlen 2019 die Kandidatin Rita Harrold für Dublin mit dem Slogan auf „ eine sozialistische feministische Stimme für Europa“ und „eine sozialistische feministische Stimme für Arbeiter, Frauen und die Erde.“ Das ist auf die falsche Analyse zurückzuführen, dass Geschlechterunterdrückung in diesem Stadium die vorrangige Quelle der Radikalisierung in Irland ist. Das Wahlergebnis hat dem nicht recht gegeben. Wenn das Referendum zu der von ihr beschriebenen Radikalisierung geführt hätte und hätte das Thema Abtreibung, wie sie behauptete, in großem Maße durch ihre Aktionen gewonnen, hätte das bei einer korrekten Herangehensweise zu einem positiven Wahleffekt führen müssen.

In vorhergehenden Beispielen von Massenbewegungen, in denen wir eine führende Rolle spielten, haben wir im Anschluss immer Wahlsiege errungen. In Schottland zum Beispiel hat unsere damalige Organisation Scottish Millitand Labour (SML) nach dem Sieg über die Kopfsteuer bei ihrer ersten Wahlteilnahme 1992 vier Sitze im Stadtrat von Glasgow gewonnen. Insgesamt hat SML von Mai 1992 bis Februar 1994 33.3 % der für 17 Kandidaturen abgegebenen Stimmen erhalten und sechs der Sitze gewonnen. Gefolgt von Tommy Sheridan, der 7,6 % (12..113 Stimmen) für den Glasgower Sitz in den Europawahlen 1994 erhielt. Dies fand unter einem weitaus unvorteilhafteren first-past-the-post-system statt als das Wahlsystem in Irland und mit einer sehr begrenzten Geschichte vor den Wahlen. Den Genoss*innen in Irland gelangen vergleichbare Durchbrüche, weil sie die Bewegung gegen die Wassergebühren zum Sieg geführt und damit im Rücken hatten.

Jetzt hat Rita bloß 4.967 (1,4 Prozent) der Stimmen erhalten im Vergleich zu fast 30.000, die der Kandidat der Socialist Party Paul Murphy für denselben Sitz 2014 für seine Wiederwahl erhalten hatte. In allen lokalen und europäischen Wahlen, die zeitgleich abgehalten wurden, erlitt die Sozialistische Partei (unter dem Solidaritätsbanner) den größten Stimmverlust von allen Parteien, die im irischen Parlament vertreten sind. Bei den Europawahlen erlitt sie den größten Stimmverlust seit zwanzig Jahren.

Auch wenn die Kampagne zu einer erfolgreichen Wahl geführt hätte, so wäre es nicht die richtige Herangehensweise gewesen. Man kann einen gewissen Vergleich zu den Fehlern von „Respect“ ziehen, der kurzlebigen linken Partei in Großbritannien, in der George Galloway und die Socialist Workers Party miteinbezogen waren, die einige Wahlsiege zwischen 2004 und 2007 erzielten. Ihr vorübergehender Wahlerfolg war das Resultat der Antikriegsbewegung mit Wahldurchbrüchen hauptsächlich in den vorwiegend muslimischen Bezirken.

Die Mehrheit der Muslim*innen in Großbritannien ist Teil der am stärksten ausgebeuteten Teile der Arbeiter*innenklasse und durch die Beteiligung der Labour-Regierungen an den Kriegen im Irak und in Afghanistan radikalisiert. Muslimische Stimmen zu gewinnen, hätte potentiell einen wichtigen Schritt vorwärts zu einer neuen Massenarbeiterpartei sein können aber nur, wenn an andere Sektoren der Arbeiter*innenklasse auf der Klassengrundlage eines kämpferischen Programms appelliert worden wäre. Stattdessen hat „Respect“ die Spaltung unter den Lohnabhängigen vertieft, indem sie sich vielfach als „die Partei für Muslime“ beschrieben hat. Indem bei einer Wahl auf allgemeine Slogans verzichtet wurde, die die gesamte Arbeiter*innenklasse ansprechen und stattdessen unter dem Slogan „sozialistisch, feministisch“ aufgetreten wurde , während lediglich ungefähr ein Drittel der irischen Bevölkerung sich auf Nachfrage als feministisch ansieht, wurde in der Kampagne für die Europawahl ein unnötiges Hindernis gegenüber der Mehrheit der Arbeiter*innen aller Geschlechter aufgebaut, die sich durch eine solche Kampagne nicht angesprochen fühlen.

Die Februar-Wahl

Leider waren die Europawahlen noch nicht das Ende der durch die Wahlergebnisse demonstrierten falschen Herangehensweise der Irish Socialist Party. Die Parlamentswahlen im Februar zeigten einen vergleichbaren Trend. Alle der drei Abgeordneten von Solidarity (zwei von Ihnen – Mick Barry und Ruth Coppinger – sind in der Irish Socialist Party verblieben) erlitten einen großen Stimmverlust. Ruth Coppingers erste Vorzugsstimmen sanken um 33 % im Vergleich zu 2016, was zum Verlust ihres Sitzes führte. Mick Barry und Paul Murphy wurden wiedergewählt, erlitten aber einen Verlust von 54 % und 50 % in den Vorzugsstimmenergebnissen. Andere Mitglieder der Socialist Party erlitten einen Verlust zwischen 67 – 85 %. Natürlich kann es Umstände geben, in denen die objektiven Bedingungen zu einem großen Stimmverlust führen, auch wenn man eine Vorzeigekampagne führt.

In diesem Fall demonstriert der dramatische Stimmzuwachs für Sinn Fein, die Stimmen vieler Arbeiter*innen und Jugendlicher erhielten, den Durst nach einer radikalen Alternative. Nebenbei bemerkt genießt Sinn Fein keinen guten Ruf im Kampf für das Recht auf Abtreibung. Erst im Juni 2018 wurde auf ihrer Konferenz dafür gestimmt, Abtreibung bis zur 12. Woche zu unterstützen. Bis dahin hatte sie Abtreibung lediglich im Falle tödlicher fetaler Anomalie, Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauchs befürwortet. Zweifellos wäre es nicht zum Durchbruch bei den Februarwahlen gekommen, hätte Sinn Fein ihren Standpunkt unter dem Druck der Bewegung für Abtreibung nicht geändert. Dennoch war Sinn Fein trotz ihrer schlechten Bilanz unter jungen Frauen führend. Gemäß der Irish Times war die Wohnsituation das wichtigste Wahlthema für junge Leute, gefolgt von Arbeit, wiederum gefolgt vom Klimawandel.

Natürlich war Sinn Feins Aufstieg – die vielen Arbeiter*innen als Regierungsalternative erschien – für eine kleinere sozialistische Kraft eine objektive Schwierigkeit, obwohl das Wahlsystem den Wähler*innen die Möglichkeit gibt, ihre Stimmen auf andere Kandidat*innen zu transferieren. Andere linke Kräfte – People Before Profit zum Beispiel – schafften es, ihre Stammwählerschaft im groben zu halten.

Wichtiger allerdings ist, dass die Socialist Party die wertvolle Plattforn, die sie durch ihre Parlamentsmitglieder in der vorherigen Periode errungen hat, nicht wirkungsvoll genutzt hat. Wenn sie sie genutzt hätte, hätte sie zugewinnen können anstatt zurückgedrängt zu werden. Sie hat ganz klar die enorme, aufgestaute Wut über die Widersprüche zwischen Wirtschaftswachstum und dem völligen Mangel an einer Besserung des Lebensstandards der Mehrheit unterschätzt. Sie tendierte dazu, das Bewusstsein einer Schicht zu wiederzugeben, die sich zu diesem Zeitpunkt um die Frage der Geschlechterunterdrückung radikalisiert hat, anstatt die geduldige Arbeit zu leisten, sich auf kommende allgemeinere Klassenkämpfe vorzubereiten. Sie hat tatsächlich in die falsche Richtung geschaut.

Neue Möglichkeiten

Während die Socialist Party im letzten Jahrzehnt wichtige Kämpfe anführte, dabei ist besonders der Kampf gegen die Wassergebühren hervorzuheben, wandte sich die Führung (der Irish Socialist Party) von der systematischen Aufbauarbeit innerhalb der Gewerkschaften ab. Sie lehnte ab, Vorschlägen der CWI-Führung nachzugehen, die von den Parlamentsmitgliedern zur Verfügung gestellte Plattform für eine Kampagne zu nutzen, die Gewerkschaften in kämpfende demokratische Organisationen zu transformieren. Sie kämpfte nicht konsequent für ein ernsthaftes Gewerkschaftsprogramm zur Verteidigung der Arbeiter*innenklasse und war ungenügend darauf orientiert, Kämpfe zu führen und sich in Betrieben und in den Wohnorten der Arbeiter*innen zu verwurzeln, worin die Irish Socialist Party eine stolze Vergangenheit hat. Insgesamt lag ihre Betonung nicht auf einer Stärkung und Konsolidierung der Klassenorganisation, sondern eher darauf, verschiedene „Bewegungen“ gegen Unterdrückung zu unterstützen.

Die Kampagne zur Parlamentswahl stellte eine Ausweitung dieser Fehler dar. Beide, Mick Barry und Ruth Coppinger hatten „wählt die Kämpfer für Arbeiter, Frauen und die Erde wieder“ / „Wiederwahl der Kämpfer….“ als ihren Hauptwahlslogan. Viele der Flugblätter brachten gute Forderungen zum Beispiel zur Wohnsituation oder dem Gesundheitssystem. Trotzdem war Ruth Coppingers Kampagne-Material besonders deutlich an den Teil der Frauen gerichtet, die sich vorrangig an der Frage der Geschlechterunterdrückung radikalisiert haben. Ein „Bus für Ruth“ war unter dem Slogan organisiert worden, „Frauen haben unfertige Geschäfte (unfinished BUSisness)“ und „mach Frauenrecht zu einem Wahlthema, wähle Ruth Nr. 1“. Während das Material für den Bus auf wichtige Themen wie Gewalt, Kinderbetreuung, Lohnunterschiede, Wohnen und Gesundheitsversorgung verwies, so geschah es doch auf eine Weise, die nahelegte, dass Ruth Coppinger eine Kandidatin für Frauen sei anstatt für die Arbeiter*innenklasse als ganze. Weiteres Material, solches wie das Flugblatt „behaltet eine starke Stimme für Frauen im Dail (Parlament)“, schlugen die gleiche Richtung ein.

Die generelle Ausrichtung des Materials orientierte sich deutlich auf Frauen statt auf die Arbeiter*innenklasse als ganze. Das ist keine marxistische Herangehensweise. Selbst „Frauen“ und „Arbeiter*innen“ als separate Kategorien aufzuführen ist unnötig trennend, besonders in einem Land, in dem fast siebzig Prozent der Frauen Arbeitskräfte sind. Wir kämpfen gegen die Diskriminierung, der alle Frauen aufgrund ihres Geschlechtes ausgesetzt sind. Doch Frauen, die Teil der kapitalistischen Klasse sind, haben diametral entgegengesetzte Klasseninteressen zur Arbeiter*innenklasse aller Geschlechter. Nur wenn sie mit ihrer Klasse brechen, können sie eine positive Rolle im Kampf für eine neue Gesellschaft führen.

Die politische Situation in der Folge der irischen Wahl mit der Möglichkeit einer kurzfristigen Neuwahl ist noch nicht klar. Was jedoch klar ist, ist die tief verwurzelte Wut der irischen Arbeiter*innenklasse gegenüber dem immensen Ausmaß an Ungleichheit, geschaffen vom irischen Kapitalismus und das Entstehen von Gelegenheiten, eine Basis für sozialistische und marxistische Ideen aufzubauen. Leider mag die Führung der Irish Socialist Party ihren fehlerhaften Weg bereits zu weit gegangen sein, um ihn nun zu korrigieren. Die Kräfte, die sich weiterhin dem CWI in Irland verpflichtet fühlen, werden jedenfalls tatkräftig aufbauen. Auf internationaler Ebene helfen die negativen Lektionen aus der kürzlichen irischen Erfahrung, Sozialist*innen damit auszurüsten, wie gegen Unterdrückung gekämpft werden kann, ohne der Identitätspolitik zu folgen.

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