Afghanistan: Auf die Unterdrückten setzen!

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Die Kapitalismus konnte Afghanistan weder Sicherheit noch Wohlstand bringen

Seit Tagen überschlägt sich in Deutschland die Debatte. Wieso haben Bundesnachrichtendienst, Verteidigungs- und Außenministerium nicht eher gewusst, dass Kabul so schnell fallen würde? Dabei droht eine Frage fast in Vergessenheit zu geraten: Weshalb implodierte das in Afghanistan installierte System überhaupt wie im Zeitraffer? Wieso verteidigte die Armee das Land nicht gegen die Taliban?

Von Steve Hollasky, Dresden

Der Einsatz der NATO-Staaten dauerte zwanzig Jahre, von wirtschaftlicher Entwicklung war die Rede, von „Nationbuilding“ und Zusammenarbeit. Schon seit Jahren ist klar, dass diese Versprechen ins Leere gesprochen sind. Nach einer Meldung des „Tagesspiegels“ werden die Gesamtkosten des Einsatzes auf 3,2 bis 4,0 Billionen US-Dollar geschätzt. Eine kaum zu begreifende Menge Geld, die den Armen Afghanistans jedoch nirgendwo zugute kam.

Erschütternde Armut

Die Lebenserwartung der afghanischen Bevölkerung beträgt im Schnitt 53 Jahre, „nirgendwo ist sie geringer“, stellt die „Süddeutsche Zeitung“ am 18. August auf ihrer Internetseite fest.

Dieser Wert kann kaum verwundern. Immerhin ist Afghanistan das zweitärmste Land der Welt, entsprechend unwürdig sind die Lebensbedingungen.

Nicht nur jedes zehnte Neugeborene stirbt – ein Wert, der in keinem Land der Welt höher liegt – auch jede achte Mutter überlebt die Geburt nicht. Diese erschütternden Befunde sind wenig überraschend, denn aller Schwüre zum Trotz, man entwickle in Afghanistan das Gesundheitswesen, finden auch nach zwanzig Jahren Besatzung noch immer 87 Prozent der Geburten in den eigenen vier Wänden statt, wie der 2008 in Genf gegründete Kinderrechtsverein „Humanium“ feststellt.

Für viele Menschen in Afghanistan ist das nächste Krankenhaus nach wie vor unerreichbar weit entfernt. Mitunter müssten mehrere hundert Kilometer Fahrt in Kauf genommen werden, um eine Klinik zu erreichen. Ohne ein funktionierendes Verkehrswesen bleibt die Konsultation von Ärztinnen und Ärzten da oft nur ein schöner Traum.

Allen Pläne Schulen auch auf dem Land eröffnen zu wollen zum Trotz, gingen kurz vor Ende der Besatzung nur etwa sechzig Prozent der Kinder und Jugendlichen zur Schule. In den meisten Bildungsstätten waren die Bedingungen katastrophal. Bis zu sechzig Schüler*innen pro Klasse waren keine Besonderheit, wie Humanium auf ihrer Internetpräsenz berichtet. Jedes fünfte Kind muss in Afghanistan arbeiten gehen, um zum Familienunterhalt beizutragen, statt Lesen und Schreiben zu lernen.

Tilasto, der Statistikanbieter der GBI-Genios Deutsche Wirtschaftsdatenbank GmbH, geht im Jahr 2011 – nach zehn Jahren Besatzung – von mehr als drei Millionen Analphabet*innen in der Alterskohorte von 15 bis 24 aus. Im Jahre 1979, als die stalinistische Regierung ihre Alphabetisierungskampagne begann, lag die Zahl in der gleichen Altersgruppe bei 1,7 Millionen.

Insgesamt konnten 1979 in Afghanistan etwa sechs Millionen Erwachsene nicht richtig Lesen und Schreiben. Im Jahr 2015 – nach 14 Jahren NATO-Truppen im Land und Milliardeninvestitionen – betrug diese Zahl mehr als elf Millionen, wie die deutsche Seite des in New York sitzenden Datentechnologieunternehmens knoema festhält. Noch immer sind mehr als 60 Prozent der afghanischen Bevölkerung Analphabet*innen. Auf dem Land sind es wahrscheinlich sogar neunzig Prozent.

Schon 2019 ging der Deutschlandfunk davon aus, dass etwa die Hälfte der afghanischen Bevölkerung in absoluter Armut und damit von weniger als einem Dollar am Tag leben muss.

Westliche Geschäftemacher

Auf ihrer Internetseite berichtet die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) von der Anbindung ländlicher Regionen an das Stromnetz. Die afghanische Bevölkerung betrachte „die ländliche Elektrifizierung als Kernaufgabe, immerhin leben etwa achtig von hundert Afghan*innen auf dem Land und haben kaum Zugang zu Strom“, bemerkt die GIZ. Einer anderen Quelle zufolge verfügen nur dreißig Prozent der Afghan*innen über einen stabilen Zugang zu elektrischem Strom.

Als man das kleine Dorf Sangab in der Provinz Badakhshan mit Strom versorgte, beauftragte man dort den Dorflehrer die monatlichen Stromgebühren von drei Dollar einzunehmen – für Afghan*innen häufig eine extreme Summe. Dennoch feierte die GIZ sich und das Projekt als Erfolg.

Als im November 2020 Siemens Energy gegenüber der afghanischen Regierung eine Absichtserklärung unterzeichnete, die zum Inhalt den Ausbau des Stromnetzes hatte, sollte das Geld hierfür auch von der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) kommen. „Die Frage ist“, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“, „wie mittelfristig mit den Projekten umgegangen wird, die bereits angelaufen sind.“ Die Frage ist angebracht, ob die Bereitschaft der deutschen Regierung mit den Taliban zu reden längst nicht allein mit der weithin selektiven Rettung von Personengruppen aus dem Land zu tun hat, sondern auch Ausdruck der Hoffnung ist, diese profitablen Projekte zu Ende zu bringen.

Rüstung vor Entwicklung

Auch die etwa 10.000 Pistolen vom Typ Walther P1, die die deutsche Bundeswehr an ansässige Ortskräfte abgegeben hat, dürften ein einträgiges Geschäft für den Hersteller gewesen sein. Gekaufte und dann verschenkte Handfeuerwaffen müssen ersetzt werden. Nicht weniger als 12,5 Milliarden Euro steckte die Bundesregierung seit Beginn des Einsatzes in den Aufbau der afghanischen Streitkräfte, wie die „Tagesschau“ bereits im April diesen Jahres mitteilte.

Noch seien zwar die finanziellen Mittel, die von Deutschland in den zivilen Aufbau geflossen seien, nicht zu beziffern. Das der „Tagesschau“ vorliegende Papier versicherte aber, in Afghanistan hätten die verschiedenen Bundeskabinette etwa 425 Millionen Euro ausgegeben. Ein schreiendes Missverhältnis, wenn man wirklich Afghanistan aufbauen und entwickeln wollte. Aber ein Missverhältnis, das stellvertretend für den gesamten Krieg in Afghanistan steht, der mit Aufbau und Entwicklung wenig zu tun hatte.

Korruption

Im Angesicht der Tatsache, dass der größte Anteil der Finanzmittel in 20 Jahren Krieg und Besatzung in die afghanischen Sicherheitskräfte floss, steht die Frage, weshalb die afghanische Armee den größten Teil des Landes weitgehend kampflos an die Taliban übergab. Auch das ist ein Ergebnis der nach Afghanistan exportierten Wirtschaftsweise. Ganz neoliberal wurde die Wartung der Ausrüstung der afghanischen Armee durch die US-Armee an private Drittanbieter vergeben. Diese verließen jedoch das Land zusammen mit den Truppen der USA. Die motorisierten Einheiten büßten ihre Beweglichkeit ein und die Luftwaffe stieß sehr schnell an ihre technischen Grenzen, weil die Flugzeuge ohne ausreichende Wartung vielfach am Boden bleiben mussten.

Zudem versickerten Sold und das Geld für die Versorgung der afghanischen Armee mit Verpflegung und Verbandsmaterial in dunklen Kanälen und landeten nicht selten in den Geldbörsen diverser Kommandeure. Die „hochrangigen Posten in Polizei und Armee“ würden „meistbietend versteigert“, wie der „Deutschlandfunk“ schon 2019 feststellte. Eignung, Loyalität oder ein angemessener und achtungsvoller Umgang mit den Soldaten der afghanischen Armee spielten dabei keine Rolle.

Was für die Armee zählte, zählte ebenso für den zivilen Bereich. Bei der Wahl des ersten Präsidenten Afghanistans nach dem damaligen Sturz der Taliban kam es zu unübersehbaren Unregelmäßigkeiten. Und als dessen Nachfolger, Aschraf Ghani, ins Amt gehievt wurde, sprach auch ein UNO-Bericht von massiver Wahlfälschung. Der soll am 15. August, nach einer Ansprache an die Bewohner*innen der Hauptstadt (in der er noch darüber redete, er wolle die Sicherheit in Kabul aufrecht erhalten) das Land mit vier Autos und einem Helikopter voller Geld verlassen haben.

Unsummen an Entwicklungsgeld versickerten in dunklen Kanälen. Afghanistan ist eines der Länder mit der höchsten Korruption.

Ein armes Land, Besatzungsmächte, die sich nicht um den Aufbau, wohl aber um ganz eigene Interessen kümmern, Hunger in der Armee statt angemessener Ausrüstung – wofür und wie hätten afghanische Soldaten kämpfen sollen? Dass sie für dieses System nicht ihr Leben riskierten, ist alles andere als unverständlich.

Auf die Unterdrückten setzen

Während man nun in der westlichen Presse darüber frohlockt, dass sich im Pandschirtal Truppen um den Sohn des früheren gegen die Taliban kämpfenden Mudschaheddin-Führers Ahmad Schah Massoud und den ehemaligen Verteidigungsminister sammeln, übersieht man, dass beide ganz eigene Interessen haben. Massouds Sohn, Ahmad Massoud, scheint indirekt über Ghanis Gegenspieler Abdullah Abdullah, an Verhandlungen mit der Taliban-Regierung beteiligt zu sein. Im Moment scheint diese aber wenig auf eine solche Lösung zu setzen. Glaubt man Massouds Darstellungen, dann ist das Pandschirtal inzwischen von bewaffneten Kräften der Taliban abgeriegelt und eine Offensive könnte bevorstehen. Massoud, der sich in Auftreten und Vorgehen sehr an seinem Vater orientiert, ist ein unsicherer Kantonist.

Anders sieht es bei den afghanischen Massen aus. Glaubt man einer Darstellung des „Katapult“-Magazins, dann sprechen sich achtzig Prozent der Afghan*innen für das Recht der Frauen zu arbeiten aus. Die Mehrheit der Afghan*innen lehnt eine Herrschaft der Taliban ab.

Es ist Ausdruck dieser Stimmung, dass vier mutige Frauen wenige Tage nach der Machtübernahme durch die Taliban in Kabul für ihre Rechte demonstrierten, umringt von bewaffneten Taliban. In vielen größeren Städten, Dschalalabad, Herat und Kabul, um nur einige zu nennen, haben sich Menschen in Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Herrschaft der Taliban ausgesprochen. Die neuen Herren im Kabuler Präsidentenpalast eröffneten vielerorts kurzerhand das Feuer.

Es sind eben diese Menschen, die Unterdrückten Afghanistans, auf die man setzen muss. Sie können sich mit den Taliban auf lange Sicht nicht arrangieren. Sie müssen und sie werden kämpfen. Die internationale Arbeiter*innenbewegung muss ihnen helfen, das heißt zunächst einmal, sie muss Wege zu ihnen finden.

In diesem Kampf sind die weltweiten kapitalistischen Mächte ein ernstes Hindernis. Dass die chinesische Regierung mit den Taliban in Verhandlung tritt, hat nicht zuletzt den Grund, dass Peking auf eine profitable Ausbeutung der enormen Bodenschätze hofft. Lithium, Gold, Erze sind nur einige der Rohstoffe, über die Afghanistan verfügt. Darauf schielen die Herren in den Chefetagen weltweit. Sie haben im Grunde kein Interesse an einer starken afghanischen Arbeiter*innenbewegung, an kampfbereiten Gewerkschaften, an selbstbewussten Frauen, die eine Gleichbehandlung auch am Arbeitsplatz einfordern. Und noch einmal: Auf diese Menschen, auf die Unterdrückten, muss man setzen! Der Kapitalismus hat Afghanistan in die Katastrophe geführt. Hätten die kapitalistischen Mächte die weit über drei Billionen US Dollar, die der Krieg gekostet hat, auf alle Afghan*innen gleich verteilt, hätte man ihnen allen 100.000 Dollar schenken können. In einem Land mit einem Bruttodurchschnittseinkommen von 370 Dollar im Jahr entspricht das einem Vermögen. Doch dieser Reichtum kam eben nicht den Armen zugute. Unter kapitalistischen Verhältnissen ist das wenig überraschend, eine erschütternde Bilanz bleibt es allemal.

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