Was Frauen sich in der Russischen Revolution erkämpften
„Die Lage der Frau zeigt besonders sinnfällig den Unterschied zwischen bürgerlicher und sozialistischer Demokratie […] Die bürgerliche Demokratie ist eine Demokratie wohlklingender Phrasen, feierlicher Worte, schwülstiger Versprechungen und lautstarker Losungen von Freiheit und Gleichheit, mit denen jedoch in Wirklichkeit die Unfreiheit und Ungleichheit der Frau, die Unfreiheit und Ungleichheit der Werktätigen und Ausgebeuteten bemäntelt wird. […] Die Sowjetrepublik, die Republik der Arbeiter und Bauern, hat diese Gesetze mit einem Schlage hinweggefegt, sie hat von der bürgerlichen Lüge und der bürgerlichen Heuchelei keinen Stein auf dem anderen gelassen.“ schrieb Lenin 1919. Und hatte Recht. Denn die kurze Zeit der sowjetischen Arbeiter*innendemokratie zeigte eindrucksvoll, wie schnell es Fortschritte bei der Frauenemanzipation geben kann, wenn die Bedürfnisse der Menschen die Marschrichtung vorgeben.
von Aleksandra Setsumei, Aachen
Die Revolution in Russland 1917 war das bedeutendste Ereignis der Menschheitsgeschichte. Dort schaffte die Arbeiter*innenklasse unter Führung der bolschewistischen Partei und mit Unterstützung der Bauernschaft den Kapitalismus ab und richtete den ersten Arbeiter*innenstaat seit der Pariser Kommune 1871. In allen Lebensbereichen wurden zuvor unvorstellbare Fortschritte erzielt. Gerade Frauen als besonders Unterdrückte hatten bei der Revolution am Meisten zu gewinnen und erkämpften sich – selbst und gerade aus heutiger Sicht – beeindruckende Fortschritte.
Russland 1917
Vor der Revolution war das Zarenreich als größtes Land der Welt gleichzeitig eines der rückständigsten. Während die europäischen imperialistischen Staaten bereits die Industrialisierung abgeschlossen hatten, konnte Russland nur langsam nachziehen. Trotzki bezeichnete diese Entwicklung voller Widersprüche als „ungleichmäßig und kombiniert“. Auf der einen Seite existierten in Russland prominente Industriezentren wie Petrograd oder Moskau, ausgestattet mit hochmodernen Produktionsanlagen, auf der anderen Seite ko-existierten sie mit den unzähligen kleinen Dörfern. In diesen Dörfern lebten Bäuerinnen und Bauern, die neunzig Prozent der Bevölkerung ausmachten und teilweise noch wie im 17. Jahrhundert lebten – abgeschnitten vom Rest der Welt. Gerade in den Dörfern war die russische Gesellschaft extrem konservativ. Sie bestand aus patriarchalen Familienstrukturen mit einem männlichen Oberhaupt, der die Familie beherrschte.
Die Lage der russischen Frau war äußerst prekär. Rechtlich gesehen war die Frau Eigentum ihres Mannes und schuldete ihm absoluten Gehorsam. Sie war verpflichtet, mit dem Ehemann zusammenzuleben, seinen Namen und seinen sozialen Status anzunehmen. Bis 1914, das heißt bis zu dem Jahr, in dem der Erste Weltkrieg umfassende Frauenarbeit notwendig machte, konnten Frauen ohne Einverständnis ihres Ehemannes weder arbeiten, sich weiterbilden, noch Reisepass beantragen, noch einen Verkaufsvertrag unterzeichnen. Dies wurde dadurch verschärft, dass es fast unmöglich war, sich in dem Zarenreich scheiden zu lassen, da die orthodoxe Kirche die Ehe als ein heiliges Sakrament betrachtete und massiven Einfluss auf das Land ausübte. Das einzige Recht der Frau war das Recht auf Eigentum, das sie allerdings meist nur durch Erhalt von Geschenken aufbauen konnte.
Doch das sollte sich bald ändern. 1917 befand sich Russland im dritten Jahr des Ersten Weltkrieges. Dieser war nicht gut für das Zarenreich gelaufen – es fiel dem rückständigen Land schwer, mit den europäischen Mächten mitzuhalten. Der Krieg setzte alle beteiligten Staaten in direkte Konkurrenz zueinander und verschärfte die Widersprüche. Russland war zu dem schwächsten Glied in der Kette geworden, das unter diesem Druck als erstes brechen würde.
Die Heldinnen der Februar-Revolution
Das Glied brach im Februar, als der kriegstreibende Zar gestürzt wurde. Dabei spielten Frauen eine entscheidende Rolle. Während des Krieges war die Arbeiter*innenklasse weiblicher geworden, da die Männer an die Front geschickt worden waren. 1917 machten Frauen 40 Prozent der Arbeiter*innen aus – der Anteil hatte sich im Krieg teilweise verfünffacht. Am 8. März, dem internationalen Frauentag, legten Textilarbeiterinnen in Petrograd ihre Arbeit nieder und gaben damit den Startschuss für die Revolution.
Pravda, die Zeitung der Bolschewiki, schrieb zum Jahrestag der Revolution: „Der erste Tag der Revolution – das ist der Frauentag, der Tag der Arbeiter-Internationale. Ehre der Frau! Ehre der Internationale! Als erste betraten die Frauen die Straßen Petrograds an ihrem Tage. In Moskau haben die Frauen an diesem Tage vielfach die Haltung des Militärs entschieden: Sie gingen in die Kasernen, überredeten die Soldaten, auf die Seite der Revolution zu treten, und die Soldaten folgten ihnen.“
Da Russland zu diesem Zeitpunkt noch den julianischen Kalender nutzte, ging die Revolution als Februarrevolution in die Geschichtsbücher ein. Der Zar wurde abgesetzt. An seiner Stelle trat eine bürgerliche Regierung, die allerdings schnell an ihre Grenzen stieß. Sie war nicht fähig oder willig, die Forderungen von Frieden, Brot und Land umzusetzen. Nach turbulenten acht Monaten voller Aufstände, Proteste und Generalstreiks wurde die bürgerliche Regierung im Oktober durch die Rätemacht unter der Führung der Bolschewiki gestürzt.
Die Welt wird aus den Angeln gehoben
So entstand die Sowjetunion, der erste Arbeiter*innenstaat nach der Pariser Kommune von 1871, die 71 Tage dem Kapitalismus getrotzt hatte. Seit dem Tag, an dem die Arbeiter*innenregierung die bürgerliche Regierung ablöste, herrschte in der Sowjetunion die Arbeiter*innenklasse. Die Produktionsmittel wurden verstaatlicht und unter demokratische Verwaltung der Arbeitenden gestellt. Durch die umfassende Rätestruktur konnte die Arbeiter*innenklasse endlich einen Staat schaffen, der nicht die Interessen der kleinen Minderheit verteidigte, sondern dafür sorgte, dass die Interessen der Mehrheit durchgesetzt und geschützt werden.
Dies schuf eine Grundlage für Neues. Mit einem Gesetz wurden Frauen rechtlich den Männern gleichgestellt – das Frauenstimmrecht war bereits in der Februarrevolution erkämpft worden. Aus heutiger Sicht können beide Maßnahmen nicht besonders beeindruckend klingen, doch 1917 war Russland eines der ersten Länder mit Frauenwahlrecht sowie gesetzlicher Gleichheit von Mann und Frau.
Danach folgten Maßnahmen, die selbst aus heutiger Sicht progressiv sind. Dazu gehört die Umsetzung des Prinzips „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, das gesetzlich festgelegt wurde. Frauen hatten von dort an den Anspruch, gleich viel Gehalt für ihre Arbeit zu erhalten wie Männer.
Die „heilige“ Instanz der Ehe wurde von den Bolschewiki nicht irgendwie reformiert. Sie wurde abgeschafft und neu entwickelt. Bereits in Dezember 1917 wurden zwei Dekrete erlassen, die die komplette Trennung der kirchlichen und der zivilen Ehe beschlossen; kirchliche Ehe wurde zu einer Privatangelegenheit. Eine Scheidung wurde zu einem formellen Akt erklärt. Die Ehe konnte gelöst werden auf Verlangen der beiden Eheleute oder eines der beiden. Außerdem wurden die Pflichten von Ehepartner*innen stark beschränkt. So gab es beispielsweise keine Einheit des Besitzes zwischen den Ehepartner*innen. Vergewaltigung in der Ehe stand unter Strafe – eine Maßnahme, die in Deutschland erst in den 1990ern, in Österreich erst 2004 umgesetzt wurde. Schließlich wurden alle Kinder – unabhängig davon, ob sie eheliche oder uneheliche Kinder waren – gleichgestellt.
Sicherlich ist ein Aspekt der Ehegesetze der Sowjetunion besonders beeindruckend, nämlich das Ende der Diskriminierung von gleichgeschlechtliche Paaren. Die Homosexualität war legalisiert worden und als gleichgeschlechtliche Paare begannen, Heiratsanträge zu stellen, stellte die Verwaltung fest, dass sie keine Grundlage hatte, diese abzulehnen. Damit war die Sowjetunion der erste Staat, in dem queere Paare eine Ehe eingehen konnten. Genauso wird die Sowjetunion als das erste Land in die Geschichte eingehen, in dem eine Heirat zwischen einem Transmann und einer Frau stattfand. Die neue Gesetzgebung war ohne Zweifel die fortschrittlichsten Familiengesetze, die die Welt gesehen hatte.
Recht auf Selbstbestimmung und Mutterschaft
In der Sowjetunion hatten Frauen das Recht auf kostenlosen Schwangerschaftsabbruch ohne Bedingungen und ohne moralische Einschränkungen. Grete Bergweiler*, eine deutsche Arbeiterin, die Russland 1926 in Rahmen einer Arbeiterinnendelegation besuchte, schrieb: „Auch der Arbeiterstaat treibt Bevölkerungspolitik, doch wesentlich andere als ein kapitalistisches Land. Ein Gesundheitskommissariat überwacht die Geburtenregelung, die sich vorläufig noch auf Unterweisung, Belehrung und Verbesserung der sozialen Verhältnisse erstreckt. Gesetze mit einem Paragraphen 218 gibt es nicht. Deshalb verschwindet auch das üble Kurpfuscherwesen, das an den Nöten schwangerer Frauen verdiente. Jeder Arzt ist verpflichtet, in den Krankenhäusern Abtreibungen vorzunehmen. Durch diese Regelung ist die Sterblichkeitsziffer schwangerer Frauen erheblich gesunken. Während in Leningrad von 1000 schwangeren Frauen nur vier starben, beträgt die Zahl in Berlin noch 14.“
Gleichzeitig brauchte die Sowjetunion zukünftige Arbeitskräfte. Die herrschende Arbeiter*innenklasse wusste, dass der richtige Weg zur Steigerung der Geburtenzahlen nicht die Einschränkung von Frauenrechten, sondern die Förderung und Stärkung der Mütter war. Nach sieben Monaten Schwangerschaft erhielt die schwangere Arbeiterin Mutterschutz-Beurlaubung für vier Monate bei vollem Lohn. Danach kehrte die Mutter zurück in die Fabrik und das Kind kam in die Krippe, die an jeder Fabrik eingerichtet war. Als Stillende hatte die Mütter besondere Rechte wie kürzere Arbeitszeiten sowie Stillpausen. Johanne Graef* erzählte von den Betriebskrippen folgendermaßen: „In den Krippen finden die Kinder erwerbstätiger Frauen aufmerksame und liebevolle Pflege. Kinder von zwei Monaten bis zu drei Jahren werden dort aufgenommen. Stillende Mütter können am Tage zweimal eine halbe Stunde ihr Kind stillen. […] Früher hauste in den hohen, hellen Zimmern der Fabrikdirektor, heute glänzen dort die hellen Augen gut gepflegter Arbeiterkinder.“
Kampf gegen die doppelte Unterdrückung
Die bis jetzt beschriebenen Maßnahmen waren bahnbrechende Änderungen und verbesserten das Leben von Millionen Arbeiter*innen und Kindern. Doch ein Thema bleibt offen: Im Kapitalismus werden Frauen doppelt belastet, einmal durch die Lohnarbeit und ein zweites Mal durch die unbezahlte Hausarbeit. Die Bolschewiki waren davon überzeugt, dass der einzige Weg zur Frauenemanzipation ist, Frauen den Raum dafür zu schaffen, sich gleichwertig am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Das war nur möglich, wenn Frauen von der erdrückenden Last der Hausarbeit befreit werden würden.
Im Programm der Bolschewiki hieß es dazu: „Die Partei, die sich nicht auf die formale Gleichberechtigung der Frauen beschränkt, ist bestrebt, die Frauen von den materiellen Lasten der veralteten Hauswirtschaft zu befreien, indem sie an deren Stelle kommunale Häuser, öffentliche Speisehäuser, zentrale Wäschereien und Kinderkrippen setzt“. Vor allem in den großen Metropolen, wie Petrograd, entstanden Kantinen, in denen Menschen essen konnten – und gegessen haben: 1920 haben in Petrograd neunzig Prozent der Menschen in solchen Einrichtungen gespeist, in Moskau circa achtzig Prozent. Öffentliche Wäschereien wurden eingerichtet, die eine Befreiung von zu dieser Zeit stundenlanger und anstrengender Arbeit versprachen.
Frauen und gesellschaftliche Arbeit
Die Befreiung der Frauen von der Hausarbeit hatte neben mehr Freizeit für diese eine gesellschaftliche Komponente. Denn es ging darum, die Frau als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu etablieren – und dies erforderte die Beteiligung der Frau an gesellschaftlicher Arbeit in der Produktion und der Verwaltung des Sowjetstaates. Den Bolschewiki war bewusst, wie wertvoll die Arbeitskraft der Frauen war. Lenin oder Kollontai sträubten sich die Haare, wenn sie darüber nachdachten, wie diese teure Ressource in ineffizienter und verschwenderischer individueller Hausarbeit verzehrt würde, während die Gesellschaft jedes Paar Hände zur Arbeit so dringend braucht.
Frauen mussten in die gesellschaftliche Arbeit integriert werden. Diese Arbeit war keine kapitalistische Ausbeutungsarbeit. Die Arbeiter*innen verwalteten und führten selbständig die Arbeit aus. Entsprechend veränderten sich die Fabriken von einem Ort der Profitmaximierung zu einem Ort, an dem die Arbeiter*innenklasse sich zu Hause fühlte. Das SPD-Mitglied Anna Honmann* schrieb dazu: „Der Arbeiter fühle hier aber auf Schritt und Tritt, dass er der Herr des Betriebes sei. Ohne dass ein Meister als Antreiber dahinter steht, wird intensiver gearbeitet. Jeder fühlt sich für den gesamten Betrieb verantwortlich. Überall sind hier Frauen.“ Alma Schürer*, ebenfalls SPD-Mitglied, ergänzte: „Wir mussten den russischen Kollegen sagen, dass sie trotz ihrer noch rückständigen Betriebe uns deutschen Arbeitern weit voraus sind. Es gibt in keinem kapitalistischen Land einen so vorzüglichen Arbeiterschutz und eine so glänzend organisierte Arbeiterschaft.“
Familie im Arbeiter*innenstaat
Im Kapitalismus hat die Familie eine Reihe von Aufgaben, die alle das Ziel haben, das herrschende System aufrechtzuerhalten. Allem voran geht es darum, kostenlose Reproduktionsarbeit zu leisten und soziale Kontrolle auszuüben. Diese Art von Familie wollen wir als Sozialist*innen abschaffen. Denn sie reproduziert reaktionäre und patriarchale Strukturen. Dem setzen die Bolschewiki die Idee einer Familie auf freiwilliger Basis entgegen, einer Familie, aus der sich keine Verpflichtungen ergeben und die nur durch Zuneigung zusammengehalten wird.
Aber es war nicht leicht, solche eingefahrenen Strukturen zu verändern. Trotzki hat dazu geschrieben: „Die politische Gleichheit von Mann und Frau im Sowjetstaat war ein Problem, und das simpelste. Ein wesentlich schwierigeres war das nächste – die wirtschaftliche Gleichheit von Mann und Frau in den Fabriken und Gewerkschaften, welche nicht zum Nachteil der Frau ausgeführt werden darf. Aber die wirkliche Gleichheit von Mann und Frau in der Familie ist eine wesentlich schwierigere Aufgabe. Alle unsere häuslichen Gewohnheiten müssen revolutioniert werden, bevor das geschehen kann.“
Das Familienleben musste sich ändern. Der Weg dazu war, die Übernahme der Aufgaben, die im Kapitalismus auf Familien lasteten, durch die Gesellschaft. Dazu gehört soziale Sicherheit, Reproduktionsarbeit, etc. Dabei ist es ein langwieriger und dialektischer Prozess. Auf der einen Seite übernimmt die Gesellschaft die bisherigen Pflichten der Familie, was vor allem den Frauen mehr Freiheiten erlaubt. Und auf der anderen Seite musste sich das Bild der Familie ändern, um die patriarchale Strukturen zu überwinden.
Die Veränderung in den Köpfen
Mit diesen Maßnahmen wurde die materielle Grundlage für die Emanzipation der Frau geschaffen. Das war die Voraussetzung für das Ende von Sexismus, aber damit war die Arbeit noch nicht getan. Nach Jahrtausenden von patriarchalen Verhältnissen wird der Sexismus selbst im Sozialismus nicht einfach so verschwinden, auch wenn sich die materielle Lage ändert. Dazu ist eine gezielte Aufarbeitung und Auseinandersetzung notwendig. Gerade in den abgelegenen Dörfern waren die Strukturen noch erzkonservativ. Die Vorurteile mussten gezielt bekämpft werden. Die Revolutionär*innen führten gezielte Kampagnen durch, die bis in die kleinsten Dörfer reichten, um dort emanzipatorische Arbeit zu leisten. Es waren Kampagnen der kommunistischen Partei, des Jugendverbandes, der Frauenverbände, der Gewerkschaften. Themen waren häusliche Gewalt, Verhütung und Bildung – Russland hatte eine extrem große Analphabetenquote; besonders Frauen waren betroffen. Alma Schürer* beschreibt es so: „Die russischen Arbeiter wissen, dass die Gewerkschaften des Sowjetstaates sich mit ihrer ganzen Kraft für die Interessen der Arbeiter einsetzen. Dabei legen sie besonderes Gewicht auf die Heranziehung der Frauen zu allen Funktionen. So war in der oben erwähnten [Tabak-]Fabrik eine 50-jährige Frau im Betriebsrat, die erst vor kurzem Schreiben und Lesen gelernt hatte. “
Doch der entscheidende Faktor der Veränderungen in den Köpfen waren nicht Parolen von Gleichheit, sondern die Macht der Idee der Frau als gleichgestellte und gesellschaftlich nützliche Partnerin. Selbst in den konservativsten Dörfern erkannte man nach und nach die Nützlichkeit der Frau. Auguste Derr*, SPD, beschrieb ihre Erfahrung: „In jeder Kommission arbeiten mehrere Mitglieder des Dorfraten verantwortlich und außerdem werden derselben weitere Mitglieder des Dorfes zur Arbeit zugeteilt. Hier fehlt nicht die Frau. Fast in allen Dörfern finden wir die weiblichen Delegierten, die von den Frauen des Dorfes für die Arbeit gewählt wurden, sie werden den verschiedenen Kommissionen zugeteilt. Niemals war es in Russland Sitte, dass auch die Frau am öffentlichen Leben teilnahm. Im Gegenteil, in unzähligen Orten ging die Frau verschleiert und durfte mit dem Manne nicht an einem Tisch sitzen.“
Zusätzlich dazu gaben die gewählten Positionen den Trägerinnen – ähnlich wie den zuvor vor den Herrschenden zitternde Arbeitern – den Mut, das Selbstbewusstsein und die Autorität. Anna Hohmann zitiert eine Bäuerin: „Ich kam zur Kooperative unseres Dorfes. Gewählt hatten mich die Genossinnen zur Arbeit. „Väterchen, hier bin ich, gibt mir was zu tun“ wandte ich mich an den Genossen Petrowitsch. Er hob kaum den Blick auf und knurrte verächtlich: „Tante, du hast mir gerade noch gefehlt, wir werden auch ohne dich nichts zuwege bringen, geh ruhig heim“ Da stand ich nun, was sollte ich tun – gehen? „Nein Väterchen, das geht über deine Befugnisse, ich bin gewählt.“
Dies verdeutlicht, dass keinesfalls die Bolschewiki den Frauen die Freiheiten in einer Art Stellvertreterpolitik schenkten. Es gelang den Frauen, sich selbst zu befreien. Die Aufgabe der sozialistischen Führung war es, die Arbeiter*innen und Frauen in die richtige Richtung anzustoßen und die Grundlage dafür zu schaffen. Frauen leisteten ihren Beitrag zum Aufbau des Arbeiter*innenstaates als Arbeiterinnen in den Fabriken, Kommissarinnen in Büros und Verwaltungen, Soldatinnen und Offizierinnen in der Roten Armee und als sozialistische Agitatorinnen.
Frauen in der bolschewistischen Partei
Die Bolschewiki unternahmen spezielle Maßnahmen, um Frauen zu sozialistischen Kämpferinnen ausbilden und mit Analyse-Werkzeugen des Marxismus auszustatten. Es wurden gezielte Veranstaltungen, Seminare und Vorlesungen für Frauen zum Thema Frauenunterdrückung angeboten, in denen Sexismus, Patriarchat und neue Sexualmoral diskutiert wurde. Ein bekanntes Beispiel liefert uns die Vorlesungsreihe von Alexandra Kollontai „Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung“, die sie für Arbeiterinnen und Bäuerinnen 1921 gehalten hat und deren Mitschriften wir heute nachlesen können.
Die bolschewistische Partei unternahm ebenfalls Anstrengungen, Frauen in der Partei zu organisieren. Seit 1914 gab die Partei eine die Zeitung „Robotnitsa“ (russisch für „Arbeiterin“) heraus, die sich spezifisch mit Frauenthemen beschäftigte. Seit 1919 agierte eine Frauenabteilung „Zhenotdel“ innerhalb der Partei, die Zeitungen und Magazine veröffentlichte, und Seminare, Diskussionen und Kampagnen organisierte.
Als Arbeiter*innenpartei hatte die bolschewistische Partei den Anspruch, die gesamte Arbeiter*innenklasse repräsentieren. Es gab Bemühungen, Frauen zu organisieren, aber dennoch war die Realität, dass die bolschewistische Partei von Männern dominiert war. 1917 waren nur sieben Prozent der Mitglieder Frauen, 1927 waren es zehn Prozent. Frauen konnten zwar hohe Positionen erzielen; es gibt beeindruckende Beispiele wie Alexandra Kollontai, die weltweit erste weibliche Volkskommissarin wurde – eine Position, die mit einer Ministerin vergleichbar ist. Dennoch waren solche Frauen Ausnahmen, aber ihre Anzahl war – als Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse – noch zu gering.
Grenzen des Möglichen
Die Russische Revolution leistete Großes für die Emanzipation der Frau und ermöglichte in vielen Bereichen Errungenschaften, die heute noch lange nicht erreicht sind. Diese zeigen, was möglich ist, wenn der Mensch und nicht der Profit im Vordergrund steht. Allerdings stießen die Maßnahmen der Rätedemokratie schnell an ihre Grenzen. Die Sowjetunion entstand in einem Land, das sich schon seit drei Jahren im brutalen Krieg befunden hatte, der die Produktivkräfte dezimiert hatte. Als der Wiederaufbau begonnen hatte, schickten die imperialistischen Länder 21 Interventionsarmeen, um den jungen Arbeiter*innenstaat zu zerstören; weitere Jahre blutigen Bürgerkriegs folgten, in dem alle Ressourcen dem revolutionären Kampf untergeordnet wurden. Nur durch unvorstellbare Opfer konnte die Revolution triumphieren. Der Preis dafür waren unzählige Leben von Arbeiter*innen und Revolutionär*innen, Hunger, Armut, Epidemien. Der Wunsch und der Wille, das Leben von Frauen und Männern zu verbessern, scheiterten oft an materiellen Bedingungen. Die Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt war zu arm, um das zu leisten, was geleistet werden müssten, um die Emanzipation tatsächlich zu erreichen. Beispielsweise ist die Vergesellschaftung der Hausarbeit ein zentraler Aspekt, aber entfaltet nicht die beabsichtigte Wirkung, wenn das Essen in den Kantinen schlecht ist oder gar fehlt und in den Wäschereien die Wäsche gestohlen wird.
Schließlich gehört es zur traurigen Geschichte, dass die Zeit der sowjetischen Arbeiter*innendemokratie nicht lange anhielt. Mit dem späteren Aufstieg der stalinistischen Bürokratie wurden viele der Errungenschaften wieder zurückgenommen. Homosexualität wurde wieder verfolgt und mit der Entdemokratisierung der Gesellschaft ging die Wiederbelebung der Privilegien, Hierarchien und der alten Familie einher.
Und jetzt?
Was können wir aus der kurzen Zeit der Freiheit lernen? Zum einen demonstriert die Geschichte der Russischen Revolution konkret, was Clara Zetkin als „keine Befreiung der Frau ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Befreiung der Frau“ zusammenfasste. Der Kapitalismus wird niemals zulassen, dass Frauen den Männern gleich gestellt sind. Erst seine Überwindung wird die Möglichkeit eröffnen, Emanzipation zu vollenden. Gleichzeitig ist eine soziale Revolution nur dann möglich, wenn sich die Arbeiter*innenklasse gegen ihre Unterdrückung vereint – und nur dann, wenn Arbeiterinnen sich daran beteiligen. Deswegen waren es, sind es und werden es immer die Sozialist*innen sein, die an vorderster Front stehen und für jede Verbesserung für Frauen kämpfen. Wir kämpfen dafür, dass die reelle Situation der Frau sich verbessert und wir kämpfen dafür, dass die Frau ihren rechtmäßigen Platz im Klassenkampf einnimmt.
Schließlich zeigt uns die Geschichte, welche unglaublichen Fortschritte möglich sind, wenn die Gesellschaft auf die Interessen der Mehrheit ausgerichtet wird. Das liefert uns eine Vorstellung, was heute möglich wäre. Die in dem Artikel beschriebenen Maßnahmen, die selbst heute vielfach noch nicht umgesetzt sind, wurden vor über hundert Jahren in einem der konservativsten, ärmsten und rückständigsten Land der Welt implementiert. Heute erklären uns die Bosse, Politiker, Vorstandsmitglieder und Manager, was alles nicht geht und wie schwierig die kleinsten Fortschritte sind. Das mag für den Kapitalismus stimmen. Aber wenn der Kapitalismus auf der Spitze seiner Produktivität nicht mit einem verarmten Land von vor hundert Jahren mithalten kann, dann müssen wir halt den Kapitalismus überwinden, weil er offensichtlich das Problem ist.
* = die zitierten Frauen Grete Bergweiler, Johanne Graef, Anna Honmann und Alma Schürer waren deutsche Arbeiterinnen, die die Sowjetunion 1926 in Rahmen der ersten deutschen Arbeiterinnendelegation besuchten und ihre Eindrücke in einem Bericht zusammenfassten.