Iran im Aufruhr

Mahsa Aminis Tod löst revolutionäre Jugendbewegung aus

In mindestens 85 Städten und Gemeinden kam es zu Protesten und Ausschreitungen. Die Proteste, die oft von jungen Frauen angeführt werden, begannen unmittelbar, nachdem Mahsa Amini, eine 22-jährige Frau kurdischer Abstammung, von der iranischen Sittenpolizei verhaftet worden war, weil sie ihren Hidschab nicht ordnungsgemäß trug. Sie war in einem Polizeifahrzeug verprügelt worden, bevor sie in Gewahrsam genommen wurde und drei Tage später im Krankenhaus starb.

Von Lukas Zöbelein, Mainz

Der Tod von Mahsa Amini war ein Wendepunkt. Die Wut war bereits groß, als im ganzen Land Frauen nach einem im Juli abgehaltenen “Tag des Hidschabs und der Keuschheit” verhaftet wurden. Mitte August wurde dann ein Präsidialerlass bekannt gegeben, der die Kleidung von Frauen strenger regelt und härtere Strafen für Verstöße gegen den strengen Kodex vorsieht, eine Maßnahme, die durch Überwachungstechnologie durchgesetzt werden soll. Proteste hatten begonnen, und als Bilder von Mahsa Amini, die im Koma lag und am 16. September starb, in den sozialen Medien verbreitet wurden, spitzte sich die Lage zu.

Da die Sittenpolizei vor allem dazu da ist, religiöse Gesetze wie die Einhaltung der strengen Kleiderordnung für Frauen durchzusetzen, war vielen Frauen im Iran klar, dass auch sie an Mahsa Aminis Stelle hätten sterben können. Dies löste zunächst Proteste in den kurdischen Gebieten des Irans aus, die sich schnell auf das ganze Land ausweiteten.

Es scheint, dass sich zum ersten Mal seit der Grünen Bewegung gegen die Wahlfälschungen in den Jahren 2009-10 eine breite Bewegung entwickelt. Dies unterstreicht die neue Qualität der Situation im Iran. Von Anfang an hatten sich Teile der Bewegung gegen das ganze Regime gestellt, was von der Widerspiegelung der bestehenden öffentlichen Wut über Berichte, wie Kinder der herrschenden Elite im Ausland leben, über Sprechchöre in einer nördlichen Stadt “Tod dem Unterdrücker, sei es der Schah oder der Oberste Führer” bis hin zu Rufen auf Protesten in Teheran wie “Tod dem Diktator”, “Leben, Freiheit und Frauen” und “Oh der Tag, an dem wir bewaffnet sein werden” reichte.

Wie zu erwarten, reagiert das Regime auf die Proteste erneut mit massiver Repression und Gewalt. Es handelt sich um die größten Proteste im Land seit der Bewegung gegen die  Erhöhung der Treibstoffpreise im Jahr 2019, bei denen Berichten zufolge rund 1500 Menschen bei der Niederschlagung der Proteste getötet wurden. Jetzt mobilisiert das Regime alle Kräfte des Repressionsapparats – die Polizei, die paramilitärische Basji-Miliz und die so genannten Revolutionsgarden.

Doch die Reaktion der überwiegend jungen und weiblichen Demonstrant*innen ist anders als früher. So wurde am 21. September eine Ausgangssperre verhängt und ein massives Aufgebot an Polizei und Basji in der Hauptstadt Teheran eingesetzt.

Die Maßnahme des Regimes wurde einfach mit einer lokalen Demonstration beantwortet, die sich einen Tag später versammelte und alle Kontrollmaßnahmen umging. Wo immer es dem Repressionsapparat gelingt, Versammlungen und Demonstrationen aufzulösen, bilden sich einfach neue Versammlungen und Proteste in anderen Orten derselben Stadt. Ursprünglich wurden die Proteste vor allem über soziale Medien und WhatsApp organisiert, aber das wird zunehmend schwieriger, da das Regime Websites blockiert und den Zugang zum Internet und dessen Geschwindigkeit massiv verlangsamt und behindert hat. Dies zeigt, wie wichtig es ist, dass sich die Bewegung in breiten Organisationen organisiert, die sowohl bereits bestehende Einrichtungen wie die unabhängigen Gewerkschaften einbeziehen als auch neue aufbauen, damit die Proteste geplant werden können und demokratisch darüber diskutiert werden kann, welche Schritte notwendig sind und was das Regime ersetzen soll.

Eine weitere Entwicklung ist, dass die Bewegung begonnen hat, sich aktiv gegen die Polizei und die Basji zu wehren. Bilder aus verschiedenen Städten zeigen, dass die Demonstrant*innen mit Knüppeln und Steinen bewaffnet waren und die Angriffe der Polizei und der Basji aktiv abwehren konnten. Dies hat dazu geführt, dass das Regime seine Handlanger hauptsächlich in Zivilkleidung einsetzt. Aber auch dies wird von Teilen der Bewegung erkannt, und die Schergen des Regimes werden angegriffen und vertrieben.

Diese Entwicklungen zeigen die Notwendigkeit, Strukturen zu bilden, die die Verteidigung der Bewegung organisieren können. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass z.B. in Teheran und anderen Städten einige Polizeistationen angegriffen und die Polizei aus ihnen vertrieben wurde. Es gibt Berichte über individuelle Angriffe auf die Polizei und die Basji, die sogar einige Erschießungen einschließen. Es muss jedoch eine kollektive Verteidigung organisiert werden, die sowohl auf einem Massenkampf als auch auf der Schaffung von Kräften beruht, die die Bewegung verteidigen können.

Diese Fragen stellen sich insbesondere in Oshnavieh in der Provinz West-Aserbaidschan, wo die Demonstrant*innen die staatlichen Streitkräfte aus der Stadt vertrieben haben, diese aber zurückgekehrt sind und Berichten zufolge die Stadt nun “vollständig militarisiert” ist.

Der massive Einsatz repressiver Gewalt durch das Regime, der sich insbesondere in der sofortigen Eröffnung des Feuers auf die Proteste ausdrückt, hat bisher bis zu 100 Tote gefordert.

Die Rolle der organisierten Arbeiter*innenklasse

Hintergrund dieser Situation ist, dass insbesondere die organisierten Teile der Arbeiter*innenklasse seit 2017/18 ständig in Bewegung sind und regelmäßig für einen an die Inflation gekoppelten, existenzsichernden Mindestlohn, bessere Arbeitsbedingungen, gegen Korruption und für ihre elementarsten demokratischen Rechte streiken und demonstrieren. Dazu gehören zum Beispiel das Recht auf politische und gewerkschaftliche Organisierung, also die Legalisierung ihrer Gewerkschaften, und die Freiheit aller politischen Gefangenen.

Im Moment haben die unabhängigen Gewerkschaften die Proteste unterstützt, während die Lehrer*innen in Kurdistan einen zweitägigen Proteststreik durchgeführt haben und die Teheraner Busfahrer*innen zu einem Generalstreik aufgerufen haben. Ein solcher Schritt wäre ein enormer Fortschritt, da er dazu beitragen könnte, die verschiedenen Stränge der Oppositionsbewegung zusammenzuführen. Ein 48-stündiger Generalstreik, der von Massendemonstrationen begleitet wird, würde die Stärke der Arbeiter*innenklasse, der Jugend und der Unterdrückten zusammenbringen und zeigen.

Bereits bei den jüngsten Gewerkschaftskämpfen und Maiveranstaltungen gab es Elemente einer nationalen Koordinierung, insbesondere bei den Lehrer*innen. Es braucht einen Zusammenschluss aller unabhängigen Gewerkschaften.

Dieser könnte sich an den Strukturen der iranweit organisierten Lehrer*innengewerkschaft orientieren und auf die gesamte Bewegung ausgedehnt werden. Ein zentraler Bestandteil wäre dabei, dass die Führungsgremien demokratisch gewählt werden und die Vertreter*innen jederzeit wähl- und abwählbar sind.

Die Vorbereitung eines 48-stündigen Generalstreiks als nächster Schritt könnte auch genutzt werden, um landesweit den Aufbau dieser oben genannten Strukturen voranzutreiben und die Kämpfe für die Gleichberechtigung der Frauen mit politischen und wirtschaftlichen Kämpfen zu verbinden. Jeder Sieg für die Gleichberechtigung der Frauen stärkt auch die Arbeiter*innenklasse insgesamt.

Eine solche Kampagne hätte auch die Aufgabe, vor der Rolle der rivalisierenden imperialistischen Staaten zu warnen, zumal die ausländischen kapitalistischen Herrscher*innen derzeit so tun, als stünden sie auf der Seite der Bewegung.

Sie sind jedoch nicht wirklich daran interessiert, die Bewegung zu stärken, sondern eher daran, ihren Gegner, d.h. das iranische Regime, zu schwächen. Das zeigt sich daran, dass die westlichen Imperialist*innen zur Lage der Frauen in Saudi-Arabien, einem ihrer engen Verbündeten, schweigen; sie haben so gut wie nichts dazu gesagt, dass im August zwei saudische Frauen wegen ihrer Tweets zu 34 und 45 Jahren Haft verurteilt wurden. Sie wollen ein neues iranisches Regime, das ein Verbündeter ist, so wie es der Schah vor der Revolution von 1979 war, und wie beim Schah würden sie die Augen vor der Unterdrückung im Iran verschließen, wenn sie von einem ihrer Freunde ausgeübt wird.

In einigen der iranischen Arbeiter*innenkämpfe der letzten Jahre wurde die Frage der Verstaatlichung und der Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter*innen aufgeworfen. Dies zeigt, wie die Erfahrung die Arbeiter*innen dazu bringt, sich nicht nur gegen das Regime zu stellen, sondern auch das kapitalistische System, auf dem es beruht, in Frage zu stellen. Sie wollen nicht, dass das Regime einfach durch eine andere Bande von Ausbeuter*innen ersetzt wird, und müssen daher die politische Unabhängigkeit von den iranischen Kapitalist*innen wahren, die ihre eigenen Gründe haben, das Regime abzulehnen.

Um dies zu erreichen, brauchen die Arbeiter*innen, die Jugend und die Unterdrückten ihre eigene Partei, die den Kampf für demokratische Forderungen, das Recht, sich zu organisieren und freie Wahlen abzuhalten, wirtschaftliche und soziale Forderungen und die Beendigung der Unterdrückung führt. Die Fragen der Verstaatlichung und der Arbeiter*innenkontrolle über die Wirtschaft, die z.B. die Arbeiter*innen von Haft Tappeh aufgeworfen haben, wären ein wichtiger Teil eines sozialistischen Programms zur Umgestaltung der Gesellschaft. Eine Arbeiter*innenpartei mit einem solchen sozialistischen Programm könnte die Kämpfe aller Arbeiter*innen sowie die Kämpfe anderer sozialer und ökologischer Bewegungen vereinen. Sie könnte ihnen einen klaren Weg zum Bruch mit Unterdrückung und Kapitalismus aufzeigen, indem sie eine Regierung einsetzt, die von Vertreter*innen der Arbeiter*innen und der unterdrückten Bevölkerung geführt wird.

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