Türkei: Erdogan verfehlt absolute Mehrheit

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Instabilität und Polarisierung werden sich fortsetzen

Bei den Präsidentschaftswahlen am Sonntag, dem 14. Mai, konnte Recep Tayyip Erdogan, der rechtspopulistische Präsident der Türkei, knapp die meisten Stimmen für sich und die AKP verbuchen.

Von Berkay Kartav

Obwohl die AKP und das von ihr geführte “Cumhur” Wahlbündnis (“Volksallianz”) nun über eine komfortable Mehrheit im Parlament verfügen, konnte Erdogan nicht mehr als fünfzig Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um die erste Runde der Präsidentschaftswahlen zu gewinnen.

Während Erdogan rund 49,5 Prozent der Gesamtstimmen erhielt, kam der Kandidat des pro-kapitalistischen “Millet” Bündnisses (“Allianz der Nation”), Kemal Kilicdaroglu, nur auf 44 Prozent der Stimmen. Sinan Ogan, der rechtsextreme nationalistische Kandidat, erhielt rund fünf Prozent. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass die Türkei nach wie vor eine stark polarisierte Gesellschaft ist. Die Ergebnisse bedeuten, dass die türkischen Präsidentschaftswahlen am Sonntag, den 28. Mai, in eine Stichwahl münden werden.

Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen fanden inmitten einer historischen Lebenshaltungskostenkrise statt, in der eine Inflation von über 120 Prozent vorhergesagt wird. Der Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse und der Mittelschicht ist seit der Wirtschaftskrise von 2018, die durch die Pandemie noch verschärft wurde, erheblich gesunken.

Die Krise des Erdogan-Regimes und des türkischen Kapitalismus wurde noch verschärft, als im Februar dieses Jahres der Südosten der Türkei von zwei starken Erdbeben heimgesucht wurde, bei denen über 50.000 Menschen ums Leben kamen. Nicht nur die verrottete pro-kapitalistische Regierung unter Erdogan war für das Ausmaß dieser Katastrophe verantwortlich, sondern auch das Fehlen von Rettungsteams und lebensnotwendigen Gütern wie Zelten und Wasser trugen zur Wut bei.

Angesichts dieser Situation schnitt Erdogan besser ab als erwartet und erhielt bei den Präsidentschaftswahlen rund 49,5 Prozent der Stimmen. Dies ist zwar ein leichter Rückgang im Vergleich zu den Stimmen, die er 2018 erhalten hat, aber Erdogan hat immer noch die meisten Stimmen von allen anderen Kandidaten erhalten.

Erdogan schaffte dies durch eine unglaubliche Mobilisierung staatlicher Ressourcen. Er konnte seine Basis durch eine Reihe populistischer Maßnahmen festigen, darunter eine deutliche Gehaltserhöhung für Beamt*innen, eine Frühverrentung für einige Arbeiter*innen und kostenlose Gasrechnungen für jeden Haushalt für einen Monat. Erdogan schürte auch den türkischen Nationalismus durch die Ankündigung der Entdeckung von Erdgas im Schwarzen Meer und von Autos und Militärausrüstung aus türkischer Produktion. Dies wurde mit homophober und sexistischer Rhetorik kombiniert.

Die nationale Frage war ein zentrales Thema im Wahlkampf. Erdogan bediente sich der “Teile-und-herrsche-Taktik”, um anti-kurdische Stimmungen zu schüren, insbesondere gegen die pro-kurdische HDP-Partei und ihren inhaftierten ehemaligen Vorsitzenden Selahattin Demirtas. Und das, obwohl zu Erdogans Wahlbündnis auch Hudapar gehört, eine kurdisch-nationalistische islamisch-fundamentalistische Partei, die eng mit der kurdischen Hisbollah verbunden ist.

Die ersten Ergebnisse könnten eine Zeit lang eine demoralisierende Wirkung haben, vor allem bei jungen Menschen, die von Erdogans Herrschaft die Nase voll haben und ihn nach der ersten Runde unbedingt loswerden wollen.

Ihre Hoffnungen wurden durch die allzu optimistische Kampagne des von der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) angeführten Millet-Bündnisses geweckt, das behauptete, dass es einen Sieg in der ersten Runde schaffen könnte.

Dass es diesem Bündnis nicht gelungen ist, die Wut in der Gesellschaft zu bündeln, liegt daran, dass es außer der Aussage “Wir sind nicht Erdogan” nichts zu bieten hat. Es handelt sich um ein instabiles “vereintes” Bündnis, an dem mehrere rechtsgerichtete Parteien beteiligt sind, darunter die Parteien des ehemaligen Finanzministers Ali Babacan und des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, die beide unter der Führung Erdogans Minister waren. Eine weitere neu gegründete politische Partei, die “Gute Partei” (IYIP), spaltete sich von der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ab.

Es ist klar, dass eine Wahlkampagne, die fast ausschließlich auf dem Motto “Wir sind nicht Erdogan” basiert, nicht ausreicht, um Stimmen von verärgerten Wähler*innen zu gewinnen, die normalerweise für Erdogan stimmen. Dies war auch bei den Präsidentschaftswahlen 2014 und 2018 eine gescheiterte Strategie. Der rechtsgerichtete Kandidat, der bei den Präsidentschaftswahlen 2014 gegen Erdogan antrat und von der CHP unterstützt wurde, Ekmeleddin Ihsanoglu, wurde später zum Erdogan-Anhänger.

Die Popularität des Millet-Bündnisses unter bestimmten Schichten, einschließlich von Jugendlichen, war nicht auf eine Begeisterung für das Bündnis zurückzuführen, sondern auf den Wunsch, Erdogan angesichts der Wirtschaftskrise und der Angriffe auf demokratische Rechte loszuwerden. Kilicdaroglu, der einer unterdrückten religiösen Gruppe, dem Alevitentum, angehört, erhielt seine höchsten Stimmenzahlen in kurdischen Städten, da er von der pro-kurdischen linken Demokratischen Volkspartei (HDP) unterstützt wurde.

Auch wenn es unwahrscheinlich erscheint, ist es immer noch möglich, dass Kilicdaroglu bei den Stichwahlen ein Comeback feiert. Er führt eine breite Opposition gegen Erdogan an und wird von weitsichtigeren Kapitalist*innen unterstützt. Die Sprachrohre des Kapitalismus, wie die Zeitschrift Economist, haben die Kandidatur von Kilicdaroglu offen unterstützt. Doch im Moment hat Erdogan die Oberhand, da er die Staatsbürokratie und die Medien fest im Griff hat.

Parlamentswahlen

Bei den Parlamentswahlen konnte die von Erdogan geführte Cumhur-Bündnis, das sich aus mehreren rechtspopulistischen bis rechtsextremen Parteien zusammensetzt, eine einfache Mehrheit erringen. Während der Stimmenanteil der AKP im Vergleich zu früheren Wahlen deutlich gesunken ist, konnten andere rechtsgerichtete Parteien in der Koalition ihre Stimmenzahl erhöhen. Dazu gehören drei Sitze für Hudapar.

Obwohl die selbsternannte “sozialdemokratische” kemalistische CHP die Zahl ihrer Abgeordneten auf 169 erhöhen konnte, werden einige dieser Sitze an die kleineren rechtsgerichteten Parteien des Millet-Bündnisses vergeben. Dies bedeutet, dass die Zusammensetzung des neuen Parlaments überwiegend aus rechten und rechtsextremen Parteien bestehen wird.

Positiv ist jedoch, dass das Linksbündnis “Arbeit und Freiheit”, das sich aus der HDP und der neu gegründeten Arbeiter*innen-Partei der Türkei (TIP) zusammensetzt, 66 Sitze im Parlament erhalten wird, was etwa zehn Prozent der Gesamtstimmen entspricht. Die TIP konnte bei den ersten Wahlen, an denen sie eigenständig teilnahm (zuvor hatten ihre Vertreter*innen auf der Liste der HDP kandidiert, A.d.Ü.), fast eine Million Stimmen gewinnen und ihre vier Sitze im Parlament behalten.

Diese kleine Zahl linker Abgeordneter im Parlament kann als Sprungbrett für die Arbeiter*innenbewegung dienen, wenn sie ihre Positionen effektiv nutzen. Anstatt linkspopulistische Politik zu machen, sollte die TIP ein sozialistisches Programm aufstellen, indem sie Klassenforderungen aufstellt.

Es sollten nun weitere Schritte unternommen werden, um dieses Bündnis zu stärken und möglicherweise auszuweiten, um einen sozialistischen Weg aus dieser Krise anzubieten. Es müssen Gespräche mit anderen Arbeiter*innenorganisationen geführt werden, um die nächsten Schritte beim Aufbau einer unabhängigen Arbeiter*innenbewegung mit einem sozialistischen Programm zu erörtern. Dies kann nicht nur bewirken dass man Erdogan loswird, sondern auch den Superreichen die Macht entreißen und den Lebensstandard der Mehrheit transformieren.

Sozialistische Kräfte aufbauen

Wie auch immer die Ergebnisse am 28. Mai ausfallen, es ist klar, dass die Rechte bei den türkischen Parlamentswahlen einen Durchbruch erzielt hat. Objektiv betrachtet ist dies eine Niederlage für die Linke.

Da es der Linken nicht gelungen ist, eine sozialistische Alternative vorzuschlagen und bei diesen Wahlen, einschließlich der Präsidentschaftswahlen, eine starke Basis in den Arbeiter*innenvierteln aufzubauen, konnten rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte bedeutende Gewinne erzielen.

Doch selbst wenn Erdogan die Stichwahlen gewinnt, werden die nächsten vier Jahre für ihn keine stabile Zeit sein. Am Tag nach den Wahlen brachen die türkischen Märkte ein und die Währung, die Lira, verlor an Wert. Erdogan wird als unzuverlässiger Vertreter der kapitalistischen Klasse angesehen.

Es gibt keine Aussicht auf eine wirtschaftliche Erholung, zumindest nicht auf kurze Sicht. Weitere bösartige Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse, auch gegen demokratische Rechte, sind im Gange. Man kann nicht darauf vertrauen, dass die pro-kapitalistischen Oppositionsparteien der Herrschaft Erdogans oder dem, was er repräsentiert, ein Ende setzen werden.

Für die Linke ist es von entscheidender Bedeutung, eine unabhängige Massenbewegung der Arbeiter*innenklasse mit einem sozialistischen Programm aufzubauen, um für den bevorstehenden Kampf gerüstet zu sein. Dies würde auch die Erhebung demokratischer Forderungen in einer Übergangsphase und die Verteidigung der nationalen und demokratischen Rechte des kurdischen Volkes beinhalten. Eine solche Bewegung hat das Potenzial, die Arbeiter*innenklasse zu begeistern, einschließlich derjenigen, die für Erdogan stimmen, weil sie keine Alternative sehen.

Wir nähern uns dem 10. Jahrestag des großartigen Gezi-Park-Widerstands Ende dieses Monats, bei dem Millionen von Menschen gegen Erdogans autoritäres Regime auf die Straße gingen. Ähnliche Kämpfe, nur in viel größerem Maßstab, stehen auf der Tagesordnung.

Aus den vergangenen Niederlagen zu lernen, wird in dieser Periode entscheidend sein. Innerhalb der Arbeiter*innenbewegung muss eine ernsthafte Diskussion geführt werden, um die Arbeiter*innenklasse politisch zu wappnen und die sozialistischen Kräfte auf eine instabile Periode vorzubereiten, in der es viele Möglichkeiten für Marxist*innen gibt, ihre Unterstützung zu vergrößern.

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