Lenins “Was tun?” neu aufgelegt

Warum es sich lohnt, das Buch heute noch (oder wieder) zu lesen

Lenins im Jahre 1902 erschienene Schrift zog eine Bilanz einer bestimmten Phase in der Geschichte der russischen Arbeiter*innenbewegung, nämlich der Auseinandersetzung mit dem sogenannten Ökonomismus. Trotzdem ist sie heute wieder besonders aktuell.

von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart

Der Ökonomismus versuchte, die Entwicklung der Arbeiter*innenbewegung in ein starres Schema zu pressen, nach dem zunächst ein Kampf für rein betriebliche, wirtschaftliche Forderungen im Vordergrund stehen sollte. Allenfalls die Forderung nach rechtlichen Verbesserungen für die Arbeiter*innen im Rahmen des bestehenden Systems wurde noch akzeptiert. Der Kampf gegen den Zarismus sollte der (tatsächlich noch kaum vorhandenen) bürgerlichen Opposition überlassen werden. Lenin warf den Ökonomist*innen „Chwostismus“ vor. Das Wort war von dem russischen Wort für „Schwanz“ abgeleitet. Man könnte es etwa mit Nachtrabpolitik übersetzen, ein Hinterherhecheln hinter der Dynamik der Massenbewegung.

Tatsächlich trat die Flut der Massenbewegung immer wieder über die Ufer des Flussbetts, das ihr vom Ökonomismus zugewiesen worden war. Der  Aufschwung der Bewegung gipfelte drei Jahre später, im Jahre 1905, in der ersten russischen Revolution

Vor 120 Jahren in einem fernen Land … ?

Warum lohnt es sich heute, sich mit diesen Debatten auseinanderzusetzen? Natürlich ist vieles veraltet. Damals herrschte in Russland das zaristische Unterdrückungsregime. Heute sind die Verhältnisse bei allen Einschränkungen, gegen die wir uns immer wieder wehren müssen, wesentlich demokratischer. Eine der von Lenin empfohlenen Maßnahmen war die Verbreitung einer illegalen landesweiten Zeitung, der „Iskra“ (Funke). Heute gibt es viele zusätzliche Möglichkeiten der Massenkommunikation.

Trotzdem erstaunt es beim Lesen, wie viele von Lenins Gedanken immer noch oder mehr denn je aktuell sind.

Bei Lenins Kampf gegen das starre Schema des Ökonomismus drängen sich Parallelen innerhalb der LINKEN und Linken auf über das Verhältnis zwischen dem betrieblichen Kampf, dem Kampf für soziale Forderungen einerseits und dem Kampf gegen verschiedene Unterdrückungsformen (Rassismus, Sexismus, Homophobie etc.) Lenin war ganz entschieden gegen eine Beschränkung des Kampfes und gegen ein Ignorieren solcher Unterdrückung. Zugleich trat er dafür ein, dass die organisierten Arbeiter*innen in solchen Kämpfen nach der Führung streben, weil sie sie am sichersten zum Erfolg führen können.

Spontaneität und Organisation

Eines der Merkmale der damaligen Situation war, dass die politischen Verhältnisse so unerträglich geworden waren, dass die staatliche Repression das Aufkommen von Massenprotesten nicht mehr verhindern konnte. Dagegen wurde der Aufbau von Organisationen viel wirksamer behindert. Das Ergebnis war eine gewaltige Kluft zwischen der Stärke der Massenbewegung und der Schwäche der Organisationen, die ihre Forderungen und Kampfvorschläge in die Bewegungen hinein trugen. Ist das heute so viel anders? Massenproteste hat es in den letzten Jahren und Monaten in vielen Ländern gegeben, das jüngste Beispiel ist Sri Lanka. Aber alle die Bewegungen zeigen eine gigantische Kluft zwischen der Stärke der Bewegung und der Schwäche von linken und revolutionären Organisationen, die eine wirksame Strategie für den Sieg vorschlagen könnten.

Die Richtigkeit von Lenins Kritik am „Chwostismus“ haben die Proteste gegen den Ukraine-Krieg, AnfWas tun?ang März überdeutlich gezeigt: in den spontanen Protesten wurden die verschiedensten, teils miteinander unvereinbaren, Forderungen erhoben. Die Idee, einfach das zu fordern, was die Bewegung selbst fordert, wäre offensichtlich unsinnig gewesen. Es war unverzichtbar, mit einem klaren internationalistischen Programm, einer unabhängigen Position, die weder den russischen noch den westlichen Imperialismus unterstützt, einzugreifen.

In der Einleitung der Neuausgabe habe ich erklärt, dass Lenin in seiner Kritik an der Spontaneität gelegentlich über das Ziel hinausgeschossen ist und das später selber korrigiert hat.

Massenproteste kann es früher oder später auch bei uns geben. Dann werden wir wenig Zeit haben, Bücher zu lesen. Also machen wir es schon jetzt zur Vorbereitung!   

Wladimir Iljitsch Lenin
Was tun? 
Brennende Fragen unserer Bewegung.
Manifest Verlag
174 Seiten, 11,90 Euro
ISBN 978-3-96156-117-9

https://manifest-buecher.de/produkt/was-tun/
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