ver.di-Mitgliederbefragung im öffentlichen Dienst: Jetzt für einen Kurswechsel aktiv werden

Nur 66 Prozent der Beteiligten stimmten für den Tarifabschluss

Bereits wenige Tage nach Ende der geheimen Schlichtung zwischen den Gewerkschaftsvertreter*innen und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und Vertreter*innen der Bundesregierung im April 2023, wurde von offizieller Seite von ver.di viel Werbung für den Schlichterspruch gemacht. Nach der darauffolgenden Verhandlung am 22. April wurde, gegen 17 Stimmen und 3 Enthaltungen, von der Bundestarifkommission mehrheitlich die Annahme des Schlichtungsergebnisses empfohlen. Anschließend fand vom 2. bis 12. Mai eine Online-Mitgliederbefragung für die in ver.di organisierten Kolleg*innen bei Bund und Kommunen statt. Trotz der breiten Kampagne in der Presse, in den sozialen Medien bis hinein in die Betriebsgruppen, konnte das Ergebnis nur etwa zwei Drittel der Abstimmenden überzeugen.

Von René Arnsburg*, Berlin

Erst ab März 2024 gibt es mehr Lohn und „der Abschluss ab März 2024 [bedeute] eine tabellenwirksame Erhöhung von bis zu 16,9 Prozent […] – die allermeisten Beschäftigten erhielten damit über 11 Prozent mehr,“ heißt es auf der ver.di-Website. Der Tarifvertrag gilt aber eigentlich bereits ab dem 1. Januar 2023. In Diskussionen tun die hauptamtlichen Verhandlungsführer*innen Christine Behle und Frank Werneke so, als ob es die 14 Monate Nullrunde nicht gäbe, da die steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichsprämie von 3000 Euro auf diesen Zeitraum aufgeteilt würde. Auszubildende und Teilzeitkräfte erhalten diese nur anteilig und die für viele wichtige Regelung zur Altersteilzeit wurde nicht verlängert. Besonders die Beschäftigten in den Krankenhäusern betonten in Versammlungen, dass, aufgrund der anstrengenden Arbeit, ein sehr hoher Anteil in Teilzeit arbeiten und früher in Rente gehen muss. Alles zusammen entspricht das Ergebnis in etwa dem vorher abgeschlossenen Tarifvertrag bei der Deutschen Post und wird als Leitlinie für die kommenden Abschüsse im Einzelhandel, in der Energiewirtschaft und anderen Branchen gelten.

Reallohnverlust fortgeschrieben

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kommentiert das Ergebnis folgendermaßen: „2024 werden die Löhne im öffentlichen Dienst am Ende der Laufzeit rund sechs Prozent weniger Kaufkraft haben.“ Auch das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di hat den drohenden Reallohnverlust kritisiert und die Kolleg*innen dazu aufgerufen, mit „Nein“ in der Mitgliederbefragung zu stimmen und die Gewerkschaftsführung aufzufordern, eine Urabstimmung einzuleiten. An einigen Stellen gelang es den Beschäftigten besonders gut organisierter und streikbereiter Betriebe in Versammlungen entsprechende Resolutionen zu verabschieden, die sich auch gegen die Schlichtungsvereinbarung und das Ergebnis der Schlichtung richteten (Siehe hier und hier).

Mitgliederbefragung – ein demokratisches Mittel?

Die im Gegensatz zur Urabstimmung nicht bindende Mitgliederbefragung wurde in ver.di eingeführt, um die Mitglieder formal an einer Entscheidungsfindung über Tarifabschlüsse zu beteiligen. Das Ergebnis der Befragung wird dann als Empfehlung an die jeweilige Tarifkommission gesehen. Wie bei einer Urabstimmung gilt eine Ablehnung erst, wenn mindestens 75 Prozent der Teilnehmenden mit „Nein“ stimmen.

Doch es gibt noch weitere Einschränkungen bei diesem Prozess:

1. Ein Instrument ist nur so neutral und aussagekräftig, wie es genutzt wird. Während bis zur Schlichtung sogar von den Bundesvorsitzenden von ver.di von einem Erzwingungsstreik gesprochen wurde, sollten die Forderungen nicht erfüllt werden und eine Inflationsausgleichsprämie aus den richtigen Gründen abgelehnt wurde, fand nach der Schlichtung eine 180-Grad-Wende statt. Mit Argumenten, dass manche Bereiche nicht kampfbereit oder durchsetzungsfähig seien und dass auch mit einem Streik kein besseres Ergebnis (vielleicht sogar noch ein schlechteres) erzielt werden könne, wurde zur Annahme des Schlichtungs- und des Verhandlungsergebnisses gedrängt. Niemand wusste, wie es eigentlich wirklich in anderen Bezirken aussieht. Wo gibt es Probleme mit der Streikbereitschaft, wie groß sind sie, wo sind wir wie stark?

Die Haupt- und teilweise die Ehrenamtlichen, die die Kolleg*innen zuvor in den Kampf gerufen hatten, gaben die Empfehlung, den Kampf sein zu lassen. Die Bundestarifkommission empfahl die Annahme. Dieser Schwenk hat viele Kolleg*innen in den Betrieben verunsichert, denn wenn die eigene Führung nicht mehr kämpfen will, wie kann dann der Kampf überhaupt gewonnen werden? Dazu kam eine (Des-)Informationskampagne über die offiziellen Kanäle von ver.di, die sogar soweit ging, Begriffe wie „Mythen“ und „Faktencheck“ zu nutzen und jene Kolleg*innen, die das Ergebnis kritisieren damit in die Ecke von Falschbehauptungen zu drängen (dass es bspw. keinen Reallohnverlust gäbe, siehe Mythen rund um das Inflationsausgleichsgeld). Das ist alles andere, als ein möglichst sachlicher Rahmen für eine Entscheidungsfindung.

2. Wie wird die Entscheidung getroffen? Tarifrunden und Arbeitskampf sind eine kollektive Sache. Kolleg*innen kommen und kämpfen zusammen, stellen ihre gemeinsame Stärke fest, diskutieren, wie es weiter gehen kann. In einigen Bezirken wurden Instrumente wie die Delegiertenversammlungen eingeführt, die eine größere Beteiligung ehrenamtlicher Kolleg*innen aus den Betrieben ermöglichten. In der Woche zwischen der Schlichtung und der vierten Verhandlungsrunde gab es vielerorts, wenn auch nicht überall, Diskussionen und Abstimmungen über das Schlichtungsergebnis. In vielen Betrieben wurde, nachdem es ein Verhandlungsergebnis gab, viel diskutiert, doch ein gleichwertiger Diskussionsprozess, in dem man die Haltung gemeinsam hätte besprechen und festlegen können, wurde nicht organisiert. Die Entscheidung blieb jedem Mitglied letztendlich individuell überlassen. Das mag formal demokratisch scheinen, doch in der Gewerkschaft sollte das Kollektive im Vordergrund stehen, weil es hier nicht um Vertretung, sondern um die eigenen Lebensgrundlagen geht, die nur gemeinsam verbessert werden können. Jedes Ergebnis sollte in einer bindenden Urabstimmung mehrheitlich angenommen oder abgelehnt werden.

Hätte eine Urabstimmung einen Streik eingeleitet, dann wäre es nötig gewesen, tägliche Streikversammlungen mit demokratischen Beschlüssen in den Betrieben, Streikdelegiertenversammlungen auf bezirklicher, landesbezirklicher und bundesweiter Ebene abzuhalten, die dann wirklich die Stimmung und Meinung der Streikenden aufnehmen und darüber beraten, ob ein Ergebnis annehmbar ist oder nicht. Sogar unter den Mitgliedern der Bundestarifkommission war es nicht möglich, sich abseits von festgelegten Terminen auszutauschen und trotzdem es bundesweit die Einrichtung von Tarifbotschafter*innen aus den Betrieben gab, gab es in den Online-Meetings keine Möglichkeit für einen wirklichen Austausch. Ihre Aufgabe bestand allein darin, das von der Verhandlungsführung gesagte aufzunehmen und weiterzutragen, aber nicht zu diskutieren.

3. Es sollte eine Auswertung der Befragung nach Bezirken und Betrieben geben, damit die Kolleg*innen wissen, wie es um die Stimmung in ihrem Betrieb steht, auch wenn die Befragung nur eine Momentaufnahme ist. Dennoch ist eine Qualifizierung der Mitgliederbefragung nicht möglich. Während es bei einem Arbeitskampf auf die aktiven Kolleg*innen ankommt, um den Streik in Gang zu setzen und es gelungen ist, vor und während der Warnstreiks immer neue Aktive zu gewinnen, lässt sich nur schwer sagen, welche Stimmen insgesamt überwogen haben. Christine Behle stellte dar, dass die Beteiligung von über 27 Prozent an der Mitgliederbefragung deutlich höher als bei der Forderungsfindung war, wo nur elf Prozent der ver.di-Organisierten abgestimmt hätten. Doch was ist mit denen, die zwar aktiv in der Tarifbewegung waren, aber durch den Umgang nach der Schlichtung frustriert wurden und sich nicht beteiligt haben? Wer ist das eine Drittel, die gegen den Abschluss gestimmt haben? Es besteht zu befürchten, dass das gerade diejenigen sind, die ganz vorne bei den Kämpfen standen. Hätte es keine anonyme Mitgliederbefragung, sondern Versammlungen von lokaler bis zu Bundesebene gegeben, die über eine Annahme des Ergebnisses offen diskutiert und demokratisch entschieden hätten, hätte das denjenigen, die am aktivsten waren, die den Kampf geführt haben und ihn weiter geführt hätten, eine Stimme gegeben und hätte mobilisierender gewirkt, als eine nicht bindende Online-Mitgliederbefragung. Offene Fragen hätten besprochen werden und gemeinsam diskutiert werden können, wo die Schwächen liegen und wie diesen begegnet werden kann.

Trotz all dieser Aspekte ist eine Zustimmung von 66 Prozent historisch schlecht. Selbst der Tarifabschluss 2018, der mit einer Erhöhung von zusammengerechnet 7,5 Prozent über eine Laufzeit von 30 Monaten Reallohnverlust bedeutete, bekam eine Zustimmung von 80,5 Prozent. 2020 gab es erst gar keine Mitgliederbefragung. Dass in ver.di-Pressemitteilungen jetzt so getan wird, als hätten 66 Prozent der Mitgliedschaft und nicht nur 66 Prozent der 27 Prozent, derer, die abgestimmt haben, für das Ergebnis votiert, ist einfach nicht korrekt. Damit wird suggeriert, dass viel mehr Mitglieder dem Ergebnis zugestimmt haben, als es eigentlich der Fall ist (66 Prozent von 27 sind 18 Prozent der Mitglieder, nicht 66 Prozent, wie in der Pressemitteilung angegeben).

Für einen kämpferischen Kurs in ver.di

Bereits nach der Tarifrunde bei der Deutschen Post war klar, wie ernst die Worte über Erzwingungsstreik der ver.di-Spitze, vor allem der Verhandlungsführung von Kocsis, Behle und Werneke, gemeint waren. Dabei gab es klare Kampfansagen – von mehreren Seiten. Das Management der Post, wie auch die Verantwortlichen im öffentlichen Dienst, haben deutlich gemacht, dass die Gewerkschaft die Forderungen, wenn überhaupt, nur mit einem hartem Kampf durchsetzen könne. Gleichzeitig bedeuten die Maßnahmen aus der „Konzertierten Aktion“, denen die Führung mehrere DGB-Gewerkschaften zugestimmt haben, eine Abwendung von Klassenkämpfen. Dass sich die Gewerkschaftsführungen darauf einlassen, gemeinsam mit Unternehmern und deren Regierung an einem Runden Tisch über die Bewältigung der Krise zu sprechen, auf Kosten der Arbeitenden und statt auf deren Kampfkraft zu setzen, hat in Deutschland Tradition und ist Teil des Konzepts der sogenannten Sozialpartnerschaft. Durch Inflationsausgleichsgeld und Energiepreisbremse sollte der größte Unmut abgefedert werden, was letztendlich jedoch Maßnahmen sind, die nicht die Krisenkosten von den Lohnabhängigen auf die Profiteure verlagern, die Krise nicht lösen und letztendlich von den Arbeiter*innen selbst gezahlt werden.

Die Bundesregierung streitet gerade weltweit mit anderen Großmächten um ihren Platz an der Sonne – im Interesse des deutschen Kapitals. Finanzminister Lindner kündigt Sparpläne an und Kriegsminister Pistorius sieht durch einen hohen Abschluss im öffentlichen Dienst die Aufrüstungsziele der Bundesregierung gefährdet. Jetzt sollte vor allem für Ruhe im Land gesorgt werden. Diese zu stören und nicht auf den Rücken der Beschäftigten durchzusetzen, wäre in einer gemeinsamen Tarifbewegung von Post, öffentlicher Dienst, Bahn und anderen angelegt gewesen. Allein die Warnstreiks haben deutlich gemacht, wie Gewerkschaften, wenn sie als kämpfende Arbeiter*innenorganisationen auftreten, das Bewusstsein verändern können und 90.000 Neueintritte in ver.di in diesem Jahr haben nur den Bruchteil des Potentials gezeigt.

Allein um die Forderungen der Kolleg*innen zu erfüllen, wäre es nötig gewesen, eine Kraft zu entfesseln, die durch gemeinsame und koordinierte Streiks öffentliche Arbeitgeber*innen und Unternehmen dazu zwingt, diese zu erfüllen. Das hätte das Konzept der Sozialpartnerschaft zwischen Arbeit und Kapital zumindest in Frage gestellt. Doch Werneke und Co. wollen weiterhin vom Kapital und der Regierung als Verhandlungspartner*innen akzeptiert werden. Einmal mehr wäre klar geworden, dass der Kampf ohnehin nur durch die Kraft der Kolleg*innen in den Betrieben entschieden wird, was letztendlich ihre eigene Position als privilegierte Führung angreifen würde. Mit dieser Herangehensweise muss Schluss gemacht werden, um endlich konsequent für die Interessen der Arbeitenden kämpfen zu können.

Die nächste Forderungsfindung steht bereits in anderthalb Jahren an, Nachschlagsforderungen müssen bereits jetzt diskutiert werden, denn die Inflation setzt sich auf hohem Niveau fort. Die Herrschenden zeigten nicht zuletzt bei der gerichtlichen Anfechtung des EVG Streiks Mitte Mai, woher der Wind weht. Um Angriffe auf das Streikrecht und Forderungen für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen, brauchen wir kämpferischen Gewerkschaften mehr denn je, die ihre Schwächen überwinden und nicht davor kapitulieren.

Im September steht der ver.di Bundeskongress an. Ein Antrag zur Aufkündigung der Schlichtungsvereinbarung liegt vor und das kann ein Ansatz sein, für einen anderen Kurs in ver.di, weg von einer Politik, die den Unterschied zwischen Kapital und Arbeit verwischt, hin zu einer klassenkämpferischen Massenorganisation, die offene Tarifverhandlungen und Versammlungen und bindende Abstimmungen über deren Ergebnisse führt. Auf diesem Kongress sollte darüberhinaus eine Strategie entworfen werden, wie Forderungen voll durchgesetzt und Kämpfe gewonnen werden können und wie Profitlogik und Ausbeutung überwunden werden kann. Eine antikapitalistische Perspektive gehört auf die Tagesordnung.

Einige Anträge und ein Kongress können zwar ein Schritt in die richtige Richtung sein, aber es kommt darauf an, den Kampf darum zu führen, beschlossene Punkte auch umzusetzen und mit Leben zu füllen wie z.B. den seit 2011 bestehenden Beschluss für die Durchsetzung des politischen Streiks u.v.m. Hierfür ist es nötig, dass Beschäftigte sich vernetzen und für einen kämpferischen und demokratischen Kurs in den Gewerkschaften gemeinsam eintreten. Das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di (https://netzwerk-verdi.de/) und die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (https://vernetzung.org/) bieten mit Ihren Stellungnahmen, Musteranträgen und Gruppen vor Ort dafür eine gute Möglichkeit.

Im gegenwärtigen Wirtschaftssystem, was auf Privateigentum einiger weniger und der Ausbeutung der Mehrheit beruht, sind unsere Interessen mit den Besitzenden unvereinbar. Deshalb sind gute Reformen, wenn sie mühsam erkämpft werden, nicht von langer Dauer und können dieses System nicht insgesamt zu einem gerechteren machen. Der Kampf für Verbesserungen muss aus der Sicht mit einer Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus verbunden werden. Nur so können Proteste, Streiks und Bewegungen erfolgreich sein und der Kampf für eine Gesellschaft geführt werden, in der die Produktion im Interesse der Menschen und des Planeten organisiert wird und deren Ressourcen nicht nur einigen wenigen dienen und dauerhaft allen ein gutes und erfüllendes Arbeiten und Leben ermöglicht.

René Arnsburg ist Mitglied im ver.di Landesbezirksfachbereichsvorstand A in Berlin-Brandenburg (Angabe dient nur zur Kenntlichmachung der Person)

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