„In Erwägung, dass das Volk…“

Barrikaden während der Pariser Kommune 1871 Foto: bibliothèque historique de la Ville de Paris/Wikimedia Commons

150 Jahre Pariser Kommune

Man braucht „die da oben“, um eine Gesellschaft am Laufen zu halten. Das ist die Botschaft, die die Herrschenden seit Jahrhunderten immer wieder betonen. Vor 150 Jahren bewiesen die Arbeiter*innen von Paris 72 Tage lang das genaue Gegenteil. 

Von Dorit Hollasky, Dresden

Jahrzehntelang ächzte Frankreich unter der Herrschaft Napoleons III. Der Neffe des Totengräbers der Französischen Revolution von 1789 hatte eine Art der Herrschaft etabliert, die Karl Marx, in Anlehnung an Napoleons vollständigen Namen, als Bonapartismus bezeichnete. Die Unternehmerklasse überließ dem König die autoritäre politische Macht, hatte jedoch selbst die ökonomische Macht und damit soziale Privilegien. 

Lebensbedingungen

Die arbeitende Bevölkerung wurde gnadenlos ausgebeutet. Während der Lohn von Bergarbeitern zwischen 1852 um 1870 um drei Prozent wuchs, stiegen die Dividenden von Kapitalisten um dreihundert Prozent. Die Lebenshaltungskosten von Arbeiter*innenfamilien überstiegen deren Einkommen. Mehr als die Hälfte der Pariser Bevölkerung lebte in akuter materieller Not. Krankheiten, hohe Kindersterblichkeit, niedrige Einkommen, kleine, nasse Wohnungen in Hinterhöfen – das Elend nahm schockierende Ausmaße an. 

Der Abenteurer

Napoleon III. versuchte Frankreich durch koloniale Abenteuer zur Großmacht zu machen. 

Als der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck einen Anlass fand, um den westlichen Nachbarn zum Krieg zu provozieren, stieg Napoleon III. darauf ein.  

Bereits im September 1870 wurden er und seine Truppen vernichtend geschlagen. Napoleon III. geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft. Aus dem Nichts war Frankreich Republik geworden.

Aufstand

Überall forderten Arbeiter*innen und arme Bäuerinnen und Bauern politische und soziale Rechte. Vorreiterin war die Hauptstadt Paris. Die herrschende Klasse war der Situation nicht gewachsen. 

Ungünstigerweise, aus Sicht der Herrschenden, hatten sie die Pariser Arbeiter*innen in den vorangegangenen Monaten bewaffnet, um die Stadt verteidigen zu können. Die weithin proletarische Nationalgarde von Paris benahm sich immer eigenartiger. Sie wurde durch ein demokratisch gewähltes Zentralkomitee geführt. Die Offiziere wurden gewählt und waren jederzeit wieder absetzbar. Ständig wurde diskutiert: Über die Politik der neuen Regierung, über Armut und Reichtum und selbst über Befehle. 

Das ließ bei den Herrschenden die Alarmglocken schrillen. Thiers kratzte verlässliche Truppen zusammen. In den Morgenstunden des 18. März sollten sie die Kanonen und Mitrailleusen, eine Art frühes Maschinengewehr, vom Montmartre holen. Das Zentralkomitee der Nationalgarde hatte sie dort eigentlich sammeln und bewachen lassen, um sie vor dem Zugriff durch deutsche Truppen zu sichern. 

Thiers Unternehmen war schlecht vorbereitet. Die sehr jungen Soldaten hatten keine Verpflegung dabei. Pferde, um die tonnenschweren Geschütze zu bewegen, gab es auch nicht. Während die Truppe durch die Hauptstadt schlich, um Kanonen zu stehlen und Plätze zu besetzen, wartete Adolphe Thiers im Außenministerium auf Vollzugsmeldung.

Unterdessen erwachte die Hauptstadt zum Leben. Frauen liefen zu den Bäckern, um billiges Brot für ihre Familien zu kaufen. Eine von ihnen war Louise Michel. Sie sah die Truppen und verstand sofort. Die anarchistisch gesinnte Lehrerin eilte zum Montmartre. Einer der Posten der Nationalgarde war von Thiers Truppen niedergeschossen worden und brüllte in seinem Todeskampf halb Paris zusammen.

Frauen beschimpften Offiziere, die Thiers geschickt hatte, sie sollten die Kanonen da lassen, denn die hätten die Pariser Arbeiter*innen bezahlt. Den Soldaten boten sie Brot und Kaffee an.

Auf die Soldaten machte das Eindruck. Und als endlich die Nationalgardisten, die Louise Michel informiert hatte, den Montmartre erklommen, saßen Soldaten und Frauen schon zwischen den Kanonen beim Frühstück.

Thiers’ Plan schlägt fehl

Während Thiers Soldaten zu proletarischen Nationalgardisten und revolutionären Arbeiterinnen überliefen, begann Thiers zu erahnen, was da draußen geschah. Die wichtigsten Plätze, Kasernen und Gebäude waren von Revolutionär*innen besetzt worden. Kommandeure wie Lecomte und General Thomas waren von den Aufständischen erschossen worden, nachdem sie befohlen hatten, das Feuer auf die Pariser*innen zu eröffnen. Und nun marschierten tausende Nationalgardisten unter Paul-Antoine Brunel vor dem Außenministerium auf: Man sah sie von Thiers Zimmer aus. Die Versammlung dort packte die nackte Panik. Doch Brunel, der an diesem Tag so klug agiert hatte, verließ der Mut. Den Sturm auf das Außenministerium führte er nicht zu Ende, die Verhaftung Thiers‘ und seiner Regierung waren zu viel für ihn.

Thiers wusste das nicht und wies die Verwaltung an, Paris unverzüglich zu verlassen. Sollte die Stadt in Desorganisation und Hunger untergehen! Dann stürmte er aus einem Seiteneingang aus dem Gebäude und floh mit seinem Stab nach Versailles.

Linke unvorbereitet

Am 18. März siegte die Revolution. Doch die Linke, allen voran die Internationale Arbeiterassoziation (IAA), in der Karl Marx und Friedrich Engels wirkten, war auf diesen Aufstand nicht gefasst. Zahlreiche ihrer klügsten Köpfe waren unter Napoleon und später unter Thiers in Haft genommen worden.  Marx hatte mit einem Aufstand gerechnet, die in Frankreich agierenden Sozialist*innen hingegen nicht.

In den Tagen nach dem Aufstand setzten sich daher jene durch, die es ablehnten, Nägel mit Köpfen zu machen. Während große Teile der IAA-Mitglieder vorschlugen nach Versailles zu ziehen, um der Regierung habhaft zu werden, argumentierten andere damit, welche enormen Aufgaben in der Hauptstadt zu lösen seien. Außerdem rumorte es in allen großen Städten. Die Hoffnung war, dass sie schon bald alle freie Kommunen gründen würden. Thiers in Versailles? Der sei erledigt. Wozu sich um ihn kümmern?

Maßnahmen der Kommune

Die Pariser*innen wählten ein revolutionäres Stadtparlament. Die Abgeordneten waren nicht nur jederzeit wähl- und abwählbar; sie lehnten auch ab, mehr Geld anzunehmen als den Lohn durchschnittlicher Arbeiter*innen und sie legten über ihre Tätigkeit immer und überall Rechenschaft ab.

Und was sie in den nächsten Wochen beschlossen, hatte es in sich: Die Nachtarbeit der Bäcker wurde abgeschafft. Betriebe, die die Besitzer geschlossen hatten, wurden unter Hoheit der Kommune wieder eröffnet; Wohnungen beschlagnahmt und an Bedürftige verteilt. Mietschulden wurden gestrichen. Pfandleiher mussten verpfändete Gegenstände wieder aushändigen. Erstmals überhaupt wurden außereheliche und eheliche Kinder rechtlich gleichgestellt. 

Jedes Dekret der Kommune begann mit den Worten „in Erwägung, dass das Volk…“, danach wurden die notwendigen Maßnahmen verkündet. 

Alle Theater und Opernhäuser, genauso wie alle Bibliotheken wurden wieder geöffnet. In den 72 Tagen der Kommune waren sie kostenlos. Jeden Sonntag wurden Konzerte unter freiem Himmel veranstaltet und die angeblich ungebildeten Arbeiter*innen nahmen diese Angebote rege wahr. Erstmals existierten wirkliche Rede-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit für Arbeiter*innen. Die Bilanz der „großen 72 Tage“ wie sie Jean Villain nannte, konnte sich schon damals sehen lassen. Und kann es, im Angesicht einer Pandemie für deren Bewältigung wieder allein die Arbeiter*innenklasse zu zahlen hat, bis heute. Die grundlegende Idee der Kommune war es nicht, die Portmonees der Reichen zu füllen, sondern allen ein erstrebenswertes Leben zu ermöglichen.

Eroberung von Paris

Im April scharten sich die französischen Herrschenden um Thiers und drängten zum Handeln. Bismarck, eben noch der Todfeind der Franzosen, entließ französische Elitetruppen aus der Gefangenschaft, damit Thiers sie gegen die Revolution einsetzen konnte. Zuerst wurden die Kommunen anderer Städte erwürgt, dann überfiel Thiers Paris.

Am 21. Mai rückten seine Truppen dort ein. Die Nationalgarde war von den Kämpfen der vorangegangenen Wochen ermüdet. Nach einer Woche Straßenkampf siegten Thiers‘ Einheiten. Doch das Massaker begann erst. Angefeuert von der bürgerlichen Presse, die wie der „Figaro“ eine Möglichkeit witterte, sich vom „moralischen Aussatz“ zu befreien, mordeten die Truppen ohne Unterlass. 

Frauen, die sich das Recht genommen hatten, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen, wurden zum besonderen Ziel. Die Kommunardinnen seien hinterhältig, hieß es in Tagesbefehlen an die Truppe. Sie würden Soldaten in Fallen locken und dann massakrieren. Nach Ende der Kämpfe wurden sie reihenweise erschossen. Sie waren leicht zu erkennen, da sie ihre Kleider oft gegen Hosen getauscht hatten, um im Kampf beweglicher zu sein. 

Selbst Kinder fielen den Erschießungskommandos zum Opfer. Die Seine färbte sich buchstäblich rot vom Blut erschossener Kommunard*innen. Tote säumten die Straßen und wurden vielfach liegen gelassen. Noch bis in den Juni hinein wurden Leute abgeschlachtet. Selbst bürgerliche Kommentatoren verließen nun Paris aus Protest gegen den Massenmord, dem wenigstens 20.000, nach anderen Zählungen aber sogar bis zu 40.000 Menschen zum Opfer fielen. 

Lehren

Zunächst einmal waren die 72 Tage der Pariser Kommune der Beweis dafür, dass Arbeiter*innen ein Gemeinwesen organisieren können. Die Dekrete der Kommune sind bis heute ein lebendiges Beispiel, wie klug die Kommunard*innen agierten. Dass das möglich wurde, lag vor allem daran, dass sie den bürgerlichen Staatsapparat zerschlugen und ihn durch einen Arbeiter*innenstaat ersetzten, in dem nicht nur die Abgeordneten, sondern auch alle Funktionsträger*innen, selbst Richter, jederzeit wähl- und abwahlbar waren und Rechenschaft über ihr Tun ablegen mussten. Darin erkannten Marx und Engels später die wichtigste Lehre aus den Ereignissen in Paris.

Zugleich zeigen die 72 Tage auch eines augenscheinlich: Wie zerstritten die Herrschenden auch sein mögen, sie helfen stets dann einander, wenn es gegen die Beherrschten geht. Frankreich und das damals noch junge deutsche Kaiserreich hatten sich einen blutigen Krieg geliefert, doch als die neue französische Regierung um Hilfe gegen die Revolution rief, war Bismarck dazu gern bereit.

Das weist jedoch auf den vielleicht entscheidenden Fehler der Kommunard*innen hin: Sie hätten zweimal die Regierung, die später die blutige Konterrevolution organisierte, ohne großes Blutvergießen der Macht entheben können. Einmal als Brunel diese Gelegenheit verpasste und einmal in den Tagen unmittelbar nach dem 18. März, als selbst die letzten Truppen, die Thiers noch in Versailles verblieben waren, murrten und sich beschwerten. Das Zögern führte zur Blutwoche im Mai, in der sich Thiers und die herrschende Klasse an den Aufständischen rächten.

Zwar stellten die Kommunard*innen das bürgerliche Eigentum infrage, als sie Wohnungen beschlagnahmten – und sie gingen damit weiter als beispielsweise die rot-rot-grüne Landesregierung in Berlin heute – und auch als sie geschlossene Fabriken wieder eröffneten, doch sie gingen diesen Weg nicht zu Ende. Die Nationalbank in Paris blieb unbehelligt und weigerte sich, Geld an die Kommune zu zahlen, stellte aber Thiers Millionen zur Verfügung. 

Dass die Kommunard*innen diese Fehler machten, lag auch daran, dass sie nicht ausreichend vorbereitet waren. Diese Vorbereitung kann nur eine feste Organisation, eine Partei bieten, die die nötigen Maßnahmen im Vorhinein in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert und deren Notwendigkeit darstellt. Einer der dabei war, Lawrow, schrieb, ihr Hauptfehler sei es gewesen, „nicht bereit“ zu sein. Wir müssen bereit sein!

Dorit Hollasky ist Mitglied des Sol-Bundesvorstands und aktive Gewerkschafterin in einem Krankenhaus.