Israel/Palästina: Siedlungsbau stoppen

Das Kabinett Bennett will den Siedlungsbau drastisch ausweiten

Seit Juni 2021 ist Naftali Bennett für seine Partei HaJamin HeChadasch („Die neue Rechte“) Ministerpräsident Israels. An der Spitze einer aus acht Parteien bestehenden Regierung hat Bennett bereits mehrfach von sich reden gemacht. Zuletzt kündigte der ehemalige Parteifreund seines Amtsvorgängers Nethanjahu an, den Siedlungsbau auf den besetzten Golanhöhen massiv auszuweiten.

Von Steve Hollasky, Dresden

Die fünfzig Kilometer lange und 25 Kilometer breite Region war 1967 während des Sechstagekrieges von Israel besetzt und 1981 annektiert worden. Völkerrechtlich wurde die Einverleibung des zu Syrien gehörenden Gebiets nie anerkannt. Dennoch will Bennett nun Fakten schaffen. Zwei neue Siedlungen sollen errichtet und in der Stadt Katzrin zwei neue Viertel gebaut werden. Zudem will die israelische Regierung die Ansiedlung von Firmen, die im Bereich erneuerbare Energien produzieren, fördern.

Sollte das Kabinett Bennett mit diesem Projekt Erfolg haben, würde es die Golanhöhen auf absehbare Zeit verändern. Zur Zeit leben 50.000 Menschen auf den Golanhöhen. Gut die Hälfte von ihnen gehören Minderheiten wie den Drusen an, nachdem die große Mehrheit der arabischen Bevölkerung nach der israelischen Besatzung geflohen war. Die andere Hälfte sind Jüdinnen und Juden. Geht es nach Bennetts Willen, sollen zukünftig weitere 50.000 israelische Jüd*innen hinzukommen. Die beschleunigte Besiedlung der Golanhöhen soll Fakten schaffen.

Die an sich schon trügerischen Hoffnungen, die Regierung Bennett möge bezüglich der Siedlungspolitik einen anderen Ton anschlagen als das Vorgängerkabinett unter Nethanjahu, haben sich endgültig als solche erwiesen. Nicht allein die eigentlich syrischen Golanhöhen rücken ins Visier Bennetts. Bereits im Spätsommer hat der neue Premier den Bau von etwa 2.000 neuen Wohnungen im Westjordanland genehmigt. Später folgte die Ausschreibung für 1.355 weiteren.

Wer zieht in die Siedlungen?

Lediglich ein Drittel der israelischen Jüd*innen, die sich entschließen ins Westjordanland, nach Ostjerusalem oder auf die Golanhöhen zu ziehen, wollen die angeblich in der Heiligen Schrift vorgegebene Inbesitznahme von Land vollziehen oder haben irgendwelche politische Absichten. Laut einer 2017 in der „Süddeutschen Zeitung“ zitierten Studie von „Peace Now“, einer israelischen Organisation, die die Siedlungsbewegung kritisch beobachtet und dokumentiert, teilt gerade ein Drittel der etwa 700.000 Siedler*innen religiöse oder politische Absichten. Der Rest zieht aus sozialen Gründen (vor allem günstiger und geräumiger Wohnraum) in die von Israel besetzten Gebiete.

Die dort entstandenen Siedlungen haben inzwischen teilweise den Charakter von Städten angenommen. In Modi‘in Illit leben inzwischen 65.000 Menschen, verglichen mit der Hauptstadt Tel Aviv mit ihren 400.000 Einwohner*innen ist die Stadt im Westjordanland alles andere als klein. Gute Schulen und eine Universität machen es leicht, den eigenen Lebensmittelpunkt nach Modi‘in Illit zu verlagern.

Ähnlich verhält es sich mit Ariel. In dem Ort an der eigens errichteten Route Nummer 5 leben 20.000 israelische Jüd*innen. Die Universität in Ariel gilt als weithin angesehen. Ihre Anerkennung als Hochschule war unter Lehrkräften anderer Universitäten hoch umstritten. Doch selbst eine Unterschriftensammlung konnte diese nicht verhindern. Die Mitzeichnenden fürchteten die Akzeptanz einer weiteren israelischen Hochschule im Westjordanland würde weitere Fakten schaffen, die es den Palästinenser*innen nur umso schwerer machen würde, einen eigenen Staat zu gründen.

Soziale Katastrophe

Doch wieso ziehen weiterhin Jüdinnen und Juden in die Westbank, wenn die Siedlungspolitik selbst in Israel nicht nur Anhänger*innen hat? Immerhin 475.000 Siedler*innen leben inzwischen allein im Westjordanland, wo auch 2,8 Millionen Palästinenser*innen ihre Heimat haben.

Die meistens Jüdinnen und Juden fliehen vor einer sozialen Katastrophe im eigenen Land: Tel Aviv gilt seit dem Dezember 2021 als teuerste Stadt weltweit. In der City der Metropole und in Strandnähe zahlt man für eine Wohnung im Durchschnitt 3.000 Euro im Monat. Um etwa 8,5 Prozent steigen die Mieten jährlich in der israelischen Hauptstadt, wie die „Süddeutsche Zeitung“ 2019 zu berichten wusste.

Zudem wird etwa jede sechste Wohnung an Tourist*innen vermietet. Hinzu kommen zahlreiche ausländische Investoren, die Wohnungen in Israels Großstädten als Spekulationsobjekte erwerben. Rechtliche Regelungen zum Schutz von Mieter*innen gibt es in Israel so gut wie gar nicht. Der Markt wird weitgehend unreguliert belassen. Staatliche Wohnungsbauprogramme oder Sozialwohnungen bilden die absolute Ausnahme. Lediglich zwei Prozent der Israelis leben in Wohnungen, deren Mieten staatlich gestützt werden. Als Mieter*in kann man praktisch ohne Vorwarnung gekündigt werden.

Die Folge sind explodierende Mieten, hire and fire von Mieter*innen und eine unvorstellbare Not. Einkommensschwache Haushalte müssen bis zu 60 Prozent des Haushaltseinkommens für die Miete aufwenden.

Nicht weniger als siebzig Prozent der Israelis nahmen daher Zuflucht im Bau von Einfamilienhäusern und nehmen meistens nicht nur lange Arbeitswege in Kauf und stehen im Verkehrschaos der israelischen Metropolen wie Jaffa oder Haifa stundenlang im Stau. Die meisten Familien sind durch den nicht ganz freiwilligen Kauf der eigenen vier Wände hoffnungslos überschuldet.

Bereits vor etwa zwei Jahren hielt das Adva-Zentrum in Tel Aviv, das die soziale Ungleichheit in Israel erforscht, fest, dass im IT-Boom-Land viele Menschen sich nicht einmal das Nötigste leisten könnten. Die enorme Teuerungsrate und die weitgehend stagnierenden Einkommen bedeuten Elend für Viele. Und, so die Bilanz des Adva-Zentrums in ihrem Bericht von 2020, die Regierung des Landes tue viel zu wenig, um der Armut zu begegnen. Inzwischen, so stellte eine Ausgabe der „Jüdischen Allgemeinen“ aus dem selben Jahr wie der Adva-Bericht fest, rangiert Israel auf der Liste der teuersten Staaten der Welt auf Rang 8.

Seit Jahren bestätigen die Studien die Zahlen immer wieder. Die Ergebnisse deuten auf eine sich verfestigende Armut hin. Gut ein Viertel der Israelis – 2,3 Millionen – leben in Armut. Eine Million davon sind Kinder.

Kalkül der Herrschenden in Israel

Angesichts dessen erscheint ein Leben in den Siedlungen innerhalb der besetzten Gebiete regelrecht verheißungsvoll. Kauft sich eine israelische Familie ein Eigenheim im Westjordanland, wird dieser Kauf mit bis zu 70 Prozent der Kosten durch den Staat gefördert. Schulen erhalten weit mehr staatliche Mittel als in Israel selbst. Das Einkommen von Lehrer*innen ist in Siedlungen deutlich höher. Zudem werden Abiturient*innen aus den Siedlungsgebieten bei der Vergabe von Studienplätzen häufiger berücksichtigt. Zunehmende Relevanz beim Umzug in die besetzten Gebiete erfährt auch die Umweltverschmutzung. Viele israelische Großstädte verschwinden unter einer Dunstglocke.

Daher steigt das Interesse durchschnittlicher israelischer Familien in den besetzten Gebieten zu leben. Der fortwährende Ausbau von Schnellstraßen im Westjordanland erhöht nicht nur den Anreiz dorthin zu ziehen, sondern verwischt auch die Grenze zwischen Israel und den besetzten Gebieten. Israelische NGO‘s sehen im immer weiter verzweigten Straßennetz eine wachsende Gefahr für die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates, dessen Gebiet durch die Trassen in kleine Puzzlestücke zerlegt wird.

So hoffen die Herrschenden Israels die katastrophale soziale Lage in den Großstädten einerseits, die Förderung der Siedlungsbewegung und der infrastrukturelle Ausbau in den besetzten Gebieten andererseits mögen den Drang zum Siedeln erhöhen.

Skrupel versucht man stetig zu zerstreuen: Es werde nur auf Land gesiedelt, das niemandem gehöre. Das ist nicht zutreffend. Auch auf Privatland von Palästinenser*innen wurden bereits sogenannte Outposts errichtet. Diese Siedlungen gelten zwar auch nach israelischem Recht als illegal, sie werden jedoch von der Armee geschützt. Außerdem müssen Palästinenser*innen aufwendig vor israelischen Gerichten klagen, damit diese Siedlungen wieder geräumt werden.

Aber auch jenes Land, welches angeblich niemandem gehört, ist häufig Gemeineigentum palästinensischer Dörfer. Werden dort Siedlungen errichtet, gibt es häufig so gut wie keine Möglichkeit sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Bennetts Hoffnungen

Unvergessen in Israel sind die Bilder der Proteste am Rothschild-Boulevard vor zehn Jahren. Damals campierten Israelis dauerhaft und protestierten gegen Teuerung, steigende Mieten und geringe Gehälter. Unvergessen auch der Lehrer, der, wie Hunderte andere, mit seinen zwei Kindern auf der Prachtstraße nächtigte und in einem Interview erklärte, dass er und seine Frau voll verdienen und arbeiten würden und doch am Ende des Monats das Geld immer alle wäre.

Seither ist die soziale Situation in Israel immer drängender geworden. Auch gegen die Regierung Nethanjahu gingen tausende Israelis auf die Straße. Bennetts Kabinett ist instabil. Erst vor wenigen Wochen hatte er seinen Ministern das Versprechen abgenommen über in der Ministerriege strittige Fragen nicht in der Öffentlichkeit zu reden. Man könnte auch sagen, Bennett verpasste seiner Regierung einen Maulkorb. Große Proteste könnten schnell Bennetts politisches Ende bedeuten. Und so trifft sich in Bennetts Person die prinzipielle Idee und die pragmatische Erwägung. Bennett hatte sich dereinst von seinem politischen Ziehvater Nethanjahu losgesagt, als dieser nach internationalen Protesten die Siedlungstätigkeit einschränkte. Bennett träumt von einem territorial gewachsenen Israel. Die Siedlungen sollen dafür Fakten schaffen.

Zudem muss er die Not der Israelis fürchten. Bennett ist Multimillionär. Er ließ sich einmal mit dem Spruch zitieren, er brauche nicht mehr arbeiten gehen und könne in der Karibik Cocktails schlürfen. Er mag Mitglied der Regierungskommission gegen Teuerung sein. Sein Interesse an echten Preissenkungen dürfte gleich Null sein. Und so gibt ihm die Siedlungspolitik die Möglichkeit die innere Dynamik, die sich gegen ihn und seine Regierung in Form von Protesten richten könnte, nach außen abzulenken. Wer für wenig Geld in den besetzten Gebieten leben kann, wird wahrscheinlich nicht unbedingt demonstrieren.

Eine Lösung kann nur sozialistisch sein

Das Schicksal der palästinensischen und der israelischen Bevölkerung ist miteinander verkettet. Die Arbeiter*innen und Armen auf beiden Seiten der nationalen Trennlinie haben ein Interesse an günstigem Wohnraum, Arbeit, auskömmlichem Einkommen und Frieden. Karl Marx hat einmal gesagt, ein Volk, das ein anderes unterdrücke, werde niemals frei sein. Die Anerkennung des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser*innen ist dafür eine Voraussetzung.

Der Kampf gegen die Ausweitung der Siedlungen kann nur erfolgreich sein, wenn es in Israel eine Bewegung für billigen und lebenswerten Wohnraum gibt. Das bedeutet vor allem die Enteignung der großen Immobilienfirmen und deren Überführung in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle durch die Mieter*innen. Der Bau von Wohnungen in Israel muss massiv ausgeweitet werden. Das kann nur durch die öffentliche Hand geschehen. Zudem braucht es einen kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr.

Der Siedlungsbau in den besetzten Gebieten muss sofort gestoppt werden. Der Bau von kostengünstigem und gutem Wohnraum für die dort lebenden Menschen ist auch in den besetzten Gebieten nötig. Das scheitert an der Besatzung, aber auch an der Politik der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Hamas, die daran kein Interesse haben.

Sowohl in Israel wie in den von Israel besetzten Gebieten fehlt es an einer politischen Kraft, die die Interessen der Arbeiter*innen, Bäuerinnen und Bauern und Armen durchsetzen könnte. Es braucht sozialistische Massenorganisationen, die die Menschen organisieren. Ausschüsse in den Stadtteilen Israels und den besetzten Gebieten müssen den Kampf für billigen Wohnraum und gegen die Besetzung führen.

Eine solche Kraft fehlt nicht nur in Israel. Auch die prokapitalistische und korrupte Fatah und die reaktionäre Hamas können diese Rolle nicht spielen. Eine unabhängige Organisierung der palästinensischen Massen liegt nicht in deren Interesse.

Linke sollten die gemeinsamen Klasseninteressen israelisch-jüdischer und palästinensischer Arbeiter*innen erklären und betonen. Um die nationale Spaltung zu überwinden, muss die Unterdrückung der Palästinenser*innen beendet werden und das Recht beider Nationen auf eigene Staaten, die die Rechte von nationalen Minderheiten garantieren und Jerusalem zur gemeinsamen Hauptstadt hätten, beidseitig anerkannt werden.

Doch eine solche Lösung ist auf kapitalistischer Grundlage nicht möglich. Die Interessen der herrschenden Eliten verhindern dies. Tatsächlich brauchen die Herrschenden auf beiden Seiten den nationalen Konflikt, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten. Die Interessen des Imperialismus, den Staat Israel als einen Vorposten im Nahen Osten zu haben, ebenfalls. Selbst wenn es formell zur Gründung eines Palästinenser*innenstaates kommen sollte, was immer unwahrscheinlicher wird, wäre dies unter kapitalistischen Bedingungen kein wirklich selbständiger und unabhängig lebensfähiger Staat. Linke sollten deshalb für die Bildung eines sozialistischen palästinensischen Staates neben einem sozialistischen Israel als Teil einer freiwilligen, sozialistischen Konföderation im Nahen Osten eintreten. Dann könnten alle Fragen von Land, Besiedlung, Versorgung, Rückkehr bzw. Kompensation für die Geflüchteten etc. von den arbeitenden Menschen selbst verhandelt und gelöst werden. Durchsetzen können das nur die israelischen und palästinensischen Massen zusammen, unabhängig von Bennett, Nethanjahu, Fatah und Hamas.

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