Alle Dortmunder Polizist*innen wurden freigesprochen
Zwei Jahre nach der Tötung von Mouhamed Dramé durch die Dortmunder Polizei kam es schließlich zu einem Urteil. Alle angeklagten Polizist*innen, darunter der Einsatzleiter, wurden freigesprochen. Das Urteil und die Begründung können nur als Skandal bezeichnet werden. Während die Staatsanwaltschaft in Revision (aber nur gegen das Urteil gegen den Einsatzleiter) geht, wurde der Todesschütze einen Tag nach dem Urteil zum Beamten auf Lebenszeit ernannt.
von Jens Jaschik, Dortmund
Am 18. August 2022 wurde die Polizei zu einem Einsatz in einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt gerufen. Ein 16-jähriger Jugendlicher drohte, sich mit einem Messer das Leben zu nehmen. Es bestand keine Gefahr für Außenstehende oder die Beamt*innen. Elf schwer bewaffnete Polizist*innen kreisten Mouhamed ein. Sie übergossen ihn mit Pfefferspray, taserten ihn und töteten ihn schließlich mit fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole. Es glich einer Hinrichtung. Wir berichteten hier und hier über die Ereignisse und machten Vorschläge, mit welchem Programm wir den Kampf gegen Polizeigewalt führen müssen und wie wir für Gerechtigkeit sorgen können.
Im Anschluss an den Mord verschworen sich die beteiligten Polizist*innen über WhatsApp, zu der Tat zu schweigen oder die Aussage zu verweigern. Trotzdem kam es zur Anklage gegen fünf Beamt*innen – unter anderem den Todesschützen und den Einsatzleiter – wegen Totschlags. Am 12. Dezember kam es endlich zum langersehnten Urteil, das leider ein Schlag ins Gesicht ist, für alle, die für Gerechtigkeit für Mouhamed Dramé kämpfen. Nach Meinung des Richters habe zwar keine Notwehrlage für die Polizist*innen bestanden, aber er rechtfertigte das Urteil mit dem Erlaubnistatbestandsirrtum. Der Einsatz von (abgelaufenen) Pfefferspray, der Einsatz des Elektroschockers und schließlich die Todesschüsse waren alles erlaubte Irrtümer in einer Lage, die man kurzfristig falsch eingeschätzt hat. Alle Maßnahmen hätten nach Ansicht der Polizei und des Richters nur dazu gedient, den Suizid, eine Flucht oder eine mögliche Verletzung der Polizist*innen zu unterbinden. Das Resultat dieses Irrtums: Der Tod von Mouhamed Dramé.
Das Urteil schafft einen Präzedenzfall, wonach sich Polizist*innen auch in anderen Situationen einen „Irrtum“ erlauben dürfen. Erst Anfang des Jahres erschoss die Polizei einen Obdachlosen in der Dortmunder Innenstadt. Laut lto.de „lehnt das Gericht einerseits eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der handelnden Beamt:innen ab. Andererseits stellt es verhängnisvolle polizeiliche Fehleinschätzungen fest und kommt zu dem Ergebnis, dass der Einsatz aus strafrechtlicher Sicht mindestens in Teilen rechtswidrig war.“ Wer soll diese Logik verstehen? Und wieso braucht es überhaupt elf Polizist*innen, teilweise mit einer Maschinenpistole ausgerüstet, um einem Suizid gefährdeten Jugendlichen zu helfen. Mit der Ernennung des Todesschützen zum Beamten auf Lebenszeit nur einen Tag nach dem Urteil setzt die Behörde ein Zeichen, dass sie überhaupt keinen Grund für eine weitere Aufarbeitung sieht.
Wie weiter?
Protest muss weitergehen. Am Freitag nach der Urteilsverkündung kam es zu einer Demonstration von 1.500 Teilnehmer*innen gegen das Urteil. Es braucht auch weiteren Protest in der Zukunft, um den öffentlichen Druck zu erhöhen. Es ist begrüßenswert, dass die Nebenklage, welche die Familie Dramés vertritt, Revision gegen alle fünf Urteile beim Bundesgerichtshof eingelegt hat und dieses Skandalurteil nicht akzeptiert. Trotzdem müssen wir weiter auch unsere Wut auf die Straße tragen und können uns nicht darauf verlassen, dass die Justiz Gerechtigkeit schaffen wird.
Viele Aktivist*innen, einschließlich der Sol, werfen der Polizei angesichts der grausamen und heimtückischen Tatumstände Mord an Mouhamed vor. Doch es ist zu bezweifeln, dass der Bundesgerichtshof ein solches Urteil in Erwägung ziehen wird, weil Polizeigewalt von der Justiz in den seltensten Fällen geahndet wird und es ein politisches Interesse daran gibt, die Polizei von Kritik abzuschirmen. Die Bildung eines unabhängigen Untersuchungsausschusses aus demokratisch gewählten Vertreter*innen des Migrationsrates und der Migrant*innenverbände, der Anwohner*innen und Gewerkschaften ist nötig. Eine unabhängige Kommission könnte noch einmal konkret den Tathergang analysieren und nicht nur die Schuld individueller Polizist*innen feststellen, sondern das allgemeine Vorgehen der Polizei unter die Lupe nehmen und bewerten. Die Gerichtsprotokolle bilden eine Basis, auf der ein Untersuchungsausschuss sofort anfangen könnte zu arbeiten. Anschließend könnte gefordert werden, dass der Stadtrat eine Position zum Ergebnis des Untersuchungsausschusses einnimmt. Dies wird zwar nicht dazu führen, dass die Polizist*innen, die an der Tötung von Mouhamed beteiligt waren, hinter Gittern landen, aber das – zusammen mit dem Aufbau einer Bewegung für Gerechtigkeit – kann den Druck erzeugen, dass die Polizist*innen nicht in den geregelten Dienst zurückkehren können und es zu Änderungen innerhalb der Dortmunder Behörden kommt.
Diese Forderung muss mit einem weitergehenden politischen Programm verbunden werden. Ein solcher Untersuchungsausschuss könnte beispielhaft die Notwendigkeit für ein dauerhaftes Kontrollgremium aufzeigen, um polizeiliche Übergriffe zu ahnden und deren Zahl dadurch zu reduzieren. Dieses Kontrollgremium müsste demokratisch gewählt und jederzeit abwählbar sein, Einsicht in alle Akten und Dienstpläne bekommen, sowie das Recht haben, gegebenenfalls Polizist*innen zu suspendieren oder aus dem Dienst zu entfernen. Damit kann eine demokratische, öffentliche Kontrolle der Polizei geschaffen werden. Unmittelbar ist es nötig, die sofortige Suspendierung des Todesschützen und die Abrüstung der Polizei zu fordern.
Einige Aktivist*innen fordern aktuell die Abschaffung der Polizei. Es muss klar sein, dass diese Position bedeutet, sich von der Mehrheit der einfachen Menschen zu isolieren. Selbst die meisten, die gegen Polizeigewalt sind oder sogar selber negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht hat, werden diese Forderung nicht nachvollziehen können. Die Polizei spielt eine doppelte Rolle: Sie ist ein repressives Organ, welches in letzter Instanz dazu dient, die kapitalistischen Machtstrukturen zu sichern – auch deshalb ist sie von strukturellem Rassismus durchsetzt. Aber sie ist auch die einzige Anlaufstelle für die Bevölkerung, um mit Kriminalität und Gewalt umzugehen.
Deshalb müssen wir die zuvor genannte Forderung der demokratischen Kontrolle in den Mittelpunkt stellen und mit sozialen Forderungen gegen die Ursachen von Kriminalität und Gewalt verbinden, die eine breite Schicht der Gesellschaft erreichen können. Der Staat reagiert auf Kriminalität und Perspektivlosigkeit mit repressiver Gewalt, statt die Ursachen zu bekämpfen. Wir müssen uns für bezahlbaren und guten Wohnraum, Arbeit und kostenlose Bildung für alle einsetzen. Es braucht Investitionen in soziale Projekte. Mit einem solchen Programm können wir mehr Menschen für den Kampf gegen Rassismus und Polizeigewalt gewinnen. In einer sozialistischen Gesellschaft, welche die Bedürfnisse aller statt der Profite einiger weniger in den Mittelpunkt stellt, würden die Wurzeln von Gewalt und Kriminalität verschwinden und die Polizei umfassend demokratisch organisiert und kontrolliert werden. Um das zu erreichen, ist es notwendig, dass wir uns gemeinsam organisieren und dem bestehenden System den Kampf ansagen.